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I. Ein anderer Marx? Geschichtspolitische Kontroversen

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Wie kaum ein anderer Mensch des 19. Jahrhunderts hat Karl Marx die Politik des 20. Jahrhunderts mit seinen Ideen bestimmt. Diese Wirkung beruhte darauf, dass sich sein zwischen Geschichtsphilosophie und Ökonomie changierendes Denken in vielfältiger Weise interpretieren und in stark vereinfachter Form als ›Marxismus‹ von Millionen Menschen als weltanschauliches Lebenselixier verwenden ließ. Seine Wirkung wurde nicht dadurch eingeschränkt, dass die marxistische Doktrin keineswegs einheitlich, sondern im Gegenteil extrem unterschiedlich rezipiert werden konnte. Der politische Meinungskampf um die ›richtige‹ Verwirklichung der Ideen von Karl Marx hat dem als ›Marxismus‹ verbreiteten Denken vielmehr eine einzigartige Dynamik verliehen. Er begleitete vor allem die gesellschaftliche Emanzipation der europäischen Arbeiterklasse und hielt Marx auf diese Weise dauerhaft auf der politischen Agenda.

Auf der einen Seite wurde die von Marx propagierte Utopie einer ›proletarischen Revolution‹ in das demokratische Fortschrittskonzept bürgerlicher Provenienz implementiert. Daraus ergab sich das Konzept einer ›Sozialdemokratie‹, welche die bestehende politische und soziale Ungleichheit durch parlamentarische und gewerkschaftliche Politik langfristig verändern sollte. Es erwies sich trotz aller inneren Widersprüche und sich daraus ergebender Konflikte auf die Dauer als lebensfähig und hat das 20. Jahrhundert in gewissem Sinn zu einem sozialdemokratischen Jahrhundert gemacht. Die marxsche Revolutionstheorie wurde auf diese Weise evolutionär eingehegt.

Andererseits stand Marx’ Name seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 auch für einen gewaltsamen Umbruch und die Herstellung einer rigorosen Einparteienherrschaft, welche letztlich zur Unterdrückung und Verelendung ganzer Völker führte. Diese Umdeutung der politischen Vorstellungen von Marx wurde mit einer von ihm als Übergangsphase beiläufig erwogenen ›Diktatur des Proletariats‹ gerechtfertigt, einer Verfälschung, welche den Zwangscharakter kommunistischer Parteidiktaturen nicht rechtfertigte.

Die Geschichtspolitik, welche mit der Erinnerung an Marx betrieben wurde, erreichte in der Zeit des sogenannten Kalten Krieges ihren Höhepunkt. Jede Aussage über den Philosophen hatte, ob man das wahrhaben wollte oder nicht, seinerzeit einen aktuellen politischen Bezug. Für die Verfechter der Ideologie des sogenannten Marxismus-Leninismus, welche die kommunistischen Regime für sich beanspruchten, war solche ›Parteilichkeit‹ konstitutiv, mit allen verheerenden Folgen, welche der Verzicht auf ein wissenschaftliches Objektivitätsideal mit sich bringen musste. Aber auch die wissenschaftliche Marxforschung, welche dem Ideal der Objektivität verpflichtet war, sah sich in ungewöhnlich hohem Maße politischer Vorgaben ausgeliefert. Wer ursprünglich von Marx geprägte Begriffe wie ›Klasse‹, ›Proletariat‹ oder ›bürgerliche Revolution‹ benutzte, wurde häufig durch außerwissenschaftliche Kritik politisch eingeschüchtert.

Trotz ihrer politisch bedingten Gegensätze hatte die kommunistische und die liberal-demokratische Marxforschung eine Gemeinsamkeit: Sie konzentrierte sich auf das philosophische, ökonomische und politische Denken von Karl Marx und war in der Hauptsache ideengeschichtlich, nicht realgeschichtlich orientiert.1 Zwar wurden in zahlreichen Marxbiografien und monografischen Einzelstudien auch die politischen Aktivitäten des politischen Philosophen behandelt, dies diente jedoch meist eher als Folie, um die theoretischen Implikationen des marxschen Werkes darzustellen. Nur selten hingegen wurde die von Marx aktiv betriebene Politik, zumindest von deutschsprachigen Autoren, gleichgewichtig mit seiner politischen Theorie behandelt.

Allerdings spielte Marx in den Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung eine große Rolle. Im deutsch-deutschen Dauerkonflikt der Historiker war die Frage nach dem Einfluss von Marx auf die im 19. Jahrhundert entstehende Arbeiterbewegung bis 1989 über Jahrzehnte hinweg sogar die zentrale Streitfrage.2 Die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR steigerte sich dabei in einen Personenkult hinein und feierte Marx als »der deutschen Nation größten Sohn«.3 In der westdeutschen wie überhaupt in der westlichen Marxforschung bemühte man sich demgegenüber, »Marx without myth« zu sehen.4 Anstatt den ideologischen Einfluss von Marx auf die deutsche und internationale Arbeiterbewegung zum obersten Maßstab der Forschung zu erheben, stellte man die organisatorische Vielfalt und den ideologischen Eklektizismus der sich organisierenden Arbeiterschaft heraus, innerhalb dessen der ›Marxismus‹ eine sich wandelnde und nur teilweise dominante Variante neben anderen Ideologien war. Marx geriet dabei häufig aus dem Blickfeld, auch da, wo seine persönliche Rolle für das historische Verständnis der Arbeiterbewegung unabdingbar war. Betrieb die historische Marxforschung in der DDR gegenüber Marx eine Art von politischer Heiligenverehrung, so erschöpfte sich die westdeutsche oftmals darin, eine negative Spurensuche zu betreiben, um die Bedeutung von Marx für die Geschichte der Arbeiterbewegung zu minimieren.5 Eine kritische ›Leben-Marx-Forschung‹ ergab sich daraus nicht.

Sehr viel unbefangener befasste sich die britische und amerikanische Forschung mit der Biografie von Karl Marx. Weitgehend unberührt von den querelles allemandes interessierten sich angelsächsische Forscher für den Politiker Marx und stellten ihn in den historischen Zusammenhang der Arbeiterbewegung in Europa. So entstanden sowohl monografische Einzelstudien als auch größere Werke zur politischen Biografie von Karl Marx.6 In vielen Fällen zeigt sich allerdings, dass sich das Interesse der angelsächsischen Marxbiografen letzten Endes auch eher an seiner politischen Theorie entzündete denn an seiner Aktivität in der Politik. Marx interessierte als Politiker nur insoweit, als es zum Verständnis seiner politischen Theorie notwendig zu sein schien. Zwar wurde gelegentlich sogar die These vertreten, Marx sei »in erster Linie ein Politiker und nicht ein Denker« gewesen.7 Weil als Beweise zu dieser Aussage jedoch fast ausschließlich seine theoretischen Schriften herangezogen wurden, konnte das wenig überzeugen. Man muss sich auf die Fülle der biografischen Quellen einlassen, um die historische Aktivität des Politikers Marx in ihrer historischen Bedeutung zu erfassen. Sie lässt sich nur aus vielen, häufig rein tagespolitisch aktuellen Texten, aus Briefwechseln und Tagebüchern sowie aus Veröffentlichungen in der Presse rekonstruieren. Die folgende Darstellung sucht diesem Anspruch zu genügen.

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