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II. Theoretische Voraussetzungen politischen Handelns Politik als revolutionäre Wissenschaft

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So erstaunlich es klingen mag, hat Marx keine geschlossene Theorie der Politik entwickelt. Sein Denken kreiste nach philosophischen Anfängen bekanntlich in erster Linie um die Ökonomie und deren geschichtliche Bedingungen. Zwar äußerte er sich etwa als Herausgeber der »Neuen Rheinischen Zeitung« 1848/49 durchaus zu grundsätzlichen politischen Problemen.1 So behandelte er Probleme der Politik in Frankreich mehrfach in selbstständigen Broschüren, etwa 1850 in »Die Klassenkämpfe in Frankreich«, 1852 in »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« und 1871 in »Der Bürgerkrieg in Frankreich«.2 In keinem der Fälle handelte es sich jedoch um systematisch angelegte Abhandlungen, sondern um tagesbedingte Kampfschriften, die von Marx aus aktuellem Anlass verfasst wurden. Wenn überhaupt kamen seine grundsätzlichen Ansichten über Politik darin nur beiläufig zur Sprache. Eine spezielle Darstellung oder auch nur eine größere Abhandlung über das Problem der ›Politik‹ gibt es von ihm nicht.

Gleichwohl kann man aus seinen verstreuten Äußerungen seine Ansichten über Politik rekonstruieren. Sie beruhten im Wesentlichen auf zwei Grundannahmen: Zum einen glaubte Marx fest daran, wissenschaftliche Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit von Politik zu haben. Zum anderen zielte die von ihm betriebene Verwissenschaftlichung der Politik nicht allein auf die Erkenntnis politischer Zusammenhänge und Sachverhalte ab, sondern auf ihre praktische Anwendung. Es lag nicht nur an seiner jüdischen Herkunft, dass seine akademische Karriere im vormärzlichen Preußen schon zu Ende ging, ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte. Marx sah vielmehr in der akademischen Welt der Universität für sich von vornherein keine Zukunft. Es drängte ihn aufgrund seiner wissenschaftlichen Selbsteinschätzung zum politischen Handeln. So wie er die Politik verstand, war diese somit für ihn eine eigene Sache, die ihn von anderen zeitgenössischen Politikern deutlich unterschied.

Jene Wissenschaft, die politische Theorie und Praxis vereinen sollte, war für Marx der Sozialismus. Das entsprach durchaus zeitgenössischem Verständnis, seitdem Lorenz Stein 1842 in einem epochemachenden Buch den frühen französischen Sozialismus als »Wissenschaft« vorgestellt hatte.3 Die Wissenschaft, zu der Stein den Sozialismus erhoben hatte, war die »Wissenschaft der Gesellschaft«.4 Marx stimmte darin mit Stein überein, auch wenn er andere Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zog. In seinen Augen lag prinzipiell jedem Sozialismus eine gesellschaftswissenschaftliche Methode zugrunde, die er keineswegs nur für sein Denken beanspruchte. Selbst dem von ihm bekämpften »kritisch-utopistischen Sozialismus und Kommunismus« konzedierte er, durchaus »aus kritischen Elementen« zu bestehen, was nichts anderes bedeutete, als dass er ihnen einen wissenschaftlichen Charakter zubilligte.5 Wenn Friedrich Engels deshalb später für den marxistischen Sozialismus ein Exklusivrecht auf Wissenschaftlichkeit beanspruchte, so entsprach das nicht den ursprünglichen Vorstellungen von Karl Marx.6 Im Grunde war es für ihn eine Tautologie, den per definitionem wissenschaftlichen Sozialismus als Wissenschaft zu bezeichnen. So wird auch verständlich, weshalb Marx den später im Marxismus dogmatisierten Terminus »Wissenschaftlicher Sozialismus« fast nie benutzt hat. Als man ihn einmal darauf festlegen wollte, ließ er ihn zwar rückwirkend für seine historisch bedingte Auseinandersetzung mit dem ›utopischen Sozialismus‹ gelten.7 Darüber hinaus hat er ihn aber nie ausdrücklich für sich in Anspruch genommen.8

Wenn die Wissenschaftlichkeit eines jeden Sozialismus außer Frage stand, so konnte es für Marx immer nur mehr oder weniger wissenschaftliche Sozialisten geben, nicht aber wissenschaftliche und unwissenschaftliche. Folgerichtig behauptete er auch nicht, als einziger Sozialist wissenschaftlich zu argumentieren, aber er erhob gegenüber anderen Sozialisten durchaus den Anspruch auf höhere Wissenschaftlichkeit. Dafür gab es für ihn zwei Gründe: Zum Ersten sah Marx seine sozialistische Theorie im Unterschied zu den meisten anderen Sozialisten in engem Zusammenhang mit der proletarischen Klassenbewegung. Dieses Selbstverständnis entsprang seinem materialistischen Grundansatz, wonach soziale Ideen nur Ausdruck gesellschaftlicher Prozesse seien, nicht aber diese verursachen könnten. »Tatsächlich existierend«, »real« und »wirklich« – das waren die ins Materialistische gewendeten idealistischen Begriffe Hegels, mit denen er die wissenschaftliche Höherwertigkeit seiner Theorie behauptete. In der »Deutschen Ideologie« wird der Kommunismus als »wirkliche Bewegung« bezeichnet, »welche den jetzigen Zustand aufhebt«.9 Im »Kommunistischen Manifest« wird er programmatisch als Ausdruck »tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes« beschrieben.10 Dies, nicht weiter hinterfragte, wissenschaftliche Selbstbewusstsein brachte Marx dazu, andere sozialistische Theorien nach Belieben als esoterisch abzutun. »Der wahre Sozialismus, der auf der Wissenschaft zu beruhen vorgibt«, heißt es etwa in der »Deutschen Ideologie«, sei nur eine esoterische Wissenschaft.11 Marx hebt sich auf diese Weise schon vor 1848 von deutschen Sozialisten wie Moses Heß oder Karl Grün ab, die gleich ihm auf dem Weg über die Philosophie zum Sozialismus gekommen waren. Wenn er sie ironisch »wahre Sozialisten« nannte, so unterstellte er damit, seinerseits einen wissenschaftlich überlegenen Sozialismus zu vertreten.

Zum Zweiten verstand Marx seine sozialistische Theorie als »revolutionäre Wissenschaft«. Der ›wahre Sozialismus‹ wurde von ihm auch deswegen kritisiert, weil er »alle revolutionäre Leidenschaft verloren hat und an ihrer Stelle allgemeine Menschenliebe proklamiert«.12 Aus ähnlichen Gründen verfielen auch die englischen und die französischen Frühsozialisten von Robert Owen bis Charles Fourier und Henri de Saint-Simon seinem Verdikt. Ihre wissenschaftlichen Systeme waren in seinen Augen »doktrinär«. Zwar gestand er ihnen zu, dass sie auch »in vieler Hinsicht revolutionär« seien, doch bildeten ihre Schüler jedes Mal »reaktionäre Sekten«.13 Dies führte Marx vor allem darauf zurück, dass sie »auf alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion« verzichtet hätten und ihre Ziele auf friedlichem Wege erreichen wollten.14

In der Überzeugung von seiner eigenen überlegenen historischen Erkenntnis führte Marx sowohl den Wirklichkeitsbezug als auch den revolutionären Grundzug seines sozialistischen Denkens auf die geschichtliche Entwicklung zurück. Solange das Proletariat sich noch nicht als Klassenbewegung formiere, sei es unmöglich, seine Befähigung zu revolutionärer Selbsttätigkeit zu erkennen. Die frühen sozialistischen Theoretiker hätten deshalb am Proletariat nur »das Elend im Elend« bemerken können.15 Alles, was sie zur Abhilfe dieses Zustandes vorgeschlagen hätten, sei das Produkt ihrer eigenen Fantasie gewesen. Die ihr entspringenden theoretischen Entwürfe einer bestmöglichen Zukunftsgesellschaft bezeichnete Marx deshalb als »kritisch-utopistisch«.16 Erst in dem freilich imaginären Augenblick, in dem das Proletariat sich seiner selbst bewusst werde, könne die Wissenschaft »bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung werden«. Sie höre damit auf, »doktrinär zu sein« und werde »revolutionär«.17

Marx war sich der Widersprüche in seiner sozialistischen Theorie nicht bewusst. Der Sozialismus wurde in seinen Augen durch die Rückkoppelung an den Emanzipationsprozess des Proletariats angeblich historisch objektiviert.18 Die sozialistische Theorie, behauptete er, werde in der Praxis der proletarischen Aktion aufgehoben: »Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.«19 Gleichzeitig sprach Marx jedoch immer wieder davon, dass der Sozialismus auch als positive, das heißt nicht mehr spekulative wissenschaftliche Theorie dem Klassenkampf als »einer unter unsren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung« gegenüberstehe.20 Wie die soziale Wissenschaft zugleich der historischen Klassenbewegung entspringen und mit dieser konfrontiert sein konnte, blieb dabei sein Geheimnis.

Ebenso wenig wurde von ihm geklärt, wie eigentlich der Zeitpunkt zu erkennen sei, zu dem der gesellschaftliche Formationsprozess das Proletariat zum kollektiven Bewusstsein seiner Klassenidentität verhelfe. Als klassenbewusstes Kollektiv bleibt das Proletariat bei Marx letztlich ein theoretisches Konstrukt. Es kann deshalb nicht verwundern, dass er den proletarischen Konzentrationsprozess in Deutschland bei seinem Eintritt in die Politik gründlich verkannte. Die Kontaktaufnahme mit den ausnahmslos aus dem Handwerk kommenden deutschen Arbeiterführern in der Pariser Emigration wurde von ihm in der ersten Begeisterung als Begegnung mit dem sich formierenden Proletariat missverstanden. Emphatisch sprach er 1844 davon, dass bei den kommunistischen Arbeitern in Paris »die Brüderlichkeit der Menschen keine Phrase, sondern Wahrheit« sei.21 Wilhelm Weitlings »Garantien der Harmonie und Freiheit« bezeichnete er als »riesenhafte Kinderschuhe des Proletariats«.22 Erst zwei Jahre später stellte Engels gegenüber Marx resigniert fest, dass mit diesen Proletariern »nichts anzufangen« sei, »solange nicht in Deutschland eine ordentliche Bewegung existiert«.23 Diese sehr viel realistischere Einstellung bestimmte seitdem auch die Haltung von Marx bis hin zu der skeptischen Frage, wie »mit solchen Leuten Weltgeschichte gemacht werden« könne.24

Niemals wäre Marx allerdings der Gedanke gekommen, dass seine theoretische Analyse des Geschichtsprozesses von falschen Voraussetzungen ausgehen könnte. Auch wenn sich die sozialistische Theorie in der konkreten politischen Situation nicht bewährte, stand für ihn die Überlegenheit seiner revolutionären Wissenschaft niemals infrage. Marx zweifelte nicht daran, sein politisches Handeln an einer wissenschaftlich begründeten Theorie orientieren zu können. Das vermittelte ihm eine Selbstgewissheit, die ihn auch die größten politischen Misserfolge überstehen ließ. Unerschütterlich ging er seinen Weg als Politiker, auch wenn er immer wieder feststellen musste, dass die politische Praxis mit seiner vorgefassten Theorie nicht übereinstimmte.

Karl Marx

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