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Politische Theorie als Handlungsanweisung
ОглавлениеDie politische Theorie von Marx war im Kern eine Theorie der Revolution.25 Das bedeutete zweierlei: Sie sollte politisches Handeln zum einen nicht bloß reflektieren, sondern vielmehr auch zu diesem anleiten, und sie sollte zum anderen nicht zu beliebigem politischen Handeln anleiten, sondern zu revolutionärem. Die politische Theorie von Karl Marx war also anwendungsorientiert, und sie zielte auf radikale Veränderung. Schon dadurch unterschied sie sich von der Theorie seiner meisten Zeitgenossen, auch von der vieler Sozialisten.
Als Revolutionstheorie hatte die politische Theorie von Marx einen historischen Sondercharakter, der sie in zweifacher Hinsicht von anderen Revolutionstheorien des 19. Jahrhunderts unterschied. Zum Ersten verschränken sich in der marxschen Revolutionstheorie auf eigentümliche, letzten Endes nicht auflösbare Weise objektive und subjektive Elemente. Die Revolution stellte sich für Marx einerseits als ein sich unabhängig vom Menschen vollziehender Geschichtsprozess dar. Dieser war für ihn im Wesentlichen ökonomisch bedingt. Der revolutionäre Prozess ergab sich für ihn in dieser Hinsicht »aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen«26 Somit revolutionierte sich die Gesellschaft für Marx aufgrund der in ihr wirksamen Kräfte gewissermaßen von selbst. Andererseits war eine Revolution für Marx nicht ohne eine organisierte Aktion möglich. Es war seiner Ansicht nach die bewusste revolutionäre Tat, die erst den politischen Umsturz herbeiführen könne. Entscheidende Voraussetzung dafür war für ihn der Prozess kollektiver Bewusstseinsbildung, den Marx als die Entstehung von Klassenbewusstsein bezeichnete. Seine Theorie vom Klassenkampf, dem er die gesamte Geschichte unterworfen sah, hat hier ihren Ursprung.27
Die Spannung von objektivem Formationsprozess und subjektivem Handlungspotenzial glaubte Marx nun zweitens dadurch aufheben zu können, dass er die Revolution nicht als einen einmaligen Akt, sondern als langwierigen Geschichtsprozess ansah. Wenn auch materialistisch gewendet, entwickelte er ganz im Geiste Hegels eine revolutionäre Prozesstheorie. Die von ihm im Prinzip als unausweichlich angesehene Revolution der Zukunft werde sich in mehreren, genau voneinander abgrenzbaren Schüben vollziehen. Als mythischen Endzustand prognostizierte er eine »klassenlose Gesellschaft«, die sich von der bisherigen Geschichte abheben werde. Bis dieser erreicht sei, gebe es nach Marx nur Phasen des revolutionären Übergangs. Er war in dieser Hinsicht nicht ein sozialistischer Theoretiker des End-, sondern des Durchgangszustandes, nicht die mythische ›klassenlose Gesellschaft‹ interessierte ihn eigentlich, sondern der Weg zu ihr hin.
Die einzelnen Übergangsphasen dieses revolutionären Prozesses hat er im Laufe seines Lebens durchaus unterschiedlich gesehen. Das historische Modell dafür lieferte ihm zweifellos die Französische Revolution, sowohl was ihren historischen Gesamtcharakter als auch was ihre verschiedenen Etappen anbetrifft.28 Aus der Französischen Revolution leitete er vor allem »den folgenreichen historischen Analogieschluß von der bürgerlichen auf die proletarische Revolution« ab.29 Konkrete historische Erfahrungen seiner Zeit, wie die der Revolutionen von 1848/49 oder der Entstehung des deutschen Nationalstaats, haben seine Revolutionsvorstellungen jedoch nachhaltig beeinflusst. Wichtig ist vor allem, dass er seine Revolutionstheorie, anders als später seine leninistischen Nachahmer, nicht schematisch auf alle Gesellschaften übertrug, sondern national differenzierte. Es sei hier nur an seine Äußerungen über England einerseits und Russland andererseits erinnert.30 Im Einzelnen braucht das in diesem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren. Für die Beurteilung seiner Rolle als handelnder Politiker reicht es aus, die Revolutionserwartungen zu kennen, die Marx für Deutschland hatte.
Nach seiner ursprünglichen Vorstellung sollte die Revolution in Deutschland lediglich zwei Etappen durchlaufen. In einer ersten Stufe sollte eine ›bürgerliche Revolution‹ die Bourgeoisie an die Macht bringen. Die politische Verfassung der dadurch entstehenden bürgerlichen Herrschaft war in seinen Augen nicht eine Demokratie, sondern die konstitutionelle Monarchie: »Die preußische Märzrevolution sollte das konstitutionelle Königtum in der Idee und die Bourgeoisherrschaft in der Wirklichkeit schaffen.«31 ›Bürgerliche Revolution‹ hieß also für Marx in Deutschland ursprünglich nichts anderes als Übergang vom monarchischen Absolutismus zum parlamentarischen Verfassungsstaat auf monarchischer Grundlage. Eine ›bürgerliche Demokratie‹ konnte es in seinen Augen dagegen in Deutschland zunächst nicht geben. Die »Erkämpfung der Demokratie« war für ihn mit der »Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse« identisch.32 Die Schaffung einer demokratischen Republik war somit für ihn folgerichtig erst in der zweiten Phase des revolutionären Prozesses möglich. Sie bezeichnete er als »Arbeiterrevolution«.33
Marx hat immer wieder betont, die Stufenfolge von der bürgerlichen Revolution zur Arbeiterrevolution in Deutschland sei unausweichlich. Die bürgerliche Revolution wurde von ihm ausdrücklich »als eine Bedingung der Arbeiterrevolution« bezeichnet.34 Sie konnte daher für ihn nicht der Endpunkt des revolutionären Prozesses sein, durfte aber auch nicht einfach übersprungen werden. Das revolutionäre Stufenprogramm war für Marx bekanntlich nicht von politischen Konstellationen abhängig, sondern ökonomisch bedingt. Die proletarische Revolution sollte erst stattfinden, wenn der gesellschaftliche Formationsprozess des Proletariats abgeschlossen sei. Seiner Vorstellung gemäß mussten daher zunächst »die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern« als Folge des kapitalistischen Industrialisierungsprozesses verschwinden und »ins Proletariat hinab« sinken, ehe an eine Arbeiterrevolution zu denken sei.35 Mit anderen Worten: Erst wenn das Proletariat als »Klasse« die »ungeheure Mehrzahl« der Bevölkerung umfassen würde, war für Marx die gesellschaftliche Basis für den Erfolg einer proletarischen Revolution gegeben.36
Auf welche Weise sollte aber das Proletariat diese gesellschaftliche Hegemonie erreichen? Marx war hier der Überzeugung, dass die Bourgeoisie, indem sie sich ihrerseits als ›Klasse‹ durchsetze, zugleich die Voraussetzungen für die Formierung des Proletariats schaffe. Die Bourgeoisie hatte in seinen Augen die historische Aufgabe, die »buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften«, zu zerstören und die moderne, auf Lohnarbeit gestützte kapitalistische Eigentümergesellschaft aufzubauen.37 Mit der Durchsetzung des auf Arbeitsteilung beruhenden modernen Industriesystems werde zugleich auch die Stunde des Proletariats schlagen. Bourgeoisie und Proletariat waren damit für Marx in ihrer Klassenexistenz dialektisch miteinander verschränkt.
Diese geschichtsphilosophische Dialektik determinierte auch das politische Programm von Marx. Die Klassenherrschaft der Bourgeoisie ließ sich in seinen Augen nur verwirklichen, wenn der monarchische Absolutismus vollständig beseitigt werde. Das Proletariat könne analog dazu seine historische Rolle der Aufhebung aller Klassengegensätze nur erfüllen, wenn es zuvor seine politische Alleinherrschaft gegen die Bourgeoisie erzwinge. Beides war für Marx aufgrund der gesellschaftlichen Klassenprozesse notwendigerweise einander nachgeordnet: Erst die politische Herrschaft der zur Klasse sich formierenden Bourgeoisie, dann die politische Herrschaft des zur Klasse werdenden Proletariats.
Anders als für die Führer der frühen Arbeiterbewegung kam für Marx deshalb vor 1848 der sofortige Einstieg in eine proletarische Revolution nicht infrage. Er teilte nicht einmal die sanguinischen Hoffnungen der ersten deutschen Arbeiterführer, dass Deutschland »am Vorabend einer bürgerlichen Revolution« stehe.38 Der Ausbruch der Revolution war für ihn nicht eine für die nahe Zukunft erwartete persönliche Lebensperspektive. Allerdings ließ er sich auf die Voraussage ein, dass die bürgerliche Revolution in Deutschland »nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution« sein könne.39 Entscheidend war an dieser Formulierung das Wörtchen »unmittelbar«: Die bürgerliche und die proletarische Revolution wurden dadurch zeitlich aneinandergerückt, ja geradezu miteinander verschmolzen. Die eine schien ohne Zwischenspiel in die andere überzugehen. Es spricht einiges dafür, dass diese Formulierungen als Konzession an die ungeduldigen deutschen Arbeiterführer anzusehen sind, die sich nicht auf eine ferne Zukunft hin vertrösten lassen wollten.40 Was Marx von diesen unterschied, war jedoch sein Glaube an die ökonomische Gesetzmäßigkeit der revolutionären Entwicklung. Die »Abschaffung der bürgerlichen Produktionsweise und den definitiven Sturz der politischen Bourgeoisieherrschaft« konnte das Proletariat in seinen Augen erst erreichen, wenn dies die materiellen Bedingungen erlaubten.41 Jeder verfrühte Versuch proletarischer Machtergreifung könne, wie Marx bezeichnenderweise unter Verweis auf die Ereignisse von 1794 in Frankreich ausführte, nur zu vorübergehendem Erfolg führen. Oder anders gesagt: Solange das Proletariat als soziale Klasse nur eine Minderheit der Bevölkerung umfasste, war es nach der festen Überzeugung von Marx nicht in der Lage, eine demokratische Herrschaft zu etablieren. Allenfalls hätte es eine Diktatur der proletarischen Minderheit über die Mehrheit des Volkes errichten können. Eine solche proletarische Minderheitsdiktatur lag Marx aber ganz fern.
Durch den Ausbruch der Märzrevolution konnte er sich in seinen Auffassungen fälschlicherweise bestätigt sehen. Das von ihm eiligst entworfene Aktionsprogramm der »Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland« von Ende März 1848 verlangte daher die volle Durchsetzung bürgerlicher Herrschaft. Mit der Forderung, Deutschland »zu einer einigen, unteilbaren Republik« zu machen, wurde der Bourgeoisie gleichzeitig auch schon der Kampf angesagt.42 Der Auseinandersetzung mit der sich in Preußen und auf Reichsebene konstituierenden parlamentarischen Monarchie sollte denn auch die im Mai 1848 von ihm mitgegründete »Neue Rheinische Zeitung« dienen. Es war durchaus programmatisch zu verstehen, wenn sie als »Organ der Demokratie« ins Leben gerufen wurde.43
Nur allzu rasch zeigte sich jedoch, dass sich das politische Revolutionsprogramm, das Marx vor 1848 für Deutschland entworfen hatte, nicht realisieren ließ. Völlig zu Recht hat man daher die »Forderungen der Kommunistischen Partei« als das »unrealste aller politischen Aktionsprogramme« bezeichnet.44 Es war jedenfalls von Anfang an wenig realistisch, von der Revolution in Deutschland einen baldigen Übergang zur Demokratie zu erwarten. Wie sich rasch zeigte, konnte die Bourgeoisie »ihre eigene Herrschaft nicht erkämpfen«.45 Die ›bürgerliche Revolution‹ blieb daher in Deutschland in den Anfängen stecken. Anstatt, wie geplant, die Bourgeoisie sofort mit aller Kraft bekämpfen zu können, sah sich Marx daher gezwungen, sie erst einmal politisch zu unterstützen. Bis November 1848 wagte er es nicht, in der »Neuen Rheinischen Zeitung« offen für die Einführung einer demokratischen Republik einzustehen, wie das die »Forderungen der Kommunistischen Partei« eigentlich verlangt hätten. Die Parole »Autokratie oder Republik« wurde von ihm ausdrücklich als zukünftige, nicht als aktuelle politische Alternative bezeichnet.46 Friedrich Engels nannte es sogar ein »utopistische[s] Verlangen«, a priori eine einige und unteilbare deutsche Republik zu proklamieren. Er warnte deshalb davor, den »Ausgangspunkt des Kampfes« der revolutionären Bewegung mit deren Ziel zu verwechseln.47
Es ist jedoch für das politische Denken von Marx bezeichnend, dass er sein revolutionäres Grundsatzprogramm nicht völlig aufgab. Er passte es nur insoweit der historischen Situation an, als dies noch mit seiner deterministischen Grundeinstellung vereinbar war. Da die Bourgeoisie in Deutschland wider Erwarten keine Anstalten machte, selbstständig ihre politische Herrschaft durchzusetzen, sondern sich im Gegenteil mit dem monarchischen Staat zu arrangieren suchte, sah sich Marx für sie nach einem anderen politischen Bündnispartner um. Er fand ihn in der demokratischen Volksbewegung. Nach wie vor hielt er aber daran fest, dass in Deutschland zunächst das Großbürgertum an die Macht kommen müsse. Dazu sollte ihm nur mit einer anderen politischen Strategie als ursprünglich vorgesehen verholfen werden. Anstatt ein »Schutz- und Trutzbündnis mit der Reaktion« einzugehen, sollte die Bourgeoisie dazu gebracht werden, »die demokratische Seite der Revolution anzuerkennen«.48
Erst nachdem die konstitutionelle Revolutionsregierung in Preußen und in Österreich jeweils durch einen monarchischen Staatsstreich beseitigt worden waren, ließ Marx im November 1848 die Hoffnung auf ein Zusammengehen der liberal-konstitutionellen mit der demokratischen Bewegung fallen. Wortgewaltig rechnete er jetzt, aber eben erst jetzt, mit der Vereinbarungsstrategie der ›Bourgeoisie‹ ab.49 Die konstitutionelle Monarchie, deren volle Durchsetzung er bis dahin in Deutschland immer noch für notwendig gehalten hatte, wurde von ihm nun als ungeeignet angesehen, die deutsche Revolution voranzutreiben: »Die Geschichte des preußischen Bürgertums, wie überhaupt des deutschen Bürgertums vom März bis Dezember, beweist, daß in Deutschland eine rein bürgerliche Revolution und die Gründung der Bourgeoisieherrschaft unter der Form der konstitutionellen Monarchie unmöglich, daß nur die feudale absolutistische Konterrevolution möglich ist, oder die sozial-republikanische Revolution.«50
Entgegen seiner ursprünglichen Revolutionstheorie kämpfte Marx bis zum Ende der Revolutionszeit für die übergangslose Durchsetzung der Demokratie. »Demokratie« hieß allerdings, und insofern blieb er seinem ursprünglichen Ansatz treu, immer noch nicht »proletarische Demokratie«. Es hätte auch allzu sehr der historischen Realität widersprochen, wenn er die deutsche Arbeiterbewegung schon für fähig gehalten hätte, die Revolution selbstständig im demokratischen Sinne zu vollenden. Marx sprach deshalb jetzt nicht nur von »Arbeitern«, sondern immer auch in einem Atemzug von »Kleinbürgern« und »Bauern«, wenn er den Weg zur Herbeiführung der demokratischen Revolution aufweisen wollte.51 Hatte er vorher die demokratisch orientierten Kleinbürger und die Bauern weitgehend unbeachtet gelassen, so wurden diese nunmehr von ihm in eine Allianz gegen die Bourgeoisie einbezogen. So meinte er nun auch nicht mehr allein die Arbeiter, wenn er zusammenfassend vom »Volk« sprach.52 Das ›Volk‹ umfasste für ihn das Proletariat und »alle Fraktionen des Bürgertums, deren Interessen und Ideen dem Proletariat verwandt« seien.53 Anstatt von einer »demokratischen Revolution« sprach er nun bezeichnenderweise meistens von einer »Volksrevolution«.54 Das war kein Zufall. Nach wie vor hielt Marx offensichtlich auch 1849 noch daran fest, dass die eigentliche demokratische Revolution nur das Werk der proletarischen Machtergreifung sein könne. Die »Volksrevolution« konnte insofern nur eine Vorstufe zu dieser sein. Sie wurde von Marx gewissermaßen zwischen die (unvollendete) bürgerliche Revolution und die (erst später zu vollendende) proletarische Revolution eingeschoben. Sie war als eine Zwischenstufe im demokratischen Revolutionsprozess anzusehen, dessen nächste erst folgen konnte, wenn das Proletariat in der deutschen Bevölkerung die übergroße Mehrheit umfasste.
Es liegt auf der Hand, dass Marx in der bis zum November 1848 andauernden ersten Phase der deutschen Revolution nur wenig an einer eigenständigen proletarischen Organisation gelegen sein konnte. Seine volksrevolutionäre Sammlungsstrategie hielt ihn aber auch in der zweiten Phase der Revolution noch davon ab, sich vorrangig für den Aufbau einer ›proletarischen Partei‹ zu engagieren. Im Prinzip hatte er selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden, dass sich die deutschen Arbeiter an dem allgemeinen demokratischen Revolutionsprozess beteiligten, aber er hielt sie nach wie vor für zu schwach, um schon allein auf sich gestellt ihre »revolutionären Zukunftsaufgaben« erfüllen zu können. Wenn irgendwo, dann war die Revolutionstheorie von Marx in dieser Hinsicht realistisch. Es ist deshalb verfehlt, seine politischen Aktivitäten in der Revolution von 1848/49 in erster Linie als einen Kampf für den Aufbau der ›proletarischen Partei‹ hinzustellen. Die selbstständig organisierte Arbeiterbewegung konnte für ihn erst am Ende der revolutionären Gesamtentwicklung stehen, nicht schon an deren Anfang.
Marx hielt im Grunde auch noch nach 1849 an dieser Auffassung fest. Auf den ersten Blick scheint das Scheitern der Revolution seine langfristig angelegte revolutionäre Phasentheorie verändert zu haben. Es wäre auch merkwürdig, wenn ihn der letzten Endes unerwartete Ausgang des großen europäischen Ringens nicht zum Überdenken seiner politischen Grundauffassungen veranlasst hätte. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, dass er sich wiederum nur den neuen historischen Bedingungen anpasste, seine revolutionäre Gesamtstrategie aber nicht grundsätzlich korrigierte.
Ohne Zweifel war es von Bedeutung, dass im März 1850 in seiner politischen Abrechnung sowohl mit der französischen als auch mit der deutschen Revolution zwei Schlagworte auftauchten, die auf eine völlige Neuorientierung hinzudeuten schienen. Sowohl in seiner Artikelfolge über »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850« als auch in der »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund« ist zum einen von einer »Revolution in Permanenz« und zum anderen von einer »Klassendiktatur des Proletariats« die Rede.55 Das ist vielfach so interpretiert worden, als ob Marx sowohl seine bisherige Stufen- als auch seine bisherige Allianzstrategie aufgegeben hätte. Es ist jedoch zu beachten, dass er in beiden Fällen nur bedingt sein eigenes Programm darlegte.56 Dies gilt mit Sicherheit für die Prognose einer Klassendiktatur des Proletariats. Entgegen seiner vorherigen Marschroute schien er nur scheinbar eine proletarische Minderheitsdiktatur befürwortet zu haben. In Wahrheit beschrieb er jedoch nur das revolutionäre Verschwörungskonzept von Louis Adolph Blanqui, mit dessen versprengten Anhängern er in London vorübergehend kooperierte.57 Er selbst zog aus dem gescheiterten Volksaufstand vom Juni 1848 aber gerade die Folgerung, dass das Proletariat der Aufgabe, aus einer Minderheitenposition heraus gewaltsam die Macht zu ergreifen, nicht gewachsen gewesen sei. Er rechtfertigte auch im Fall der Vorgänge in Frankreich nach wie vor die Notwendigkeit einer politischen Koalitionsbildung von Bauern, »mittelständischen Kleinbürgern und Arbeitern«, allerdings, und das war eindeutig ein neuer Akzent, gruppiert um das Proletariat als der »entscheidende[n] revolutionäre[n] Macht«.58
Bei der Anwendung seiner Theorie auf Deutschland ging er noch einen Schritt weiter und erhob die organisatorische Verselbstständigung der Arbeiter gegenüber den ›demokratischen Kleinbürgern‹ zum Programm der Arbeiterpartei. Diese sollte in der nächsten Revolution »möglichst organisiert, möglichst einstimmig und möglichst selbständig auftreten«.59 Die Koalition mit den ›kleinbürgerlichen Demokraten‹ sollte deshalb nicht aufgegeben werden, aber sie wurde, ähnlich wie ursprünglich das Bündnis mit der Bourgeoisie gegenüber dem monarchischen Absolutismus, zu einer Koalition auf Zeit erklärt. Die »Arbeiterpartei« sollte mit der »kleinbürgerlichen Demokratie« zusammengehen; aber sie sollte ihr gegenübertreten »in allem, wodurch sie sich für sich selbst festsetzen« wolle.60
Ganz auf der Linie seines bisherigen Revolutionsdenkens brachte Marx damit auf eine dialektische Formel, was sich seinen intellektuell ungleich schlichteren Partnern im Kommunistenbund sehr viel einfacher darstellte. Sie empfahlen der Arbeiterpartei künftig »andre Parteien und Parteifraktionen« zu ihren Zwecken zu gebrauchen, ohne sich einer »anderen Partei« unterzuordnen.61 Was für Marx eine Folge historischer Dialektik war, wurde von den Arbeiterführern des Kommunistenbundes auf bloße Taktik verkürzt. Doch dürfte Marx es als ausreichend angesehen haben, dass der Kommunistenbund nach den Enttäuschungen der Revolutionszeit überhaupt noch für eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Demokraten offenblieb. Im Gegenzug musste er die organisatorische Verselbstständigung der Arbeiterbewegung anerkennen, die er während der Revolutionszeit noch als verfrüht angesehen hatte.
In ähnlicher Weise entsprang auch die Formel von der »Revolution in Permanenz« einem politischen Kompromiss mit seinen kommunistischen Weggefährten im Londoner Exil.62 Für die ungeduldigen Arbeiterführer des ›Kommunistenbundes‹ kam alles darauf an, der Arbeiterschaft in einer neuen Revolution möglichst umgehend zur alleinigen politischen Herrschaft zu verhelfen. Das Äußerste, worauf sie sich einlassen wollten, war das Zugeständnis, dass »die kleinbürgerliche Demokratie« im Verlauf der Revolution »für einen Augenblick den überwiegenden Einfluß in Deutschland« erhalte.63 Marx hielt demgegenüber an seinem Konzept einer langfristigen revolutionären Stufenfolge fest. Anstelle der »konstitutionellen Monarchie« rechnete er zwar jetzt mit der sofortigen Durchsetzung einer »bürgerlichen Demokratie«. Jedoch war er der Überzeugung, die proletarische Revolution in Deutschland werde auch nach Einführung der politischen Demokratie noch lange auf sich warten lassen. Der offenkundige Widerspruch zwischen seinen Auffassungen und denen der Arbeiterführer des Kommunistenbundes wurde in der Formel von der »Revolution in Permanenz« aufgehoben.64 Diese brachte zum Ausdruck, dass die kommende Revolution in Deutschland nicht bei der Einführung der ›bürgerlichen Demokratie‹ haltmachen, sondern den revolutionären Prozess weitertreiben werde. Über die Frage nach der Dauer des Revolutionsprozesses und vor allem jene nach dem Abstand zwischen den einzelnen Phasen bestand dagegen kein Konsens. Nicht zufällig brach der Geheimbund in dem Augenblick auseinander, in dem sich die unterschiedlichen politischen Handlungskonzepte, die innerhalb der Führungsgruppen bestanden, nicht mehr miteinander vereinbaren ließen.65 Marx brachte die Gegensätze bei der entscheidenden Auseinandersetzung scharfsinnig auf den Begriff: »Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um die Verhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen, ist statt dessen gesagt worden: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.«66 Für Marx bestand danach kein Anlass mehr, sich nochmals auf die missverständliche Begriffsbildung der ›Revolution in Permanenz‹ einzulassen. Es handelte sich für ihn dabei ganz offensichtlich um eine akzidentielle politische Formel, die für seine langfristige revolutionäre Strategie nicht substanziell war. Auch von einer ›Diktatur des Proletariats‹ hat er nach 1850 zwanzig Jahre lang kein einziges Mal mehr gesprochen.67 Als er 1871 erstmals wieder darauf zurückkam, geschah dies bezeichnenderweise im Zusammenhang einer neuerlichen politischen Kooperation mit den französischen Blanquisten. Das Schlagwort erwies sich als »idealer Slogan für eine Einheitsfront«, ohne dass Marx deshalb seine seit Langem feststehende Revolutionstheorie wesentlich zu verändern brauchte.68
Angesichts der unbestreitbaren Erfolge der ›Internationale‹ dachte er weniger denn je daran, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter auf bloßer Konspiration aufzubauen. Er glaubte, die Entwicklung abwarten zu können, die das Proletariat unausweichlich in eine überwältigende Mehrheitsposition bringen musste. Die ›Diktatur des Proletariats‹ konnte also für ihn auch jetzt nicht die einer revolutionären Minderheit sein. Es ist bezeichnend, dass Engels den Blanquisten später vorwarf, sie hätten nicht die Notwendigkeit einer Diktatur »der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats« erkannt, sondern den »Handstreich einer kleinen revolutionären Minderheit« gepredigt.69 Überdies verstand er, ebenso wie Marx, unter der ›Diktatur des Proletariats‹ letzten Endes nichts anderes als die von beiden seit jeher prognostizierte ›Klassenherrschaft des Proletariats‹. Der Begriff der Diktatur »war für ihn mit dem der Herrschaft« synonym.70 Ebenso wie für Marx kam auch für Engels deshalb eine gewaltsame Aufhebung demokratischer Freiheitsrechte nicht infrage. Die Herstellung einer demokratischen Regierungspraxis wurde von Marx und Engels vielmehr als Voraussetzung proletarischer Klassenherrschaft angesehen.