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Die neue Aktualität von Marx

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Nach den umwälzenden Ereignissen von 1989/90 hatte es den Anschein, als ob Karl Marx ins Schattenreich der Toten zurücksinken und dort seinen Platz finden würde, wo er hingehört: ins 19. Jahrhundert. Als historische Reizfigur aktueller politischer Auseinandersetzungen verlor er mit einem Schlag seine Bedeutung. Nachdem er nach seinem Ableben über ein Jahrhundert lang die Welt in Atem gehalten hatte, wollte man ihn nunmehr so rasch wie möglich vergessen. Die damnatio memoriae schien der schnellste Weg zu sein, unliebsame Erinnerungen an den Mann des 19. Jahrhunderts loszuwerden, der das 20. Jahrhundert ideologisch über die Maßen bestimmt hatte. Das führte auch dazu, dass die wissenschaftliche Forschung über Marx stark zurückging.

Konnte man nach 1989 von einem regelrechten Einbruch der Marxforschung sprechen, so hat sich das vor einigen Jahren wieder geändert. Wer geglaubt hatte, Marx werde nie wieder auf ein aktuelles Interesse stoßen, hatte sich getäuscht. Ursache dafür war die globale Finanzkrise von 2007/08. Sie bewirkte eine diffuse Kapitalismuskritik, welche den Blick auch wieder auf Karl Marx lenkte. In der allgemeinen Verunsicherung schien die Fundamentalkritik von Marx eine Antwort auf die Krise des kapitalistischen Finanzsystems zu geben. Diese Neubelebung des Interesses an Marx wurde durch die zufällige Tatsache noch verstärkt, dass sich sein 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 näherte. Selbst im katholischen Trier, seiner Geburtsstadt, in der die Erinnerung an Marx nie über sein Geburtshaus hinausgegangen war, besann man sich plötzlich des großen Sohns der Stadt.8

Weltweit beruht das neue Interesse an Marx darauf, dass niemand so früh und so systematisch eine finale Existenzkrise des ›Kapitalismus‹ vorausgesagt hat wie Marx in seinem fundamentalen Hauptwerk »Das Kapital«. Darin Lösungen für die gegenwärtige Krise des kapitalistischen Systems zu finden, ist freilich irrelevant. Marx suchte nicht nach Möglichkeiten für eine Reparatur, sondern nach Beweisen für den unvermeidlichen Untergang des ›Kapitalismus‹.9 Dieser stellte für ihn die Produktionsweise einer historischen Formation dar, die aus sich heraus ihren Untergang hervortrieb. »Das Kapital« kann daher keine Hilfe für die Bewältigung der globalen Finanzkrise unserer Gegenwart bieten. Auch wer auf die Überwindung des kapitalistischen Weltsystems hofft, kann bei Marx nur bedingt fündig werden. Dieser hielt die Entfaltung des ›Kapitalismus‹ zwar für ein globales Phänomen, womit er den Ökonomen seiner Gegenwart deutlich voraus war. Sein globales Szenario beruhte jedoch verständlicherweise auf der historischen Erfahrung des Industriesystems seiner Gegenwart, in dem das Verhältnis von Kapital und Arbeit durch einzelne Unternehmer bestimmt war. In der Sprache von Marx: Individuelle Kapitaleigner waren für ihn die Inhaber der industriellen Produktionsmittel. Der reine Unternehmerkapitalismus geriet jedoch schon um 1900 in die Krise und wurde durch einen globalen Finanzkapitalismus überlagert. Wie die Schüler von Marx von Eduard Bernstein über Karl Kautsky bis Rosa Luxemburg entdeckten, führte die Entfaltung des ›Finanzkapitals‹ zu einer globalen Vernetzung, die dem ›Kapitalismus‹ ein neues Gesicht gab. Sie interpretierten die Entstehung und die Zukunft dieses Neokapitalismus zwar durchaus unterschiedlich. Wer heute antikapitalistische Vorurteile hat, kann bei ihnen jedoch eher Antworten finden als bei Marx, auch wenn ihre Veränderungsvorschläge infolge der weiteren Entwicklung des kapitalistischen Systems längst überholt sind.10

Die wiederaufkommende Diskussion über Marx hatte noch eine andere Folge: Da der politisch motivierte Historikerstreit über ihn Geschichte ist, kann seine historische Rolle heute unbefangen verhandelt werden. Es ist daher möglich, Marx ganz aus den Bedingungen des 19. Jahrhunderts heraus zu verstehen. Das bedeutet dreierlei: Zum Ersten kann sein Verhältnis zur aufkommenden Arbeiterbewegung ohne Berücksichtigung des späteren Siegeszugs des ›Marxismus‹ untersucht werden. Es ist möglich, seine politische Rolle allein in zeitgeschichtlichen Kontexten zu behandeln. Daraus ergibt sich zweitens die Möglichkeit, seine Aktivität als Politiker neu zu gewichten. Es ist denkbar, diese aufzuwerten und sie zu seinen Lebzeiten als gleichgewichtig oder sogar möglicherweise als bedeutsamer als seine politische Theoriebildung anzusehen. Und drittens schließlich kann man die Besonderheiten seiner politischen Aktivität genauer erkennen, wenn man sie aus seinem Selbstverständnis herleitet. So hatte Marx Vorurteile gegenüber den ›Politikern‹,11 wie es in Deutschland weit verbreitet war, scheute sich jedoch nicht, selbst in der Politik aktiv zu werden.

Man kann das als eine Historisierung seiner Biografie bezeichnen. Das bedeutet jedoch nicht, mit dem Marx des 19. Jahrhunderts einen besseren Marx entdecken zu wollen, so wie man einmal einen aufgeschlossenen ›jungen Marx‹ von einem dogmatischen späteren Marx glaubte unterscheiden zu können.12 Die Politik von Marx soll vielmehr nur an den Maßstäben des 19. Jahrhunderts gemessen werden, weil nur dieses Vorgehen historisch angemessen ist. Als wegweisend für diese Historisierung können die beiden neuen Biografien von Marx bezeichnet werden, die Jonathan Sperber 2013 und Gareth Stedman Jones 2016 veröffentlicht haben. Marx wird in diesen herausragenden Darstellungen konsequent als Mann des 19. Jahrhunderts vorgestellt. Sperber betont, »Marx nicht aus unserem, sondern aus dem zeitgenössischen Kontext« heraus zu sehen.13 Und Stedman Jones erklärt, dass es der »Zweck seines Buches« sei, Marx entgegen allen posthumen Ausdeutungen »zurück in die Gegend des 19. Jahrhunderts« zu befördern.14 Es ist dieser Weg einer Historisierung von Karl Marx, der für die Interpretation seiner Biografie künftig maßgebend sein sollte.

Die wichtigste Erkenntnis, die sich aus der biografischen Historisierung von Marx herleiten lässt, besteht darin, dass zu seinen Lebzeiten ein anderes Bild von ihm vorherrschend war als in späterer Zeit. Wer an Marx denkt, meint heute in der Regel den Sozialphilosophen, den Globalhistoriker und vor allem den Weltökonomen. Es war jene dieser Wahrnehmung zugrunde liegende gewaltige wissenschaftliche Lebensleistung von Marx, die im 20. Jahrhundert ebenso viel Faszination wie Beunruhigung hervorgerufen hat. Geht man von dieser Wirkungsgeschichte aus, muss Marx ohne Frage als ein Mann der großen Ideen angesehen werden. Im 19. Jahrhundert, zu seinen Lebzeiten, war das jedoch durchaus noch nicht der Fall. Das hatte zunächst einmal den einfachen Grund, dass den Zeitgenossen ein großer Teil seiner philosophischen und ökonomischen Schriften noch gar nicht bekannt sein konnte, da sie erst nach seinem Tode, zum Teil sogar erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht worden sind. Zwar wurde der erste, 1867 erschienene Band des »Kapitals« von der einschlägigen Wissenschaft durchaus wahrgenommen und kritisch rezipiert,15 ein ›Bestseller‹ jedoch war er zur großen Enttäuschung von Marx nicht.16 Da er die beiden weiteren Bände vor seinem Tod nicht abschloss, weshalb sie erst posthum von Friedrich Engels überarbeitet und veröffentlicht werden konnten, blieb seine wirtschaftstheoretische Kompetenz zu seinen Lebzeiten noch weitgehend unbekannt.17 Nicht einmal bei seinen engeren Anhängern in der internationalen, sogar auch der deutschen Arbeiterbewegung gehörte das »Kapital« zur Standardlektüre. Selbst August Bebel berichtet in seinen Memoiren, er habe den ersten Band des Opus Magnum von Marx erst gelesen, als er in der ihm auferlegten Festungsstrafe Muße dazu hatte.18

In der organisierten Arbeiterschaft galt Marx zwar aufgrund seiner überragenden intellektuellen Fähigkeiten als ›Gelehrter‹, diese Charakterisierung blieb jedoch bei der Masse seiner Anhänger höchst diffus und basierte nicht auf genauer Kenntnis seiner Schriften. Seine Reputation bei den Arbeitern beruhte vielmehr darauf, dass er trotz seiner intellektuellen Überlegenheit einer der ihren zu sein schien. Wenn er jedoch, wie zu zeigen sein wird, seine geistige Überlegenheit glaubte ausspielen zu können, scheiterte er politisch.

Über die Zirkel seiner engeren Parteigänger hinaus zog Marx größere öffentliche Aufmerksamkeit erstmals Mitte der Fünfzigerjahre des 19. Jahrhunderts auf sich, als ihm im Kölner Kommunistenprozess unterstellt wurde, das politische Haupt einer revolutionären Verschwörung zu sein. Die preußischen Polizeibeamten Karl Wermuth und Wilhelm Stieber verbreiteten im Zusammenhang mit dem Kölner Prozess einen Bericht, in dem Marx als einer der »gefährlichsten und talentvollsten Mitglieder der europäischen Umsturzpartei« bezeichnet wurde.19 Das war selbstverständlich eine absichtsvolle Übertreibung, die Marx jedoch im konservativen Europa des 19. Jahrhunderts den Ruf einbrachte, ein führender politischer Revolutionär zu sein. Im postrevolutionären Deutschland war das nach 1848/49 ein Verdikt, das den aus dem Deutschen Bund über Frankreich nach Großbritannien entwichenen politischen Flüchtling für immer zum Emigranten machte. Marx hatte zwar 1845 in Belgien selbst seine preußische Staatsbürgerschaft aufgegeben, nachdem er erfahren hatte, dass die preußische Regierung seine Ausweisung aus Belgien erwirken wollte. 1848 hatte er sich in Köln jedoch um eine Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft bemüht, weil er sich als Staatenloser, wie sich 1849 bestätigen sollte, bei seiner Tätigkeit als Chefredakteur der »Neuen Rheinischen Zeitung« ständig von Ausweisung bedroht sah. Dieser Versuch scheiterte ebenso wie ein weiterer 1861, und Marx behielt lebenslang den prekären Status eines Staatenlosen.

Und erneut war es keine aufsehenerregende wissenschaftliche Veröffentlichung, sondern eine politische Publikation, die ihn 1871 in der europäischen Öffentlichkeit bekannt machte. Dabei handelte es sich um die von ihm initiierte öffentliche Parteinahme der Internationalen Arbeiterassoziation für die Pariser Kommune. Für die theoretischen Implikationen seiner Darstellung des »Bürgerkriegs in Frankreich«, die später so leidenschaftlich diskutiert wurden, interessierte sich in diesem Zusammenhang kaum jemand.20 Vielmehr war es der Verdacht, mit seinem Eintreten für die Kommune als »Grand Chef« der ›Internationale‹ aktiv den Umsturz der bürgerlichen Staatenwelt Europas zu planen, der Marx erneut ins Rampenlicht brachte.21 Auch diese Unterstellung entsprang einer bloßen Verschwörungstheorie, die aber vor allem deshalb glaubhaft wirkte, weil Marx sich nicht als einzelner politischer Autor, sondern im Namen einer internationalen Arbeiterorganisation zu Wort gemeldet hatte. Es war der revolutionäre Politiker Marx, der dem konservativen Europa einen Schrecken einjagte, nicht der Theoretiker der Revolution.

Es ist deshalb gerechtfertigt, den historischen Marx nicht in erster Linie als Mann der Theorie, sondern der politischen Praxis anzusehen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, die Rolle, die Marx in der praktischen Politik gespielt hat, langfristig als bedeutender anzusehen als seine Leistung als Kritiker des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Zu seinen Lebzeiten wurde er jedoch sowohl innerhalb als vor allem außerhalb der Arbeiterbewegung in erster Linie in der politischen Praxis wahrgenommen, galt er als Mann der Tat, der die bestehenden Verhältnisse durch Revolution verändern wollte. Er war zwar zweifelsohne kein Berufsrevolutionär vom Schlage Lenins, auch wenn er gleich diesem nie eine geregelte bürgerliche Berufstätigkeit ausübte. Jedoch war er zwei Mal, von 1846 bis 1852 (in der europäischen Revolutionszeit) und von 1864 bis 1872 (in der Zeit der deutschen Reichsgründung) vorrangig, ja zeitweise fast ausschließlich politisch aktiv. Bedenkt man, dass er nur 65 Jahre alt geworden ist, war das mit insgesamt 14 Jahren eine bemerkenswert lange Zeit. Die Vorstellung, Marx habe seine Tage überwiegend im Britischen Museum einsam mit dem »Kapital« ringend verbracht, ist deshalb nicht zutreffend. Vergleicht man ihn mit anderen großen Denkern des 19. Jahrhunderts, so wird man kaum einen finden, der sich so intensiv in die praktische Politik einmischte wie Marx.

Wie zu zeigen sein wird, engagierte sich Marx nicht einfach in der ›Politik‹, sondern er betrieb Politik auf seine Art. Wie er häufig zum Ausdruck brachte, hielt er nichts von ›Politikern‹. Er bekämpfte jeden, der allein durch konventionelles politisches Handeln, sei es in einem Parlament oder sei es in einer Regierung, etwas bewirken zu können glaubte. Er war nicht überzeugt von einer Eigenständigkeit des Politischen, hatte es für ihn doch keine eigene Substanz, sondern war in seinen Augen nur das Ergebnis ökonomisch bedingter Klassenkonflikte. Nur wer die Politik auf diese Klassenkonflikte bezog, war für ihn ein wirklicher ›Politiker‹.

Letzten Endes interessierte ihn damit nur die Politik im Allgemeinen, nicht das tägliche Einerlei des politischen Alltags. Ihm lag nichts an öffentlichen Auftritten bei Volksversammlungen oder gar an Redeschlachten, wie sie in Parlamenten geführt wurden. Er drängte sich nicht nach politischen Ämtern, sondern suchte aus dem Hintergrund Politik zu machen. Bezeichnenderweise übernahm er den Vorsitz des Kölner Arbeitervereins 1848 erst, als kein anderer mehr dafür infrage kam.22 Politische Vereinssitzungen in verrauchten Hinterzimmern, bei denen endlos diskutiert oder ständig Abstimmungen wiederholt wurden, waren ihm ein Gräuel, das er so weit wie möglich mied. Dafür fiel ihm unter den häufig illiteraten Arbeitern, mit denen er es zu tun hatte, besonders die Formulierung von tagespolitischen Erklärungen und die Abfassung von programmatischen Texten zu, die er nach Möglichkeit am heimischen Schreibtisch erledigte, womit er sein Fernbleiben von Sitzungen rechtfertigte. Er spielte damit als intellektueller Vordenker eine politische Sonderrolle, die es ihm nach seiner Auffassung aber überhaupt nur erlaubte, an den Organisationsbemühungen der Arbeiterschaft teilzunehmen. Die Arbeiter sollten sich nach seiner Vorstellung eigentlich selbst organisieren, und nur weil er glaubte, ihnen ideologisch den Weg weisen zu können, hielt er seine Rolle als Politiker in ihrer Mitte für gerechtfertigt.

Eingedenk der bisherigen Überlegungen wird im Folgenden erstens darauf verzichtet, Marx von der vielfältigen Wirkung her zu beurteilen, die sein Denken posthum gehabt hat. Der Fokus liegt vielmehr auf dem historischen Marx, das heißt auf der Rolle, die er zu seinen Lebzeiten gespielt hat. Das bedeutet zweitens, dass nicht seine geschichtsphilosophischen Theorien, sondern seine Aktivitäten als Politiker untersucht werden. Auszugehen ist dabei von der Annahme, dass diese zu Lebzeiten für ihn zwar nicht wichtiger waren als seine wissenschaftlichen Studien, dass sie jedoch unmittelbar eine größere Wirkung hatten als Letztere. Drittens schließlich ist danach zu fragen, was Marx als Politiker besonders auszeichnete. Wie konnte er sich von den zeitgenössischen Politikern distanzieren und doch selbst als solcher aktiv sein?

Karl Marx

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