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1.4 … daß du seiner gedenkst

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In einer dem Chor der Antigone wie der Reflexion Kants verwandten und doch ganz anderen Weise spricht Psalm 8 vom Menschen. Auch hier erscheint ausdrücklich die Frage, was der Mensch sei; sie wird freilich in einer charakteristischen Veränderung gestellt: Es ist nicht einfach die Frage, die Menschen an sich selber stellen, sondern diese Frage hat einen konkreten Adressaten, nämlich Gott. Die Frage bleibt auch nicht isoliert, sondern findet ihre Fortsetzung in der Rückbindung an Gott:

was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst,

und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? (Ps 8,5)

keine selbstbezügliche Frage

Damit verändert sich die Frage von Grund auf: Für den Psalm ist die Frage nach dem Menschen keine, die Menschen von sich aus beantworten könnten; sie ist vielmehr nur als an Gott gerichtete sinnvoll. Dabei ist gerade die Form der Frage bezeichnend: Nicht eine bestimmte Antwort, die aus dem Gegenüber zu Gott gelöst werden könnte, sondern die offene Begegnung gib ihr ihren Sinn.

Gleichwohl bestehen zwischen dem Psalm und dem Chor aus der Antigone weitreichende und instruktive Parallelen, die die fundamentalen Differenzen um so deutlicher hervortreten lassen. In beiden Texten ist das Erstaunen zentral über die eigentümliche Stellung des Menschen in der Welt, die ihn so offenkundig von allen anderen Lebewesen unterscheidet (zur sog. ‚Sonderstellung des Menschen‘ vgl. unten S. 117f.). Wo nicht abstrakt und gleichsam ‚von außen‘ nach dem Menschen gefragt wird, indem ‚objektive‘ Unterscheidungsmerkmale gesucht werden, sondern die Lebenswirklichkeit des Menschen im Blick ist, ist diese besondere Stellung des Menschen unzweifelhaft. Gerade diese eigentümliche Wirklichkeit des Menschen führt zur Frage nach dem Menschen. Wie im Chor der Thebaner bildet im Psalm die Lebenswelt des Sprechers den Horizont: „alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere“ (Ps 8,7f.) Mit der besonderen Nennung der Haustiere wird deutlich, daß dabei für den Psalm das Gewicht nicht auf die Naturbeherrschung gelegt wird, sondern auf die Bedingungen menschlichen Lebens. Beide Texte nehmen dies nicht für selbstverständlich, sondern spüren in ihm die Spannungen auf, die Menschsein kennzeichnen. Die Frage nach dem Menschen ist mithin keine theoretische, sondern eine eminent praktische: Sie zielt auf Orientierung für das Leben. Indem aber der Psalm dies nicht schlechthin menschlicher Fähigkeit zuschreibt, sondern ausdrücklich dem Willen Gottes, erscheint sie hier freilich auch nicht als Quelle der Abgründigkeit menschlicher Existenz, sondern bleibt rückgebunden an die Herrschaft Gottes, deren Lobpreis den Psalm rahmt: „HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!“ (v. 2 und 10)

Psalm 8 steht auch im Hintergrund von Kants doppelter Bestimmung des Menschen angesichts des gestirnten Himmels über mir und des moralischen Gesetzes in mir (vgl. oben S. 28). Kant will die Frage des Psalms allein mit den Mitteln einer ihrer selbst gewissen Vernunft beantworten, auch wenn diese Frage hier nicht ausdrücklich gestellt wird. Die leitende Polarität von gestirntem Himmel und moralischem Gesetz übernimmt Kant aus dem Psalm, dessen Frage nach dem Menschen entsteht aus dem Staunen über „die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast“ (Ps 8,4), und der ebenso die spezifische Würde des Menschen ausspricht: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (Ps 8,6)

Diese Stelle zeigt deutlich, daß die Unermeßlichkeit des Alls offenkundig keine Entdeckung der Neuzeit ist, wie es eine gängige geistesgeschichtliche Behauptung will; für die Israeliten war die Welt erst recht unüberschaubar und unheimlich, aber sie bleibt nicht unheimlich, sondern wird zur Heimat, weil Gott sie den Menschen als Heimat anweist. Eben darum ist hier die Perspektive eine völlig andere: Es geht nicht um den Menschen an sich, sondern genauer um dieses Geschöpf Gottes.

Kant: Selbstvergewisserung der Vernunft

Kant, aus dessen Betrachtung Gottes Handeln ausgeschlossen ist, muß demgegenüber die Antwort in der menschlichen Selbstvergewisserung finden, auch und obwohl in Kants Denken die Religion einen unverzichtbaren Platz einnimmt. Darum wird auch nicht länger wie im Psalm Gott für die Würde des Menschen gelobt, sondern, wie Friedrich Mildenberger pointiert formuliert, das „Denken, das hinter die Dinge gekommen ist“ (257: 457) – eben durch dieses Denken selbst. Weil damit das Denken selbst als das Göttliche im und am Menschen erscheint, wird die leibliche Natur des Menschen zur Bedrohung: Die besondere Stellung des Menschen, die im Psalm (wie im Chor der Antigone) an der Herrschaft über die Tiere ausgesprochen wird und damit bei den Erfahrungen der Lebenswelt bleibt, wird bei Kant zur fundamentalen Bestimmung und vor allem als Herrschaft über die eigene Tierheit gedeutet (257: 459).

doxologische Existenz statt Selbstbezug

Im Psalm 8 wird die Frage im Gegensatz zu Kant eben nicht „monologisch gestellt ohne eine Relation“ (172: 26); sie erscheint vielmehr ausdrücklich im Kontext des Lobpreises der Herrlichkeit Gottes. Nur innerhalb dieses Lobpreises, also in der Anrede an Gott, ist für den Psalmisten die Frage nach dem Menschen stimmig zu beantworten. Auch die beiden anderen alttestamentlichen Belege für die Frage „Was ist der Mensch“, nämlich Ps 144,3 und Hi 7,17, sind explizit als Anrede an Gott formuliert, die dann auch als Bitte und Klage erscheinen kann, während sich Hi 15,14 davon in bezeichnender Weise unterscheidet: Hier ist die Frage als allgemeiner Weisheitssatz gebraucht, aber eben auch keine echte, sondern eine rhetorische Frage, die keine Antwort sucht, sondern von Hiobs Freund Elifas verwendet wird, um die Anklage gegen Gott zum Verstummen zu bringen. Die Frage verliert ihre theologische Qualität, wenn sie aus dem lebendigen Gegenüber zu Gott gelöst wird.

Damit ist ein durchgängiger Grundzug biblischer Rede vom Menschen erkennbar, wie ihn Gerhard Sauter treffend formuliert: „Der Mensch ist als doxologische Existenz geschaffen – ob er immer bereit ist, Gott die Ehre und ihm Recht zu geben, ist eine andere Frage.“ (265: 51) Darum kann vom Menschen auch nicht isoliert die Rede sein; die Frage, was der Mensch sei, ist darum auch nicht mit einer Definition oder einer Beschreibung der Dialektik seines Wesens zu beantworten. Für die biblische Tradition steht vielmehr an der Stelle, an der man eine solche Definition erwarten könnte, die Aufmerksamkeit auf die ‚story‘ Gottes. „Gegenstand theologischer Anthropologie ist die Selbstwahrnehmung des Menschen, wie er sich in Gottes Handeln findet.“ (265: 53)

keine Wesensbestimmung

Der in Psalm 8 gegebene Zusammenhang markiert somit einen Grundzug theologisch sachgemäßer Rede vom Menschen: Sie definiert den Menschen nicht anhand bestimmter und bestimmbarer Eigenschaften, sondern dadurch, daß Gott ihn von Anbeginn der Schöpfung als Partner erwählt hat, wie dies in der Erwählung Israels und in dem Menschen Jesus Christus offenbar wird. Weil aber Gottes Erwählung nach biblischer Sicht das Menschsein in allen seinen Zügen bestimmt, ist die Folgerung aus der Wahrnehmung seiner Winzigkeit angesichts der Himmel und der Würde seiner Herrschaft in der Welt weder wie bei Kant die Selbstinthronisation des Denkens noch wie im Chor der Antigone das Annehmen der tragischen Situation des Menschen, sondern ein Einstimmen in die Geschichte Gottes mit den Menschen. In theologischer Hinsicht bedeutet Menschsein vielmehr: „eine Geschichte mit Gott, dem Ursprung und Ziel der Geschichte, zu haben. Das in der biblischen Überlieferung enthaltene Menschenverständnis hat deshalb durchweg die Form der Erzählung dieser Geschichte zwischen Gott und Mensch.“ (254: 200f.)

Theologisch ist demnach auch nicht nach einer formalen Definition des Menschen zu fragen, sondern vielmehr nach seinem Ort in der Schöpfung; genauer: nach meinem Ort in der Geschichte Gottes, die mit der Schöpfung beginnt und auf Gottes Zukunft hin unterwegs ist. Die abstrakte und theoretische Frage, was der Mensch sei, mündet darum in die sehr konkrete und eminent praktische.

Aus diesen Beobachtungen lassen sich drei Folgerungen ableiten, die eine sachgemäße theologische Anthropologie erfüllen muß:

‚Nichtobjektivierbarkeit‘ des Menschen

1) Theologische Anthropologie muß sich im alltäglichen Leben selbst konkretisieren können, aus dem sie auch entspringt. Eine anthropologische Theorie aber, die zugunsten einer allgemeinen Definition des Menschsseins die Individualität des menschlichen Lebens verdecken würde, steht im Gegensatz zur biblischen Rede vom Menschen, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß sie in eigentümlicher Weise offen bleibt und den Menschen nicht zu einem fixierbaren Gegenstand des Denkens werden läßt. Bernd Janowski bezeichnet dies als die wesentliche ‚Nichtobjektivierbarkeit‘ des Menschen: „Selbst dort, wo – wie in Ps 8 – das Wesen des Menschen objektivierend in den Blick genommen wird, geschieht solch betrachtende Reflexion eher in staunender Betroffenheit als in neutraler Beschreibung.“ (179: 12) Solche Wahrnehmung nimmt den Menschen nicht als Gegenstand theoretischer Neugierde in den Blick, wie das für die neuzeitliche Wissenschaft gilt, die sich dem Ideal objektivierender und distanzierender Betrachtung verpflichtet fühlt.

Zentrum in der Geschichte Gottes

2) Eine theologische Lehre vom Menschen muß ihr Zentrum in der Wahrnehmung der Geschichte Gottes mit den Menschen haben. Dabei drängt sich der Einwand auf, ob eine selbständige Anthropologie überhaupt möglich ist, wenn die Frage nach dem Menschsein im Rahmen der Soteriologie, also in strenger Ausrichtung am Heilshandeln Gottes bearbeitet werden muß. Dieser Einwand ist nur zu entkräften, wenn die Durchführung der theologischen Anthropologie diese Bindung an das Handeln Gottes durchweg im Blick behält.

Protest gegen Idealisierungen

3) Nur so ist auch dem Anspruch zu begegnen, der seit Ludwig Feuerbachs Religionskritik mit der Anthropologie verbunden wurde, nämlich die Theologie in Anthropologie aufzulösen. Für Feuerbach steht der Gottesgedanke der Selbstverwirklichung des Menschengeschlechts im Wege; weil er das Heil des Menschen nicht von Gott, sondern von der Anstrengung des Menschengeschlechts selbst erwartet, wird die Lehre von der Vervollkommnung des Menschen (Feuerbach verwendet den Begriff ‚Anthropologie‘ in diesem Sinn) geradezu zu einer Heilslehre: „indem ich die Theologie zur Anthropologie erniedrige, erhebe ich vielmehr die Anthropologie zur Theologie“ (82: 26). Der Gegensatz von Theologie und Anthropologie konnte auf diesem Hintergrund wiederum innerhalb der Theologie rezipiert werden wie in Rudolf Bultmanns bekannter Formulierung von 1924, mit der er die Notwendigkeit eines Neubeginns in der Theologie begründet: „Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern vom Menschen gehandelt hat.“ (202: 2) Auch hier stehen die Ausrichtung an Gottes Wort und die Anthropologie im strikten Gegensatz: Die Theologie kann „nur den [das Wort vom Kreuz] zu ihrem Inhalt haben; dieser ist aber ein [Ärgernis] für den Menschen.“ (Ebd.) Der theologische Protest gegen die Überhöhung menschlicher Idealisierungen ist gerade nicht in einen Gegensatz zur Freiheit der Menschen zu bringen, sondern muß eben um dieser Freiheit willen zur Geltung gebracht werden. Feuerbachs Religionskritik erinnert die Theologie wiederum daran, daß die christliche Religion zur ideologischen Stabilisierung inhumaner Verhältnisse mißbraucht werden konnte und kann: Die Auseinandersetzung um das Menschsein ist folglich auch innertheologisch zu führen.

Was der Mensch sei, wird nur im Zusammenhang der ganzen Geschichte Gottes erkennbar; darum kann theologische Anthropologie keine isolierte Lehre vom Menschen sein. Ihr Thema ist die Selbstwahrnehmung des Menschen vor Gott und in Gottes Geschichte. Damit ist ihre Aufgabe letztlich keine theoretische, sondern eine eminent praktische.

Einführung in die theologische Anthropologie

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