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1.3 Die anthropologische Grundfrage: Was ist der Mensch …

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Die Unmöglichkeit einer klaren Begriffsdefinition von Anthropologie verweist in eigentümlicher Weise auf ihre grundlegende Bedeutung: Daß es keine vorweg bestimmbaren Grenzen der anthropologischen Fragestellung gibt, macht ihr Wesen und ihre Relevanz der Anthropologie aus. Es ist daher sinnvoll, zunächst von einem weiten und unbestimmten Gebrauch des Begriffs auszugehen, der hier als ‚Frage nach dem Menschsein‘ umschrieben wird: In diesem Sinn ist die anthropologische Fragestellung eine Grundfrage des Denkens.

Weil alle politischen und ethischen Positionen auf Vorstellungen davon basieren, wie Menschsein zu bestimmen sei, was Menschen möglich und für Menschen erstrebenswert sei, ist die anthropologische Fragestellung in allen gesellschaftlichen Diskursen präsent, wenn auch oft unausgesprochen oder unbewußt. Die Frage nach dem Menschen kann darum auch als eine, wenn nicht die fundamentale Frage des Denkens aufgefaßt werden. Immanuel Kant hat sie so gestellt, wenn er die bekannten drei Grundfragen der Philosophie, wie sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ formuliert werden, um eine vierte ergänzt:

„1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen." (96:25)

unabschließbare Frage

Kants Formulierung kann den Eindruck erwecken, er erwarte, diese Frage könne abschließend beantwortet werden; dies ist aber erkennbar bei allen vier Fragen – trotz des Anspruchs, der mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ verbunden ist – nicht der Fall. Der Fortgang der anthropologischen und ethischen Debatten zeigt jedenfalls, daß es sich um eine unabschließbare Frage handelt, die nicht in dem Sinne zu beantworten ist, daß nun auf dem sicheren Fundament gewisser Antworten das Denken zu weiteren Antworten fortschreiten könnte. Vielmehr bleibt jede Antwort auf die anthropologische Frage selbst immer strittig und kann nur vorläufig sein. Gleichwohl kann man sich dem nicht entziehen, überhaupt zu antworten, weil alle – in Kants Formulierung – metaphysischen, moralischen und logischen Fragen nur innerhalb eines Rahmens sinnvoll bearbeitet werden können, der durch Überzeugungen über das, was Menschsein ausmacht, bestimmt ist. Darum sind Antworten auf die Frage, was der Mensch sei, nicht vom Typ der Information, die unser Wissen über Gegenstände erweitert, so daß wir nach einer gesicherten Bestimmung des Menschen uns nun anderen Problemen zuwenden könnten. Antworten auf die Grundfragen der Reflexion, zu denen eben die anthropologische zählt, sind vielmehr immer hermeneutische Antworten, die dem Denken und dann auch dem Handeln erst Sinn geben, und doch selbst immer wieder der kritischen Diskussion bedürfen.

Bei Kant selbst zeigt sich das darin, daß er selbst in seinem Werk diese Frage nicht ausdrücklich bearbeitet; sein einziges ausdrücklich anthropologisches Werk, die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, die später zu betrachten sein wird (s.u. Kap. 2.1.3), stellt diese grundlegende Frage gar nicht. Dennoch setzen seine Schriften voraus, daß diese Frage in einer spezifischen Weise beantwortet ist – und wer diese Antwort nicht teilt, wird Kants Argumentationen nicht nachvollziehen können. Diese enge Verknüpfung mit bestimmten anthropologischen Grundannahmen wird freilich zumeist kaum bewußt, weil Kant an die Bestimmung des Menschen anknüpft, die für das abendländische Denken – auch in der Theologie – geradezu selbstverständlich erscheinen konnte: In der Tradition der antiken Philosophie wird die doppelte Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen und als Naturwesen vorausgesetzt: Das animal rationale ist als animal ein Teil der Natur, durch seine Vernunft aber zugleich dieser Natur enthoben. Deutlich wird das an der berühmten Passage, in der die Nichtigkeit des Menschen in kosmologischer Hinsicht seiner unendlichen Würde in moralischer Hinsicht gegenübergestellt wird:

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. … Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart …“ (97: 300)

Diese Doppelbestimmung des Menschen ist bei Kant nicht zufällig als Betrachtung, geradezu als Meditation stilisiert und nicht als bündige Definition oder als Resultat begrifflicher Arbeit; sie geht dieser vielmehr voraus. In seiner Körperlichkeit erscheint der Mensch als Gegenstand in der Welt wie alle anderen und ist darum auch der naturwissenschaftlichen Erforschung ebenso zugänglich; für ihn gelten als Naturwesen dieselben Kräfte und Gesetze, wie sie überall in der Natur gelten. Gleichzeitig ist in dieser Bestimmung dem Menschen auch eine zweite, von der ersten unabhängige Sphäre zugeschrieben, in der er das Besondere seines Seins erkennen kann: eine Sphäre, die „nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht“ (97: 300). Damit verdichten sich in Kants Betrachtung nicht nur die Grundzüge des abendländischen Denkens über den Menschen; sie hält zugleich das Wesen des Menschen offen für die Erfahrung der Transzendenz. Es liegt nahe, daß die theologische Rede vom Menschen an diese anthropologische Bestimmung anschließen konnte.

Freilich sind in dieser Bestimmung folgenreiche Implikationen enthalten: Zum einen wird durch die Identifikation der Würde des Menschen mit seinen geistigen Fähigkeiten zugleich seine Leiblichkeit zur „Tierheit“; was den Menschen über die Sinnenwelt erhebt, ist das unsichtbare und nur dem Verstand zugängliche ‚Innen‘, das ihn dann auch vom Tier unterscheidet. Auch das ist eine im Denken des Abendlandes weithin geteilte Grundüberzeugung, die in sich zumindest tendenziell die Leiblichkeit des Menschen abwertet und seine Sinnlichkeit zu dem werden läßt, was seine eigentliche Bestimmung gefährdet. Nicht das leibhafte Wesen, das bei Kant nur noch als „Tierheit“ erscheint, „in seiner Zufälligkeit macht das Menschsein aus, sondern ‚das moralische Gesetz‘ in mir“ (257: 475f.).

Kants Begriff des Menschen kann als charakteristisch für das neuzeitliche Denken gelten. Geist und Leib werden nicht als zusammengehörige Dimensionen des Menschseins, sondern als Gegensatz gesehen; das spezifisch Menschliche wird dann in der Opposition zu seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit ausgemacht. Die mit naturwissenschaftlichen Motiven argumentierende Verneinung einer Sonderstellung des Menschen und die Behauptung, was als Freiheit erscheine, sei letztlich naturgesetzlich determiniert, widerspricht dem nur scheinbar (vgl. dazu unten S. 117f. und S. 142f.); sie setzt vielmehr eben diesen Dualismus selbst voraus. In dieser Trennung der Naturhaftigkeit des Menschen von der Sphäre des Geistigen wird die Leiblichkeit zum bloßen ‚Außen‘, das dann auch betrachtet und manipuliert werden kann wie alle anderen Naturgegenstände auch.

Die anthropologische Fragestellung ist nach Kant die fundamentale Frage schlechthin. Sie wird von ihm freilich nicht ausdrücklich bearbeitet; vielmehr setzt er mit der europäischen Tradition die Bestimmung des Menschen als eines Vernunftwesens voraus. Seine eindrückliche Bestimmung der menschlichen Würde hat ihre problematische Kehrseite in der Abwertung der Leiblichkeit, wie sie das neuzeitliche Denken über den Menschen bestimmt.

Sophokles: Antigone

Auch wenn der Begriff Anthropologie erst in der Neuzeit geprägt wurde (vgl. unten 2.1.2), ist die Frage nach dem, was der Mensch sei, bereits in den ältesten Dokumenten menschlicher Kultur präsent. In der Antigone des Sophokles, wohl 442 v. Chr. erstmals aufgeführt, drückt sich am Beginn der abendländischen Kultur das Nachdenken über den Menschen in einer charakteristisch anderen Form als der begrifflichen Reflexion aus. Der erste Auftritt der Tragödie schließt mit einer großen Rede des Chores, der das Geschehen kommentiert und in seiner grundsätzlichen, das dargestellte Einzelschicksal übersteigenden Bedeutung zeigt. In dem großen Chorlied (alle Zitate daraus nach 130: 23f.) erscheint die tragisch bestimmte menschliche Natur.

„Viel Ungeheures ist, doch nichts

So Ungeheures wie der Mensch.“

Dabei ist der Ausdruck „ungeheuer“ (deinos) wörtlich zu nehmen: großartig und schrecklich zugleich. Der Mensch sich selbst ist nicht geheuer, nicht zuhause in sich selbst, weil seinen eigenen Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt scheinen; daß dabei aber auch die heilsamen Grenzen verletzt werden, führt in der Handlung der Tragödie konsequent zum Untergang der Akteure – eben dies aber erscheint wiederum als das Schicksal, der daimon des Menschen. Dabei stehen am Anfang die technischen Vermögen des Menschen, der die Beschränkungen des Lebens auf dem festen Land durchbricht:

„Der fährt auch über das graue Meer

Im Sturm des winterlichen Süd

Und dringt unter stürzenden Wogen durch.“

Dazu kommt der Ackerbau, mit dem der Mensch gelernt hat, sich nicht nur von dem zu ernähren, was die Erde von sich aus bereithält, sondern die Erde selbst in Besitz zu nehmen:

„Und der Götter Heiligste, die Erde,

Die unerschöpfliche, unermüdliche,

Plagt er ab,

Mit wendenden Pflügen Jahr um Jahr

Sie umbrechend mit dem Rossegeschlecht.“

Die Beherrschung der Natur in Ackerbau, Jagd und Fischfang, aber auch die Domestizierung der Tiere wird genannt, um die einzigartige Stellung des Menschen in der Welt zu umreißen. Der Chor nennt dann, verbunden mit seinen technischen, die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten:

„Auch die Sprache und den windschnellen

Gedanken und städteordnenden Sinn

bracht er sich bei und unwirtlicher Fröste

Himmelsklarheit zu meiden und bösen Regens

Geschosse.“

Doch in alle dem bleibt das menschliche Leben gefährdet:

„Allerfahren, unerfahren

Geht er in nichts dem Kommenden entgegen.

Vor dem Tod allein

Wird er sich kein Entrinnen schaffen.“

Und auch die menschliche Kunst (=Technik) mitsamt seinen moralischen Fähigkeiten können ihn letztlich nicht schützen, weil sie in sich selbst zweideutig bleiben:

„In dem Erfinderischen der Kunst

Eine nie erhoffte Gewalt besitzend,

Schreitet er bald zum Bösen, bald zum Guten.“

Damit mündet die Betrachtung der menschlichen Natur wieder in die Handlung der Tragödie, die selbst die Gefährdung des Menschlichen durch den Menschen zum Thema hat: Nachdem der Bruderkrieg um Theben mit dem Tod von Eteokles und Polyneikes, der Brüder der Antigone, im Zweikampf endete, übernahm ihr Onkel Kreon die Herrschaft und verbot bei Todesstrafe die Bestattung des toten Polyneikes. Dieses Verbot folgt durchaus der Staatsraison, widerspricht aber der göttlichen Ordnung und der elementaren Humanität zugleich: Die ältesten Zeugnisse der Menschheit sind mit der nur von Menschen bekannten Praxis der Bestattung verbunden. An der Bestattung der Toten manifestiert sich in den Tragödien des Sophokles der Grundkonflikt zwischen menschlicher Macht und kosmischer Ordnung (vgl. dazu 118): Auch und gerade dieser Konflikt ist die Folge der ungeheuren Möglichkeiten des Menschen.

„Nichts ungeheurer als der Mensch“: Das ist eine alles andere als eine distanzierende Betrachtungsweise; vielmehr drückt sich im Chorlied zugleich Bewunderung und Erschrecken aus von Menschen, die über den Menschen nachdenken. Der Mensch erscheint als der, der sich seiner Welt bemächtigt, um ihr sein Leben abzuringen, die Welt darin aber zugleich verletzt: Darin besteht seine Tragik. Die damit verbundene conditio humana, die in der Tragödie vorgeführt wird, ist die Ambivalenz der Offenheit zu Gutem und Bösem.

Diese Frage nach dem, was der Mensch sei, ist offensichtlich nicht auf die wissenschaftliche Disziplin der Anthropologie beschränkt; von dieser Frage her aber begründet sich die Relevanz der Anthropologie. In Mythos und Kunst dokumentieren sich Antworten, die der wissenschaftlichen Reflexion vorausliegen und sie oft an Signifikanz und Wirksamkeit überragen.

Der Chor der Antigone des Sophokles belegt auch, daß Anthropologie als Wissenschaft nicht die einzig legitime und notwendige Form des Redens vom Menschen ist: Auch der Mythos, die Kunst sind reflektierte Formen des Nachdenkens über das Menschsein. Der Mythos, wie er sich im Chor der Antigone manifestiert, ist keineswegs naiv; er kann darum auch nicht schlicht aufgeklärt werden, weil er das Menschsein in einer authentischen Weise wahrnimmt. Daß die Form des Mythos keine eindeutige Bestimmung dessen, was der Mensch sei, geben kann, ist dabei nicht als bloßes Defizit zu fassen, insofern die Ambivalenzen und die Offenheit zum Reden vom Menschen gehört. Die Eindeutigkeit, auf die Wissenschaft zielt, die zur Eigenart des Logos im Gegensatz zum Mythos gehören, könnte möglicherweise in der Anwendung auf die Frage nach dem Menschen auch irreführend sein. So stellt sich die fundamentale Frage, ob der Logos überhaupt die richtige oder gar einzige legitime Form des Nachdenkens und der Vergewisserung über den Menschen sein kann. Im Rahmen dieser Einführung kann freilich diese Problematik nur am Rande bearbeitet werden; schwerer noch wiegt vielleicht der notwendige Verzicht auf solche Ausdrucksformen dessen, was der Mensch sei, wie sie in Kunst und Literatur erscheinen; gerade hier wird die Wirklichkeit des Menschseins oft in treffenderer und wirksamerer Weise zur Erscheinung gebracht als im theoretischen Diskurs.

Einführung in die theologische Anthropologie

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