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„Risorgimento“ – Bonapartismus und Faschismus in Italien
ОглавлениеRisorgimento (Wiedergeburt) wird die italienische Einigungsbewegung genannt. Die Metapher beziehungsweise das Ideologem einer nationalen Wiedergeburt findet man aber auch in der Ideologie nahezu aller Faschismen. Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun? Welche politischen und ideologischen Beziehungen und Kontinuitäten gibt es zwischen risorgimento und Faschismus?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir weit in die Geschichte des 19. Jahrhunderts zurückgreifen.19
Wir beginnen mit dem Mann, der den italienischen Einigungsprozess mit Methoden vorangetrieben hat, die an die Bismarcks erinnern, weshalb er – wie Bismarck – schon von den Zeitgenossen als gelehriger Schüler Louis Bonapartes angesehen wurde: Camillo Benso Graf von Cavour.20
Cavour
Camillo Cavour, wie er sich unter Weglassung seines Adelstitels meistens nannte, wurde 1810 in Turin geboren und schlug nach Schule und Universität die Offizierslaufbahn ein. 1832 verließ er die Armee, um Politiker zu werden – mit dem Ziel, sein Heimatland Piemont-Sardinien zu modernisieren und zu befähigen, ganz Italien von der Fremdherrschaft zu befreien und zu einigen. Das schien nur mithilfe von Kriegen möglich zu sein. Der erste italienische Einigungskrieg scheiterte jedoch auf der ganzen Linie. Piemont-Sardinien wurde von Österreich, das damals noch große Teile Nordostitaliens besetzt hatte, 1848 vernichtend geschlagen. Elf Jahre später versuchte es der inzwischen zum Ministerpräsidenten von Sardinien-Piemont aufgestiegene Cavour erneut. Dieses Mal erfolgreich mit Unterstützung Napoleons III., der sich seine militärische Hilfe im Krieg gegen Österreich durch die Abtretung von Nizza und Savoyen an Frankreich bezahlen ließ. Sardinien-Piemont wurde jedoch durch den Gewinn der ehemals österreichischen Territorien entschädigt. Außerdem schlossen sich Sardinien-Piemont weitere nord- und mittelitalienische Gebiete an, das jetzt mit Ausnahme des Kirchenstaates und Venetiens, das österreichisch blieb, über ganz Nord- und Mittelitalien herrschte.
1860 brach dann im Königreich beider Sizilien ein von Giuseppe Garibaldi angeführter Aufstand aus, der von Sardinien-Piemont unterstützt wurde. Nach dem Sieg über die sizilianischen und vatikanischen Truppen wurde Viktor Emanuel II. von Sardinien-Piemont von einem gesamtitalienischen Parlament zum König von Italien ausgerufen. 1861 und 1870 kamen (mit preußischer Hilfe) noch das österreichische Venetien sowie große Teile des Kirchenstaates hinzu, der auf den heute noch bestehenden Vatikan-Ministaat reduziert wurde. Diese vollendete „Wiedergeburt“ Italiens hat der 1861 gestorbene Cavour jedoch nicht mehr miterleben dürfen.
Das sowohl von unten (durch die Truppen Garibaldis) wie von oben (durch die geschickte Diplomatie Cavours) geschaffene neue Italien war zwar staatsrechtlich, aber noch keineswegs sozial und wirtschaftlich vereint.21 Das größte Problem war der Gegensatz zwischen dem unterentwickelten Süden, wo die politische Macht nach wie vor von den adligen Großgrundbesitzern und der Mafia ausgeübt wurde, und dem Norden, wo es in einigen Städten – vor allem Mailand und Turin – zu einer vom Staat geförderten Industrialisierung und zur Entstehung einer Bourgeoisie kam. Da diese auch über großen Landbesitz verfügte, wurde sie keineswegs nur von dem entstehenden Industrieproletariat, sondern auch von Teilen der ebenfalls unterdrückten Landarbeiterschaft bekämpft.
Zu diesem Klassengleichgewicht kam ein politisches zwischen den liberalen und konservativen Parteien, die sich im Parlament in etwa die Waage hielten. Es führte zur Entstehung eines politischen Systems, das im Italienischen trasformismo genannt wurde, was in etwa mit Überformung übersetzt werden kann.
Giolitti
Erfinder und Meister dieses trasformismo-Prinzips war der Ministerpräsident Giovanni Giolitti, der das Land mit wenigen Unterbrechungen von 1892 bis 1914 regierte. Dies durch die wiederholten Versuche, oppositionelle Politiker durch politische und materielle Versprechungen und durch unverschleierte Korruption in das Regierungslager hinüberzuziehen. Das stärkte zwar die Stellung der Exekutive gegenüber dem Parlament, das zunächst nur von zwei bis sieben Prozent der Gesamtbevölkerung gewählt wurde (beziehungsweise wegen des rigiden Zensuswahlrechts gewählt werden durfte), hemmte aber die immer notwendiger werdende Modernisierung des Land und vertiefte die Spaltung zwischen den linken und rechten politischen Kräften.
Giolitti versuchte in bonapartistischer beziehungsweise sozialimperialistischer Weise, von diesen wirtschaftlichen, sozialen und innenpolitischen Problemen und Schwierigkeiten durch die Erringung von außenpolitischen Ersatz-Erfolgen abzulenken. Da er es nicht wagte und angesichts der militärischen Schwäche Italiens auch nicht wagen konnte, Österreich anzugreifen, um von ihm die von den italienischen Nationalisten eingeforderten „unerlösten Gebiete“ (irredenta) zu gewinnen, verlagerte Giolitti die kriegerischen Aktivitäten auf den afrikanischen Kontinent. Zunächst mit Erfolg, gelang es doch, neben Libyen auch Somalia und Eritrea zu gewinnen.
Doch genau wie der Appetit beim Essen kommt, verlangten diese imperialistischen Aktivitäten der verspäteten italienischen Nation nach mehr. Hier bot sich das an die italienischen Kolonien Somalia und Eritrea angrenzende Äthiopien geradezu an, das als einziges afrikanisches Land noch nicht zum Opfer des europäischen Imperialismus geworden war. Der italienische Angriff auf Äthiopien scheiterte jedoch auf der ganzen Linie. Die italienischen Invasionstruppen wurden 1896 bei Adua vernichtend geschlagen.
Italien war damit die erste und einzige europäische Nation, die von einem afrikanischen Land besiegt wurde. Dies wurde als beispiellose nationale Schmach empfunden und radikalisierte den italienischen Nationalismus. Angeführt und repräsentiert wurde er von einer Gruppe von Nationalisten, die unter Führung Enrico Corradinis im Jahr 1910 eine neuartige nationalistische und antiparlamentarische Organisation ins Leben riefen.
Diese „Associazione Nazionalista Italiana“ konnte schon wegen ihrer antiparlamentarischen Ausrichtung und extrem nationalistischen Zielsetzung nicht in das bonapartistische trasformismo-System Giolittis integriert werden.22 Außerdem bemühten sich diese Nationalisten – zu nennen sind neben Corradini Luigi Federzoni, Giovanni Papini, Vilfredo Pareto, Giuseppe Prezzolini und Alfredo Rocco – um einen Ausgleich zwischen den Ideologien des Nationalismus und Sozialismus in Gestalt eines, wie sie es nannten, „proletarischen Nationalismus“. Sein Kerngedanke war, dass die italienische Nation eine „proletarische“ sei, weshalb sich der italienische Sozialismus dem Nationalismus öffnen könne und müsse. Die „Associazione Nazionalista“ wies also sowohl rechte wie linke ideologische Elemente auf. Daher kann sie als eine Vorform des Faschismus angesehen werden. Die Initiative zur Gründung des Faschismus ging jedoch von einem Mann aus, der nicht von rechts, sondern von links kam: Benito Mussolini.23
Mussolini
Der nach dem mexikanischen Revolutionär Benito Juarez benannte Benito Mussolini wurde 1883 in Predappio in der Romagna geboren. Sein Vater war Schmied und Funktionär der italienischen Arbeiterbewegung, seine Mutter eine energische und erfolgreiche Lehrerin. Nach Beendigung der Schule in einem Internat des Salesianerordens wurde Mussolini zunächst Hilfslehrer. Er entschied sich, als Gastarbeiter in die Schweiz zu gehen, weil er sich so dem Militärdienst entziehen konnte. In der Schweiz wurde Mussolini innerhalb der Bauarbeitergewerkschaft politisch aktiv. Diese politische Tätigkeit setzte er auch nach seiner Rückkehr nach Italien fort, wo er nun doch den Militärdienst absolvierte. 1909 wurde er hauptberuflicher Sekretär der Sozialistischen Arbeiterkammer im damals österreichischen Trient.
Ein Jahr später nahm er am Jahreskongress der Sozialistischen Partei Italiens teil, wo er sich durch eine gegen die Parteiführung gerichtete, prononciert antireformistische Rede profilierte. 1912 gelang es ihm zusammen mit der Partei-Linken Angelica Balabanoff, den Parteiführer Leonida Bissolati zu stürzen. Dies brachte Mussolini das sehr wichtige und einflussreiche Amt eines Chefredakteurs des Parteiorgans Avanti (Vorwärts) ein.
Mussolini wäre ohne Zweifel zum Führer der Sozialistischen Partei Italiens geworden, wenn er sich nicht gegen den ausdrücklichen Willen seiner Partei für den Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente eingesetzt hätte. Seinem eigenen Parteiausschluss kam er durch seinen Austritt zuvor. Von nun an widmete er sich ganz der Agitation für den italienischen Kriegseintritt. Zu diesem Zweck rief er 1915 die „Fasci d’Azione Rivoluzionaria“ ins Leben. Trotz ihres revolutionären und linken Namens (auch der Begriff fascio war damals eher links konnotiert) handelte es sich bei diesen „Bünden der revolutionären Aktion“ um eine betont antipazifistische und rechte Organisation, die auch von bellizistischen rechten Kräften im In- und Ausland unterstützt wurde.
Mussolini selber nahm dann von 1915 bis 1917 am Krieg teil, zuletzt im Rang eines Feldwebels. Nach einer Verwundung (wegen des unsachgemäßen Umgangs mit einer Handgranate) konnte er ins Zivilleben zurückkehren. Er übernahm die Leitung der von ihm gegründeten Zeitung Il Popolo. Diese Zeitung hetzte gegen die immer erfolgreicher werdenden Linken und nach Kriegsende gegen den Friedensschluss, der von vielen Italienern als vittorio mutilata (verstümmelter Sieg) bezeichnet wurde, weil Italien keineswegs alle der erhofften Gebiete aus der Erbmasse der zerfallenen Österreich-Ungarischen Doppelmonarchie zugesprochen bekommen hatte.
Mussolini machte sich diese nationalistische Agitation zu eigen und plante, die an Jugoslawien gefallene Stadt Rijeka, die von den Italienern Fiume genannt wurde, zu besetzen. Zu diesem Zweck gründete er am 23. März 1919 eine Organisation, die mit den deutschen Freikorps vergleichbar war und sich wie diese aus ehemaligen Soldaten zusammensetzte: die „Fasci di Combattimento“.24
Mussolinis Kampfbund kamen jedoch die ebenfalls aus ehemaligen Soldaten gebildeten Freischaren Gabriele D’Annunzios zuvor. Sie nahmen Rijeka ein, um dort ein Besatzungsregime zu errichten, das vieles von dem vorwegnahm, was den späteren faschistischen Staat auszeichnen sollte. Dies traf vor allem auf den von D’Annunzio entwickelten politischen Stil zu. Ständig ließ dieser seine uniformierten Anhänger aufmarschieren, damit sie ihrem Führer (duce) mit Gesängen und anderen merkwürdigen pseudomilitärischen Ritualen huldigen konnten. Jeglicher Widerstand vonseiten der Kroaten wurde mit terroristischen Methoden unterdrückt. D’Annunzios Vorgehen, das gegen nationale Gesetze und gegen das Völkerrecht verstieß, wurde zunächst von der italienischen Regierung toleriert. Erst auf Druck Jugoslawiens sowie der Westmächte griffen italienische Truppen ein und beendeten im Dezember 1920 das terroristische Regime D’Annunzios in Rijeka. Sie wagten aber nicht, D’Annunzio zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Unbehelligt konnte er sich in seine Villa am Gardasee zurückziehen, wo er schließlich 1938 verstarb.
Damit war das politische Feld für Mussolinis fascisti frei geworden, die in sqadre (Geschwader) organisiert waren, weshalb sie auch squadristi genannt wurden. Zunächst bekämpften sie die slawischen Minderheiten im Nordosten Italiens, die samt und sonders des Kommunismus verdächtigt wurden und daher als slavo-comunisti bezeichnet wurden.25 Nach diesen slawischen wurden die italienischen Kommunisten und Sozialisten zu Objekten des faschistischen Terrors.
Mussolinis uniformierte und mit Handfeuerwaffen sowie, manganelli genannten, Knüppeln bewaffneten fascisti zogen mit Lastwagen übers Land, um in den Dörfern und Städten die Gewerkschaftshäuser und Parteizentralen der Kommunisten und Sozialisten zu überfallen und diejenigen, die sich ihnen widersetzten, niederzuschlagen, zu foltern und nicht selten zu ermorden.
Dieser Terrorfeldzug wurde von den staatlichen Organen toleriert und von Industriellen sowie Großagrariern offen mit Geld und durch die Bereitstellung von Waffen und Lastkraftwagen unterstützt. Der Hintergrund dafür waren die zahlreichen Streiks und Fabrik- und Landbesetzungen der industriellen und Landarbeiter, die 1920 ein solches Ausmaß annahmen, dass Italien vor dem Beginn einer sozialen Revolution zu stehen schien. Verhindert wurde ihr Ausbruch durch die Faschisten, die jedoch von ihrem terroristischen Tun auch dann nicht ablassen wollten, als die revolutionäre Situation vorbei war.26
Zu Opfern des fortgesetzten Terrors wurden jetzt keineswegs mehr nur Kommunisten und Sozialisten, sondern auch Mitglieder der neu geschaffenen katholischen Volkspartei der „Popolari“ und die staatlichen Organe, die es wagten, sich den Angehörigen der inzwischen über 200 000 Mann starken „Fasci di Combattimento“ zu widersetzen. Tatsächlich strebte Mussolini jetzt nach mehr, nämlich nach der ganzen Macht. Zu diesem Zweck rief er am 7. Novemer 1921 den „Partito Nazionale Fascista“ (PNF) ins Leben, ohne die „Fasci di Combattimento“ aufzulösen, um mit beiden eine politisch-terroristische Doppelstrategie zu betreiben. Die faschistischen Terrorbanden sollten ein Klima der Angst und des Schreckens schaffen, das von der faschistischen Partei ausgenutzt werden sollte, um die politische Macht im Staat zu ergreifen. Dieses Kalkül ging auf.
Obwohl der PNF bei den Parlamentswahlen vom April 1922 nur 35 Mandate von insgesamt über 500 gewinnen konnte, drohte Mussolini im Oktober des gleichen Jahres mit der Machtergreifung beziehungsweise einem „Marsch auf Rom“. Anstatt diesen durch den Einsatz von Polizei und der Armee zu verhindern, gab der bürgerliche Staat auf der ganzen Linie nach. Mussolini wurde schließlich am 28. Oktober 1922 von König Viktor Emanuel III. mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt.
Dies ermöglichte Mussolini, seine politisch terroristische Doppelstrategie zu steigern und zu radikalisieren. Seine fascisti stießen jetzt bei ihrem fortgesetzten Terrorfeldzug auf keinerlei Gegenwehr mehr. Außerdem verschaffte sich Mussolini durch eine Veränderung des Wahlgesetzes eine Mehrheit im Parlament. Aufgrund des neuen Wahlgesetzes, das nach einem Abgeordneten namens Acerbo „Legge Acerbo“ genannt wurde, sollte eine Partei, die bei den Wahlen als stärkste abschnitt und mindestens 25 Prozent der Stimmen errungen hatte, zwei Drittel der Mandate bekommen. Mussolinis PNF, dem sich inzwischen auch die nationalistische Partei angeschlossen hatte, schaffte dies bei den Wahlen im April 1924 auf Anhieb, er erhielt 65 Prozent aller Sitze. Mussolini schien am Ziel zu sein.
Doch da raffte sich die schon geschlagene und zerstrittene Opposition noch einmal auf und zog geschlossen aus dem Parlament aus, um eine Art Gegenparlament auf dem römischen Aventin zu gründen. Vorausgegangen war die Ermordung des angesehenen sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch faschistische Terroristen, die in der italienischen Öffentlichkeit Entsetzen hervorrief. Diese verbrecherische Tat seiner fascisti konnte Mussolini weder ableugnen noch wagte er es, sich hinreichend davon zu distanzieren, um seine gewaltbereite faschistische Anhängerschaft nicht zu verprellen. Mussolinis noch keineswegs gefestigtes Regime geriet in eine schwere Krise. Sie konnte aber überwunden werden, weil neben dem König und der Armee auch die politisch einflussreiche italienische Industrie zu Mussolini hielt.
Gewissermaßen als Dank dafür führte Mussolini am 2. Oktober 1925 ein neues Wirtschaftssystem ein, das die Industriellen begünstigte und ihnen die Gewähr bot, nicht von aufsässigen Arbeitern belästigt zu werden. Streiks waren nämlich fortan verboten. Die Löhne wurden von den neugeschaffenen Korporationen ausgehandelt, in denen die Arbeitgeber das Sagen hatten.
Ein Jahr später, 1926, wurden durch die „Leggi Fascistissime“ die noch bestehenden Reste der parlamentarischen Demokratie beseitigt: Die in Italien traditionell wichtigen und auch relativ mächtigen Stadtverordnetenversammlungen wurden aufgelöst. Alle Parteien außer dem PNF wurden verboten. Das Vereins- und Versammlungsrecht wurde aufgehoben und die Pressefreiheit beseitigt. Schließlich wurden alle oppositionellen Beamten entlassen und die Rechte und Befugnisse der Geheimpolizei fast grenzenlos ausgedehnt.
Die Errichtung der faschistischen Diktatur ließ sich Mussolini vom italienischen Volk durch ein Plebiszit bestätigen. Außerdem fand er die noch wichtigere Zustimmung des Papstes, der sich im Februar 1929 bereitfand, mit Mussolini die sogenannten Lateranverträge abzuschließen. Damit war Mussolinis Regime von der höchsten Instanz der (katholischen) Christenheit anerkannt. Insgesamt schien Mussolini das erreicht zu haben, was ihm die italienischen Antifaschisten immer vorgeworfen hatten – die Schaffung eines stato totalitario, der von verschiedenen Antifaschisten mit dem „totalitären“ Staat Lenins und Stalins verglichen wurde.
Doch davon konnte nicht die Rede sein. Das faschistische Regime war längst nicht so totalitär wie das bolschewistische und ist deshalb auch kaum mit diesem zu vergleichen. Es basierte einerseits auf dem Bündnis zwischen Faschisten und Konservativen und zum anderen auf der Fähigkeit Mussolinis, sowohl die innerparteilichen Konkurrenten wie die staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen und Personen nach der traditionellen Herrschaftsmaxime divide et impera gegeneinander auszuspielen. Dies gelang ihm zunächst sehr gut, wobei ihm seine bei großen Teilen der Bevölkerung unzweifelhaft vorhandene Popularität zugute kam. Die von der faschistischen Propaganda entsprechend gefeierten Erfolge in der Innen- und Wirtschafts- sowie der Außen- und Militärpolitik taten ein Übriges. Insgesamt war das System jedoch ganz und gar auf Mussolini zugeschnitten und hatte ein sehr spezifisches, nämlich italienisches Gepräge.
Dies war ganz im Interesse Mussolinis, der sich anders als etwa Lenin nicht als Ideologe und Begründer einer politischen Bewegung mit einem europaweiten oder gar globalen Anspruch fühlte. Das hat verschiedene ausländische Parteien nicht daran gehindert, sich im Hinblick auf ihre Ideologie und ihr Erscheinungsbild am Vorbild der italienischen zu orientieren oder sich sogar selber als faschistisch zu bezeichnen. Einige von ihnen riefen im Dezember 1934 eine „Faschistische Internationale“ ins Leben, die trotz ihres anspruchsvollen Namens längst nicht die Bedeutung erlangte wie die Kommunistische.27 Außerdem war Mussolini in Gestalt eines seiner ehemaligen Schüler und Bewunderer ein Konkurrent erwachsen, der seinen Lehrmeister überrunden und schließlich sogar völlig beherrschen sollte – Adolf Hitler.
Mussolini scheint dies geahnt zu haben, weshalb er die viel weitergehende faschistische „Machtergreifung“ in Deutschland keineswegs begrüßt und es ein Jahr später – 1934 – gewagt hat, Hitler in den Arm zu fallen und den schon damals drohenden „Anschluss“ Österreichs an Deutschland zu verhindern. Doch wiederum ein Jahr später war Mussolini auf die zunächst wirtschaftliche Hilfe Hitler-Deutschlands angewiesen. Anlass war der italienische Überfall auf Äthiopien, der militärisch erfolgreich war, aber Italien politisch isolierte und wirtschaftlich schwächte, weil es vom Völkerbund mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen belegt worden war. Aus dieser Klemme wurde das faschistische Italien vom nationalsozialistischen Deutschland befreit, das die so dringend benötigten Rohstoffe, vor allem Kohle, lieferte.28
Aus der wirtschaftlichen wurde eine immer enger werdende militärische und politische Zusammenarbeit, die Hitler immer angestrebt und in seinem programmatischen Buch Mein Kampf auch angekündigt hatte. 1936 griffen die beiden faschistischen Mächte mit Luft- und Landstreitkräften aufseiten Francos in den Spanischen Bürgerkrieg ein, der dadurch zu einem europäischen wurde, in dem sich, wie damals viele meinten, Faschisten und Antifaschisten gegenüberstanden. Dass sich Italien 1937 bereitfand, dem zuerst zwischen Deutschland und Japan abgeschlossenen Antikominternpakt beizutreten, wurde als Bestätigung für die Existenz eines faschistischen Bündnisses oder, wie es nach dem Abschluss des Dreimächtepaktes vom 27. September 1940 auch offiziell genannt wurde, einer faschistischen „Achse“ empfunden. Tatsächlich verfolgten die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan sehr unterschiedliche und zugleich sehr eigensüchtige Ziele.
Während sich Japan aus dem von Hitler angezettelten europäischen Krieg heraushielt und sich auf die Errichtung eines großjapanischen Reiches in Ostasien konzentrierte, wurde Italien in diesen Krieg hineingezogen, den es schon wegen seiner eigenen militärischen Schwäche nicht gewinnen konnte. Daran war Mussolini nicht schuldlos. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte er am 22. Mai 1939 mit Hitler einen Bündnisvertrag – den sogenannten Stahlpakt – abgeschlossen, der ihn letztlich verpflichtete, an der Seite Deutschlands in den Krieg einzutreten.29 Formal geschah dies erst am 10. Juni 1940, als Italien dem schon von der deutschen Wehrmacht geschlagenen Frankreich den Krieg erklärte.
Bei seiner eigenen Kriegführung auf dem Balkan und dann in Afrika war Italien zudem auf die Hilfe des militärisch weitaus mächtigeren und zunächst auch erfolgreicheren Deutschland angewiesen. Diese militärische Schwäche brachte Italien immer mehr in die Abhängigkeit von Deutschland. Mussolini wusste das, fand sich aber auch dann nicht bereit, sich aus dieser Umklammerung durch Hitler-Deutschland zu befreien, als alliierte Truppen in Italien gelandet waren und unaufhaltsam auf die Hauptstadt Rom vorrückten.
Seine eigenen Parteifreunde sahen dies jedoch anders. Auf einer am 24. Juli 1943 einberufenen Versammlung des „Faschistischen Großen Rates“, der seinem bombastischen Namen zum Trotz ein gänzlich machtloses Beratungsgremium Mussolinis gewesen war, wurde der allmächtig scheinende Duce einfach abgesetzt. Einen Tag später verlor Mussolini auch noch das Amt des capo del governo, weil ihm der König das Vertrauen entzog und ihm die sonst so ergebenen Militärs nicht zur Hilfe kamen. Während Mussolini verhaftet und auf eine abgelegene Bergfestung auf dem Gran Sasso gebracht wurde, schloss sein Nachfolger Pietro Badoglio einen Waffenstillstand mit den Alliierten.
Damit war der Krieg für Italien aber keineswegs zu Ende, gelang es doch der Wehrmacht in einem letzten, heute fast vergessenen Krieg gegen den ehemaligen Bundesgenossen, die italienischen Truppen zu entwaffnen und ganz Nord- und Mittelitalien zu besetzen. Mussolini wurde aus seinem Gefängnis befreit und mit der Bildung einer neuen faschistischen Regierung beauftragt, die in Salò am Gardasee residierte.30
Diese „Soziale Republik Italiens“ beteiligte sich nicht nur an dem Kampf der Wehrmacht gegen die Alliierten, sondern führte ebenfalls in Zusammenarbeit mit den deutschen Terrorbanden von Gestapo, Sicherheitsdienst und SS einen Rassenkrieg gegen die noch im Lande verbliebenen italienischen Juden und Sinti und Roma.31 Die Faschisten sahen sich aber einem immer stärker werdenden Widerstand ausgesetzt, dem schließlich auch Mussolini selber zum Opfer fiel. Er wurde am 28. April 1945 von Angehörigen der Resistenza gefangen genommen und auf der Stelle erschossen. Seine Leiche wurde zusammen mit der seiner Freundin Clara Petacci an den Füßen aufgehängt und zur Schau gestellt.
Mussolinis Erben
Diese Tat wurde als Symbol dafür verstanden, dass sich Italien selber befreit und aus eigener Kraft den Faschismus überwunden habe. Beides stimmte zwar so nicht, wurde aber dennoch behauptet – es schuf den Gründungsmythos der neuen italienischen Republik. In dessen Zentrum steht die nachträgliche Konstruktion eines parteiübergreifenden und zugleich einigenden Widerstandes bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Aufarbeitung der faschistischen Zeit, die von vielen Italienern als zumindest partiell gut und temporär auch erfolgreich empfunden wurde.32
Diese merkwürdige und selektive Wahrnehmung der Geschichte des italienischen Faschismus wird ebenso schön wie eindrucksvoll durch einen (italienischen!) Witz dokumentiert, wonach Italien eigentlich 80 Millionen Einwohner habe: müsse man doch zu den 40 Millionen Faschisten vor 1943 die 40 Millionen Antifaschisten danach hinzuzählen.
Im krassen Gegensatz zu diesem antifaschistischen Selbstbefreiungsmythos stand (und steht bis heute) die Tatsache, dass im Nachkriegsitalien die faschistische Vergangenheit kaum „bewältigt“ wurde, sondern stattdessen mit der demokratischen Gegenwart verbunden blieb.
Davon zeugen einmal die vielen Bauten der faschistischen Zeit, die keineswegs zerstört wurden und immer noch zu bewundern sind, was Italien vom postfaschistischen Deutschland unterscheidet.33 Hinzu kommen die vielen personellen Kontinuitäten, die das postfaschistische Italien wiederum mit Deutschland gemeinsam hat – konnten doch viele ehemalige faschistische Funktionsträger ihre politische Karriere im Staatsapparat des demokratischen Italien fortsetzen.34 Aber nicht nur hier, sondern auch in einer Partei, die bruchlos aus der faschistischen Mussolinis hervorgegangen ist. Ihr Gründer und langjähriger Führer war Giorgio Almirante.35
Der 1914 bei Parma geborene Almirante hatte im faschistischen Italien als Herausgeber der einflussreichen radikalfaschistischen Zeitschrift La difesa della razza eine steile politische Karriere gemacht, die 1943 keineswegs abbrach: diente er doch Mussolini noch als Kultusminister der Republik von Salò. Wie so viele andere seiner Parteifreunde ist er dafür gerichtlich nicht zur Verantwortung gezogen worden. Schon 1945 konnte er eine Partei gründen, die faktisch eine Fortsetzung des Partito Nazionale Fascista Mussolinis war. Auf die Patenschaft Mussolinis deutet schon ihr Name hin. Almirantes „Movimento Sociale Italiana“ (MSI) rief eine durchaus gewollte Assoziation an den Familiennamen des Duce hervor. Doch nicht nur deshalb wurde sie von Freund und Feind als „neofaschistisch“ bezeichnet. Hinzu kam die unverkennbare Anlehnung an die Ideologie und die terroristische Praxis des klassischen Faschismus. Ihr sind mehrere Menschen zum Opfer gefallen. Allein beim Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna im Jahr 1980 starben 85 Personen.
Dennoch ist diese eindeutig faschistische Partei niemals verboten worden. Grund waren schlicht und einfach ihre Wahlerfolge. Der MSI erreichte bei allen Wahlen um die zehn Prozent der abgegebenen Stimmen – temporär sogar noch mehr – und war in allen italienischen Nachkriegsparlamenten vertreten. Hier bot sie sich mehrmals, aber letztlich erfolglos, der Democrazia Christiana als Koalitionspartner an. Ihr Führer Almirante, der aus seiner Bewunderung für Mussolini kein Hehl gemacht hat, verfügte noch von 1979 bis zu seinem Tod 1988 über einen Sitz im Europaparlament.
Die Erfolge Almirantes wurden durch die seines Nachfolgers Gianfranco Fini noch in den Schatten gestellt. Unter Führung des jungen, 1952 geborenen Fini gewann die Partei bei den 1994 abgehaltenen Wahlen 13,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Zwei Jahre später, 1996, waren es sogar 15,7 Prozent; und 2001 immerhin noch zwölf Prozent. Noch wichtiger und noch bedenklicher war, dass Fini 1994 zum Minister im ersten Kabinett Berlusconis wurde. Dies wiederholte sich 2001, als Berlusconi erneut die Wahl gewann und wiederum Fini in die Regierung aufnahm.36 Auch in dem im April 2008 gebildeten dritten Kabinett Berlusconis ist Finis Partei wieder vertreten.
Wie kann eine neofaschistische Partei in der Regierung eines demokratischen Staates vertreten sein, ohne dass dies bei den anderen europäischen Demokratien auf nennenswerte Kritik gestoßen ist? Eine, aber keineswegs befriedigende, Erklärung dafür ist, dass Fini eine fast perfekte Mimikry betrieb, indem er dem „Movimento Sociale Italiana“ einen neuen und scheinbar unverfänglicheren Namen gab: „Alleanza Nazionale“. Außerdem untersagte er den Mitgliedern seiner Nationalen Allianz das unter seinem Vorgänger Almirante noch weitverbreitete Zeigen des sogenannten Römischen Grußes und das öffentliche Auftreten in den Schwarzen Hemden der fascisti Mussolinis. Generell war der selber immer perfekt gekleidete und mit Schlips und Kragen auftretende Fini um ein modernes und moderates Image seiner Partei bemüht.
Doch all diese Mimikry konnte zumindest die ideologischen Kontinuitäten zwischen dem scheinbar neuen und dem alten Faschismus nicht verdecken. Sein Schöpfer – Mussolini – wurde weiterhin verherrlicht und seine Verbrechen wurden geradezu systematisch verharmlost. Diese Relativierung des verbrecherischen Faschismus Mussolinis stieß innerhalb der italienischen Öffentlichkeit kaum noch auf Kritik, ist es hier doch zu einer ebenso weitgehenden wie weitverbreiteten Neubewertung Mussolinis und seines faschistischen Regimes gekommen.
Verantwortlich dafür war vor allem der Mussolini-Biograph Renzo de Felice, der in einigen sehr einflussreichen Arbeiten den italienischen strikt vom deutschen Faschismus unterschied. Die italienische Variante des Faschismus sei viel moderner, nicht oder kaum rassistisch und generell längst nicht so schlimm wie der Nationalsozialismus gewesen. Diese geschichtspolitische Offensive de Felices, die übrigens in vieler Hinsicht an den von Ernst Nolte angezettelten deutschen „Historikerstreit“ erinnert, war schon deshalb erfolgreicher als die diesbezüglichen deutschen Bemühungen, weil sich zur gleichen Zeit auch in vielen anderen Ländern die Zweifel an der Legitimität eines allgemeinen Faschismusbegriffs mehrten. Im Zentrum dieser Kritik stand die These von der absoluten Singularität des Holocaust, der zudem von Historikern wie Daniel Goldhagen kurz und bündig als „deutsches Produkt“ bezeichnet wurde.
Diese deutsche und internationale Diskussion wurde in Italien aufmerksam verfolgt und dankbar angenommen. Übersehen, und dies ganz bewusst, wurde dabei, dass sich auch die faschistische Republik von Salò am Holocaust beziehungsweise am Judenmord beteiligt hat. Außerdem wurde von italienischer Seite weiterhin strikt geleugnet, dass auch das faschistische Italien eine Rassenpolitik betrieben und in Äthiopien einen Rassenkrieg geführt hat.37
Zu einer schleichenden Aufwertung des italienischen Faschismus hat auch die ebenfalls von de Felice angestoßene Abwertung des Antifaschismus beigetragen, der zudem nicht mehr als ideologische Klammer zwischen der italienischen Linken und der Democrazia Christiana gebraucht wurde, weil Letztere mit dem Zusammenbruch des alten italienischen Parteiensystems faktisch von der politischen Bühne verschwand.
Nutznießer dieser politischen und damit einhergehenden ideologischen Wandlungen war Finis Partei, die man offensichtlich nicht mehr nach den alten Kriterien beurteilen wollte, ohne dass man neue für sie erfand. Außerdem profitierte Finis Mimikry von der Tatsache, dass im politischen Vakuum nach dem Zerfall des alten Parteiensystems zwei weitere Parteien entstanden, die sich in ihrer politischen Ausrichtung keineswegs grundlegend von der Alleanza Nazionale unterscheiden.
Gemeint ist einmal die „Lega Nord“ Umberto Bossis.38 Der 1941 geborene Bossi hat sich nach seinem (abgebrochenen) Medizin- und Jurastudium politisch an der Autonomiebewegung im italienischen Aostatal beteiligt. Daraus entstand die „Lega Lombarda“, die von Bossi mit gegründet worden war und als deren Abgeordneter er 1987 ins italienische Parlament einzog. Unter seiner Führung wurde die 1989 in „Lega Nord“ umbenannte Bewegung zu einer Massenpartei mit einer separatistischen Zielsetzung, verlangte Bossi doch allen Ernstes die Abtrennung der gesamten Poebene von dem als durch und durch korrupt angesehenen italienischen Gesamtstaat.
Die Errichtung eines neuen Teil-Staates, Padanien genannt, wurde aber nicht nur mit dem durchaus berechtigten Hinweis auf die Unfähigkeit Roms begründet, die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes – vor allem den Nord-Süd-Gegensatz – zu lösen; Bossi bediente sich zusätzlich einiger Argumente und Ideologeme, die eine fatale Ähnlichkeit mit der faschistischen Ideologie und Propaganda hatten.
Vom nationalsozialistischen „Blut-und-Boden-Kult“ abgekupfert scheint die Verherrlichung des Flusses Po zu sein, nach dem das künftige Padanien genannt ist. Dabei wurde in merkwürdigen und schon fast possenhaft anmutenden Riten und Ritualen das Wasser dieses Flusses auf einer Boots-Prozession von seiner Quelle bis zur Mündung in die Adria gebracht. Noch merkwürdiger ist die Verherrlichung der Kelten, die hier vor der römischen Zeit lebten und von Bossi als die eigentlichen Ahnen der „Padanier“ bezeichnet werden. Man mag all dies komisch finden, aber absolut nicht komisch ist, dass Bossi und seine Partei in letzter Zeit durch eine abstoßende rassistische Hetze gegen Ausländer im Allgemeinen und afrikanische Einwanderer im Besonderen aufgefallen sind.
In Italien ist die Lega Nord nicht nur im Parlament, sondern auch in der Regierung vertreten. Das ist jetzt zum dritten Mal der Fall. Dies allein sagt viel über den gegenwärtigen politischen Zustand Italiens aus. Hier ist es nach dem Zusammenbruch des alten Systems zur Entstehung einer neuen politischen Ordnung gekommen, die sich schon deshalb einer angemessenen Einstufung und Bewertung entzieht, weil sie völlig neu und mit allen anderen italienischen und europäischen Regimen kaum zu vergleichen ist. Dies schon wegen seines Schöpfers und erneuten Führers, der einen Politikertyp repräsentiert, den es so in der Geschichte des Parlamentarismus noch nicht gegeben hat: Silvio Berlusconi.39
Der 1936 in Mailand geborene Berlusconi entstammt einer zwar nicht armen, aber auf jeden Fall auch nicht reichen Familie. Seinen Aufstieg zum mit großem Abstand reichsten Mann Italiens verdankt er seiner eigenen Tüchtigkeit und Geschicklichkeit, sein Vermögen wird auf mindestens elf Milliarden Dollar geschätzt. Offiziell und nach eigenen Angaben hat es Berlusconi zunächst im Bereich des Bauwesens und des Immobilienhandels erwirtschaftet. Da in diesen wirtschaftlichen Sektoren die Korruption weitverbreitet ist (was übrigens keineswegs nur auf Italien zutrifft), hat es immer wieder Spekulationen über einige dunkle – und letztlich zur Mafia führende – Kanäle gegeben. Bewiesen ist dies alles jedoch nicht, hat Berlusconi doch bisher alle gegen ihn angestrengten Prozesse gewonnen – oder seine politische Macht dazu ausgenutzt, um schon ihre Einleitung zu verhindern.
Seine wie auch immer gewonnenen finanziellen Mittel hat Berlusconi im Medienbereich investiert, vor allem im damals neuen privaten Fernsehen. Die von ihm gegründeten und geleiteten Privatsender zeichneten sich zwar durch eine denkbar schlechte Qualität ihrer Programme aus, waren aber äußerst lukrativ. Dies befähigte Berlusconi, sich auch in den Bereichen des Handels, der Versicherungen und nicht zuletzt des Sports, vor allem des Fußballs, zu betätigen. Wiederum mit großem finanziellen Erfolg.
Mit seiner so gewonnenen wirtschaftlichen und medialen Macht im Rücken hat er die Bühne der Politik bestiegen. Dies nicht in den Reihen der alten, durch zahlreiche Korruptionsskandale geschwächten und schließlich ruhmlos untergegangenen Parteien, sondern durch die Gründung einer neuen Partei, der er den unverfänglichen Namen „Forza Italia“ gab. Berlusconi stellte sich mit seiner „italienischen Kraft“ als Wunderheiler der italienischen Korruptions-Krankheit und unbeugsamen Bekämpfer des Kommunismus auf, der durch den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa äußerst geschwächt war. Schritt für Schritt verschwand die einstmals so mächtige Kommunistische Partei Italiens (PCI), die 1991 den Begriff „kommunistisch“ aus ihrem Namen strich und sich in „Demokratische Partei der Linken“ umbenannte, von der politischen Bildfläche. In dem im April 2008 gewählten italienischen Parlament ist sie nicht mehr vertreten.
Der Niedergang des PCI hatte aber wenig mit Berlusconis Politik zu tun, die dieser 1994/1995 und dann 2001 bis 2006 als Ministerpräsident einer aus der Forza Italia sowie den Parteien Bossis und Finis gebildeten Regierung führte. Dass er dennoch zweimal und 2008 sogar zum dritten Mal mit einer komfortablen Mehrheit gewählt wurde, verdankte er hauptsächlich der Schwäche der Linken, die sich zunächst gar nicht und schließlich viel zu spät unter sich und gegen Berlusconi einigen konnten.
Die Linke vermochte es auch nicht, die vielen politischen und moralischen Schwächen zu nutzen, die Berlusconi bot und immer noch bietet. Dazu gehört einmal der schon erwähnte Korruptionsverdacht, der aber bisher nicht bewiesen werden konnte, und Berlusconis inzwischen bewiesene temporäre Mitgliedschaft in einer Geheimorganisation, die sich „Propaganda Due“ (PZ) nannte. Ende der 1970er-Jahre bereitete diese einen faschistischen Putschversuch vor, der erst in letzter Sekunde aufgedeckt und verhindert wurde.
Berlusconi hat daraus die Lehre gezogen und hat sich mit allzu offenen profaschistischen Äußerungen zurückgehalten. Antisemitische Äußerungen sind überhaupt nicht nachweisbar. Den Holocaust hat er mehrmals öffentlich scharf verurteilt, ohne allerdings dabei auf die italienische Mithilfe einzugehen. Dagegen ist er mehrmals mit hetzerischen und rassistisch geprägten Äußerungen gegen Ausländer hervorgetreten.
Es ist zu früh, ein Fazit zu ziehen und über Berlusconi ein abschließendes Urteil zu fällen: Berlusconi war und ist erneut Chef einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung. Daher kann sein Regime weder als bonapartistisch noch gar als faschistisch bezeichnet werden. Andererseits gibt es gewisse politische und ideologische Kontinuitäten zwischen Berlusconis – noch – demokratischem und Mussolinis faschistischem Regime, weshalb Berlusconi und seine Mitstreiter Bossi und Fini mit Fug und Recht und ohne jegliche Häme und Polemik als Mussolinis Erben anzusehen sind. Ob sie dieses Erbe antreten und erfüllen werden, wird die Zukunft zeigen.