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„Weder rechts noch links“ – Bonapartismus und Faschismus in Frankreich
Оглавление„Weder rechts noch links“ soll der (klassische) Faschismus nach der Meinung des israelischen Historikers Zeev Sternhell gewesen sein.1 Wenn dies zutrifft, dann liegen seine Ursprünge nicht in Italien, sondern in Frankreich. Dies ist keine neue These, und Sternhell ist keineswegs der Einzige, der sie vertritt. Schon Ernst Nolte hat die „Action française“ von Charles Maurras zu den drei Hauptvarianten beziehungsweise, wie es in der englischen Übersetzung hieß, faces (Gesichter) des Faschismus gezählt, mit der er sein Standardwerk über die Epoche des Faschismus begonnen hat.2 Noltes These wird inzwischen auch von einigen anderen Historikern geteilt. Neben dem schon genannten Sternhell trifft dies auch auf Michel Winock, Jean François Sirinelli, Pierre Milza und andere zu.3
Ich meine dagegen, dass man noch weiter zurückgreifen und mit dem Mann beginnen sollte, der das erste Regime geschaffen hat, das „weder rechts noch links“ war und zum Vorbild und Ausgangspunkt des späteren Faschismus wurde – mit dem Bonapartismus Louis Bonapartes. 4
Bonaparte und der Bonapartismus
Louis Bonaparte wurde am 20. April 1808 geboren, sein Vater war der König von Holland und Bruder Napoleons I. Dieser hieß ebenfalls Louis mit Vornamen und war mit der Stieftochter Napoleons, Hortense de Beauharnais, verheiratet. Nach dem Untergang des ersten französischen Kaiserreichs ging Hortense mit ihren Kindern ins Exil nach Deutschland. Hier, genauer gesagt am Bodensee, wuchs Louis Bonaparte auf, bevor er sich in der Schweiz zum Artillerieoffizier ausbilden ließ. Vorbild war natürlich sein großer Onkel, der seine militärische Karriere auch als Offizier der Artillerie begonnen hatte. Sonst hatten beide Bonapartes wenig gemeinsam. Dies änderte sich, als Napoleons einziger Sohn, den er mit der österreichischen Kaisertochter Marie Louise hatte, starb. In der bonapartistischen Thronfolge, die freilich ohne praktische Bedeutung war, rückte Louis Bonaparte damit auf, weshalb er von den Bonapartisten als Napoleon III. tituliert wurde. Natürlich war dies nicht mehr als Schall und Rauch, aber es spornte Louis Bonaparte an, es seinem großen Onkel gleichzutun und den Anspruch auf den Thron zu erheben. Doch zunächst waren alle Anstrengungen vergeblich.
1836 scheiterte sein Versuch, ein Straßburger Regiment zum Putsch gegen den „Bürgerkönig“ Louis Philippe zu überreden, kläglich. Louis Bonaparte wurde aus Frankreich ausgewiesen und ging zunächst in die Vereinigten Staaten, dann nach England. Von hier aus startete er 1840 einen erneuen Putschversuch. Mit nur 60 Gefolgsleuten fuhr er nach Boulogne, um die dortige Garnison zum Marsch auf Paris zu bewegen. Alles endete mit einem Desaster und der Verurteilung Louis Bonapartes zu lebenslanger Festungshaft. Diese verbrachte er sehr kommod mit dem Studium der Lehren der Frühsozialisten, was ihn veranlasste, selber eine Broschüre über nichts Geringeres als die „Ausrottung der Volksarmut“ zu schreiben. Ein löbliches Unterfangen, zu dem Louis Bonaparte aber alle Voraussetzungen fehlten. Zunächst die seiner Freiheit. Sie erlangte er 1846 wieder – durch den Ausbruch aus dem Gefängnis und seine Flucht nach England. Zwei Jahre später konnte er auch nach Frankreich zurückkehren.
Hier war nämlich im Februar 1848 die Revolution ausgebrochen. Nach dem Willen vieler Revolutionäre sollte aus der politischen Umwälzung eine soziale werden, sie schlug aber stattdessen den Rückwärtsgang ein. Die Linken konnten von dem von ihnen eingeführten allgemeinen (Männer-)Wahlrecht nicht profitieren, erzielten sie doch bei den im April 1848 durchgeführten Wahlen zur Nationalversammlung nur 200 von insgesamt 900 Sitzen. Sieger waren die von Ledru-Rollin angeführten liberalen Republikaner mit 350 Sitzen, die sich weigerten, die Sozialisten unter der Führung Auguste Blanquis in die fünfköpfige Exekutivkommission aufzunehmen. Blanqui und seine Genossen protestierten dagegen ergebnislos. Deren Niederlage nahm die neue Regierung zum Anlass, um im Juni 1848 die Nationalwerkstätten wieder zu schließen, die gerade von den Linken mit dem Ziel eingerichtet worden waren, die Arbeitslosigkeit durch staatliche Arbeitsbeschaffung zu bekämpfen.
Der daraufhin von Blanqui angezettelte Aufstand wurde von dem neuen Kriegsminister (und faktischen Diktator) Eugène Cavaignac niedergeschlagen – und zwar äußerst blutig durch den Einsatz von mit Kartätschen geladenen Kanonen. Mehr als 3000 Aufständische wurden in den Straßen von Paris niederkartätscht beziehungsweise, wie man dieses Morden nach dem Verantwortlichen nannte, „cavaignisiert“. Die Folge war die Beseitigung weiterer Zugeständnisse an die Arbeiter und der Erlass einer neuen Verfassung, in der die konservativen Werte „Familie“, „Eigentum“ und vor allem „öffentliche Ordnung“ beschworen und fixiert wurden.
Jetzt schlug – zum ersten Mal – die Stunde des damals weitgehend mittellosen und nur wegen seines Familiennamens einigermaßen bekannten Louis Bonapartes. Unterstützt von den Orleanisten, den Anhängern des gestürzten Louis Philippe, und durch den Einsatz geschickter propagandistischer Methoden gewann er die Präsidentschaftswahl vom Dezember 1848 haushoch. Mehr als fünf Millionen Franzosen stimmten für ihn, nur 1,4 Millionen für Cavaignac und 400 000 für Ledru-Rollin.
Der Rollback ging weiter. Die Rechte und (angemaßten) Befugnisse der Katholischen Kirche im Bildungswesen wurden wiederhergestellt und das allgemeine Wahlrecht faktisch abgeschafft. Die treibende Kraft hierbei war die bürgerliche „Partei der Ordnung“. Sie triumphierte bei den Parlamentswahlen vom Mai 1849. Ihren 500 Abgeordneten standen nur noch 100 republikanische gegenüber. Da die Linken, die sich jetzt in Erinnerung an die Große Französische Revolution Montagnards nannten, immerhin 200 Sitze errungen hatten, war noch nicht alles entschieden. Es herrschte in Frankreich so etwas wie ein labiles politisches Gleichgewicht zwischen den linken und rechten Kräften.
Marx wollte darin sogar ein „Klassengleichgewicht“ zwischen Bourgeoisie und Proletariat sehen, weil das Proletariat „noch nicht“ fähig sei, die politische Macht zu erobern, während die Bourgeoisie „nicht mehr“ fähig sei, sie zu behaupten. Daher, so Marx weiter, zeige sie sich bereit, auf ihre mit dem und durch das Parlament ausgeübte politische Macht zugunsten der Exekutive zu verzichten. Ihr Chef war Louis Napoleon. Mit der Absetzung des Kommandeurs der Pariser Nationalgarde gelang es ihm, diese zu entmachten und dem Bürgertum damit sein letztes politisches Machtmittel zu nehmen. Doch verfügte er selber noch keineswegs über die ganze Macht. Seine Amtszeit war nämlich begrenzt und lief 1852 aus. Für eine Verlängerung wäre eine Dreiviertelmehrheit im Parlament notwendig gewesen. Doch ein diesbezüglicher Versuch scheiterte. Bonapartes Antrag fand nicht die verfassungsgemäß notwendige Stimmenzahl.
Daraufhin schlug Bonaparte am 2. Dezember zu. Ein symbolkräftiges Datum: An einem 2. Dezember beziehungsweise, wie er damals nach dem revolutionären Kalender genannt wurde, an einem 18. Brumaire, war sein großer Onkel 1804 zum Kaiser gekrönt worden. Louis Bonapartes Putsch des 18. Brumaire war erfolgreich, kostete aber weit mehr als hundert Menschen das Leben. Tausende wurden verhaftet, wovon wiederum die meisten in die Kolonien deportiert wurden. Viele Oppositionelle, darunter der Schriftsteller Victor Hugo, konnten sich diesem Schicksal nur durch die Flucht ins Ausland entziehen.
Dennoch, trotz oder wegen dieses Terrors, gewann Louis Bonaparte das noch im Dezember 1851 durchgeführte Referendum zur Bestätigung seines Staatsstreiches haushoch. Er erhielt 7,4 Millionen Ja-Stimmen. Nur 600 000 Franzosen votierten gegen ihn und 1,5 Millionen enthielten sich – und dies obwohl das Plebiszit auf der Basis des wieder eingeführten allgemeinen Wahlrechts durchgeführt worden war. Marx und Engels schnaubten im britischen Exil vor Wut, ereiferten sich über die Feigheit der Franzosen im Allgemeinen, des französischen Proletariats im Besonderen und wollten fortan im (demokratischen) allgemeinen Wahlrecht nur einen finsteren bonapartistischen Trick erblicken. Auch Bonapartes Krönung zum Kaiser Napoleon III. ein Jahr später wurde durch ein Plebiszit bestätigt. Dieses Mal stimmten nur noch 253 000 gegen und über 8 Millionen für den von Marx so geschmähten „Neffen seines Onkels“.
Wie man es auch drehte und wendete: Louis Bonaparte war unbestrittener und allgemein anerkannter Kaiser beziehungsweise – nach den Worten von Marx und Engels – Chef der „verselbstständigten Exekutive“, vor der alle Klassen niederknieten. Diese „Verselbstständigung“ der Exekutive sei jedoch nur partiell, weil die Bourgeoisie ja noch im Besitz ihrer sozialen Macht sei. Diese werde sie über kurz oder lang nutzen, um wieder in den vollen Besitz auch der politischen Macht zu gelangen. Daher handele es sich nur um eine temporäre Verselbstständigung der Exekutive. Doch genau wie das Provisorische recht konstant sein kann, kann sich das Temporäre als dauerhaft erweisen. Im Falle des Bonapartismus sollte es fast 20 Jahre währen. Warum konnte sich Napoleon III. so lange an der Macht halten, obwohl doch Marx und Engels fast im Einjahresrhythmus seinen unmittelbar bevorstehenden Sturz durch eine Revolution angekündigt haben?
Zunächst und vor allem, weil er doch mehr war als nur der „Neffe seines Onkels“. Napoleon III. ist sicherlich nicht so verklärt worden wie Napoleon I., dennoch war er bei den Franzosen zweifellos populär. Beigetragen haben dazu nicht so sehr seine militärischen Erfolge. Er war kein großer Eroberer wie es Napoleon I. war. Napoleon III. hat das französische Staatsgebiet nur um Nizza und Savoyen erweitert sowie den Kolonialbesitz in Afrika und Asien befestigt und vergrößert. Sein Versuch, auch auf dem amerikanischen Kontinent wenigstens indirekt Fuß zu fassen, scheiterte auf der ganzen Linie mit der Niederlage des von Napoleon III. in Mexiko eingesetzten „Kaisers“ Maximilian. Der mexikanische Präsident Benito Juárez ließ diese französische Marionette auf dem Thron ohne Urteil erschießen.
Nicht erschossen, wohl aber gefangen genommen wurde Napoleon III. dann selber nach der totalen Niederlage seines Heeres bei Sedan. Vorausgegangen war die von Bismarck provozierte Kriegserklärung Frankreichs an Preußen. Die Niederlage gegen Preußen, die Napoleon I. einst das Fürchten gelehrt hatte, verziehen die Franzosen ihrem Kaiser nicht. Sie setzten ihn ab und riefen die (dritte) Republik aus.
Der finale militärische Misserfolg Napoleons III. verdeckt seine vorherigen innenpolitischen Erfolge. Der dritte und nicht der erste Napoleon war es, der Frankreich der nachrevolutionären Erstarrung entrissen und das Land modernisiert hat, vor allem durch den Ausbau der Infrastruktur. Das französische Eisenbahnnetz wurde in seiner Regierungszeit von 2000 auf 18 000 Kilometer erweitert. Völlig neu war das Telegraphennetz. Das heutige Erscheinungsbild von Paris mit seinen prächtigen Boulevards und eindrucksvollen Häusern wurde unter Napoleon III. durch den von ihm beauftragten Präfekten Georges-Eugène Haussmann gestaltet. Dadurch wurde zugleich die Bauwirtschaft gefördert. Die Mittel dafür sowie die für den Ausbau der Eisen- und Textilindustrie wurden nicht durch erhöhte Steuern, sondern durch eine geschickte Finanzpolitik aufgebracht, wobei sich die neuen Kreditinstitute das Kapital durch öffentliche Anleihen beschafften.
Der unzweifelhafte wirtschaftliche Aufschwung Frankreichs erfolgte zudem nicht auf den Rücken und zu Lasten der Arbeiter. Die Grundzüge der modernen Sozialpolitik wurden von Napoleon III. gelegt – durch den Bau von staatlichen Schulen und Krankenhäusern, die eben auch den ärmeren Schichten der Bevölkerung offenstanden. Hier folgte Napoleon III. den Lehren einiger Frühsozialisten, allen voran denen Saint-Simons. Einige Schüler Saint-Simons standen dann auch Napoleon III. bei dessen Sozial- und Wirtschaftspolitik beratend zur Seite.
Wegen dieser Erfolge und vor allem auch wegen seiner Popularität konnte Napoleon III. es dann sogar wagen, den diktatorischen Zwang zu lockern und einen liberaleren Kurs in der Innenpolitik einzuleiten. Einige Zeitgenossen sprachen schließlich sogar von einem „liberalen Empire“. Diese Einschätzung ging sicherlich zu weit, doch unterschied sich das bonapartistische von den früheren und gleichzeitigen absolutistischen Regimen durch seinen insgesamt viel moderneren und volkstümlicheren Charakter. Dennoch war Napoleon III. ein Diktator, dessen Macht letzten Endes auf dem Militär und nicht so sehr auf einer Massenpartei basierte. Insoweit war sein Regime vielleicht nicht „weder links noch rechts“, wohl aber in einer neuartigen Weise sowohl links wie auch rechts, was in Frankreich bewundert wurde und im Ausland zur Nachahmung anregte.
Doch 1870 war es mit dem Bonapartismus in Frankreich erst einmal vorbei. Napoleon III. war gestürzt worden und Frankreich war wieder Republik, die sich zudem mit einem sozialistischen Aufstandsversuch konfrontiert sah. Er wurde zwar schnell niedergeschlagen, weil er sich auf Paris konzentrierte, dennoch rief das kurzlebige Regiment der Commune in Paris bei den Bürgerlichen Angst hervor. Bei Marx und Engels dagegen so große Begeisterung, dass sie in der Commune das Vorbild und schon Beispiel für die künftige „Diktatur des Proletariats“ erblicken wollten – habe doch die Bourgeoisie mit dem untergegangenen Bonapartismus gewissermaßen ihre letzte Karte gegen die Revolution ausgespielt. Auf jeden Fall sei der Bonapartismus die „schließliche“ Form der Herrschaft der Bourgeoisie. Nach ihr könne nur noch die Revolution kommen.
Doch wieder kam alles anders als prophezeit. Anstelle der von Marx und Engels immer erwarteten und immer wieder als unmittelbar bevorstehend ausgerufenen Revolution kam es zu einem erneuten und wiederum völlig unerwarteten „Rückfall“ beziehungsweise zu dem, was Engels den „dritten Anfall des bonapartistischen Fiebers“ nannte.5 Verursacher oder Erreger dieses „bonapartistischen Fiebers“ war kein Bonaparte, sondern ein heute nahezu unbekannter General. Sein Name war Georges Ernest Boulanger.
Boulanger
Der 1837 geborene Boulanger hatte eine glanzvolle militärische Karriere gemacht und sich in mehreren Kriegen durch persönliche Tapferkeit und Tollkühnheit ausgezeichnet. Das machte ihn im ganzen Land populär, und man sah darüber hinweg, dass sich Boulanger an der Niederschlagung der Commune beteiligt hatte.
1886 wurde Boulanger, der es inzwischen bis zum General gebracht hatte, zum Kriegsminister ernannt. Als dieser sprach er sich in der ihm eigenen Forschheit für einen Revanchekrieg gegen Deutschland aus und forderte eine weitere forcierte Aufrüstung. Für seine Ministerkollegen war dies etwas zu forsch, weshalb Boulanger schon ein Jahr später sein Ministeramt aufgeben musste. Gegen seine erzwungene Entlassung protestierte Boulanger öffentlich und opponierte gegen die Regierung – letzteres in Zusammenarbeit mit der „Ligue des Patriotes“ Paul Déroulèdes. Die Regierung konnte und wollte diese politische Betätigung eines Offiziers nicht hinnehmen und entließ Boulanger aus der Armee.
Jetzt wurde Boulanger erst recht politisch. 1888 gründete er eine eigene Partei, die „Republikanisches Komitee des nationalen Protestes“ hieß und inoffiziell nach ihrem Führer als „boulangistisch“ bezeichnet wurde. Sie gewann sofort ein Mandat in der Nationalversammlung, das natürlich von Boulanger selber wahrgenommen wurde. Damit gab er sich nicht zufrieden. Bei den nächsten Wahlen trat er gleichzeitig in drei Departements an – und gewann alle drei Mandate. Sie übergab er seinen Anhängern, um sofort selber bei einer Nachwahl in Paris anzutreten, die er wiederum gewann.
Dies alles geschah innerhalb von zwei Jahren und deutete auf einen weiteren kometenhaften Aufstieg Boulangers hin, der zudem keineswegs nur von den Anhängern seiner eigenen Partei, sondern auch von den Bonapartisten, einigen Royalisten und selbst von Sozialisten unterstützt wurde. Zu letzteren gehörten die Guesdisten, deren prominentestes Mitglied der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, war. Dass sich selbst Linke wie Lafargue für Boulanger engagierten, versetzte Engels in höchste Alarmbereitschaft. Doch nicht nur ihn. Auch die französische Regierung fürchtete eine Wiederholung der Geschichte in Gestalt eines neuen 18. Brumaires. Um einen drohenden Putsch Boulangers zu verhindern, klagte sie diesen der „Verschwörung und des Attentats auf die Sicherheit des Staates“ an. Jetzt machte der kampferprobte und bisher politisch so erfolgreiche Boulanger einen entscheidenden Fehler. Anstatt sich dem Gericht zu stellen, floh er nach Brüssel. Dies war sein politisches Ende, dem wenig später das physische folgte. Am Grab seiner kurz zuvor gestorbenen Geliebten (und finanziellen Gönnerin) beging er 1891 Selbstmord. Mit diesem theatralischen Abgang seines Repräsentanten war die von Engels befürchtete dritte Phase des Bonapartismus endgültig vorbei, noch bevor sie eigentlich begonnen hatte.
Eine neue Phase des Bonapartismus beziehungsweise, wie man jetzt sagen kann, des Faschismus begann wenige Jahre später. Ursache und Auslöser war die Dreyfus-Affäre, die das politische Frankreich in zwei etwa gleich große und sich erbittert gegenüberstehende Lager spaltete. 6
Dreyfus und die Dreyfusards
1894 wurde der Hauptmann Alfred Dreyfus von einem Militärgericht in einem nicht öffentlichen Verfahren wegen Spionage zugunsten Deutschlands zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel Cayenne verurteilt. Die französische Öffentlichkeit hätte von diesem Vorfall vermutlich kaum Notiz genommen, wenn der aus dem Elsass stammende Dreyfus nicht Jude gewesen wäre. Dies heizte den in Frankreich bisher kaum virulenten Antisemitismus an. Schon bei der öffentlichen Degradierung von Dreyfus kam es zu antisemitischen Kundgebungen, die verschiedene Zeitgenossen entsetzten. Darunter befand sich ein Korrespondent einer Wiener Zeitung, der in einem kurz darauf publizierten Buch die Lösung der „Judenfrage“ durch Gründung eines „Judenstaates“ forderte. Sein Name war Theodor Herzl. Die Dreyfus-Affäre war aber nicht nur die Geburtsstunde des Zionismus, sondern in gewisser Hinsicht auch die des französischen Faschismus. Und dies kam so:
Zwei Jahre nach der Verurteilung Dreyfus’ entdeckte der Chef des französischen Geheimdienstes, Major Picquart, Dokumente, die darauf hindeuteten, dass nicht Dreyfus, sondern der französische Offizier Ferdinand Walsin-Esterházy für die Deutschen spioniert hatte. Picquart wurde daraufhin von seinen Vorgesetzten nach Algier versetzt und damit kalt gestellt. Dies wollte er sich nicht gefallen lassen, weshalb er einige dieser Dokumente an einen Bruder von Alfred Dreyfus weitergab. Dieser Mathieu Dreyfus setzte sich für eine sofortige Wiederaufnahme des Verfahrens gegen seinen Bruder ein. Zunächst mit geringem Erfolg, bis sich der bekannte und einflussreiche Schriftsteller Émile Zola der Sache annahm und in seiner Schrift J’accuse die französischen Behörden des Rechtsbruchs anklagte. Damit löste er eine heftige Kontroverse aus, welche die französische Gesellschaft in rechte Gegner Dreyfus’ und linke Anhänger, die sogenannten „Dreyfusards“, spaltete.
Sie endete mit einem Sieg der linken Dreyfusards. 1899 wurde das Strafmaß gegen Alfred Dreyfus in einem neuen Verfahren auf zehn Jahre Festungshaft verringert. 1906 wurde Dreyfus völlig rehabilitiert, wieder in die Armee aufgenommen und mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet. Dieser Erfolg stärkte die gesamte französische Linke. Sie hatte die Wahl von 1902 gewonnen und setzte einige ihrer Programmpunkte in die Tat um. Darunter gehörte 1905 die – endgültige – Trennung von Staat und Kirche. Die Erfolge der Linken radikalisierte die Rechten, die Bewegungen ins Leben riefen, die sich nicht nur scharf und kompromisslos gegen die Linken wandten, sondern der gesamten französischen Republik den Kampf ansagten.
Déroulède und Maurras
Zu ihnen gehörte einmal die bereits erwähnte „Patriotenliga“ Paul Déroulédes, die schon Boulanger unterstützt hatte, später aber wieder in der Bedeutungslosigkeit versunken war.7 Durch die Dreyfus-Affäre gewann sie an Zulauf, was ihren Führer Déroulède 1899 veranlasste, das Militär zu einem antirepublikanischen Putsch aufzuwiegeln. Der aber war erfolglos und führte zur Verurteilung Déroulèdes zu zehn Jahren Verbannung, die dieser in Spanien verbrachte. Nach einem gescheiterten politischen Comeback im Jahr 1906 zog sich Déroulède aus der Politik zurück, er starb 1914. Er wäre heute völlig vergessen, wenn Déroulède nicht in Charles Maurras einen viel bekannteren und wichtigeren faschistischen oder zumindest präfaschistischen Nachfolger gefunden hätte.
Charles Maurras wurde 1868 als Sohn einer bürgerlichen und betont konservativ katholischen Familie in Aix-en-Provence geboren.8 Nach der Schulzeit in seiner Heimatstadt ging er nach Paris, wo er bald zu einem bekannten Literaturkritiker und Essayisten wurde. 1895 kam er in Kontakt mit dem boulangistischen Abgeordneten und extremen Nationalisten Maurice Barrès. 1898 beteiligte sich Maurras an der rechten Kampagne gegen Dreyfus und die linken Dreyfusards und trat einem zu diesem Zweck gegründeten „Comité d’Action française“ bei. Dieses Komitee wandelte Maurras in einen straff organisierten Verband namens „Ligue d’Action française“ um. Diese „ligue“ vertrat einen sogenannten integralen Nationalismus, der monarchistische, chauvinistische und antisemitische Züge trug. Verbreitet wurde er von der Zeitschrift La Revue de l’Action française, die Maurras zusammen mit Léon Daudet herausgab. Sie wurde von Mitgliedern einer Jugendorganisation verteilt und verkauft, die „Les camelots du roi“ (Hausierer des Königs) genannt wurde. Dabei kam es zu – provozierten – Auseinandersetzungen mit Linken, was die Anziehungskraft der gesamten Action française erhöhte und sie zu einer einflussreichen politischen Bewegung machte, die – wie schon erwähnt – von einigen Historikern als faschistisch eingestuft worden ist.
Dennoch gelang es Maurras nicht, zum allseits anerkannten Führer des französischen Faschismus zu werden, stattdessen wurde er zunehmend isoliert und marginalisiert. Beigetragen dazu hatte seine Befürwortung des Burgfriedens zwischen Linken und Rechten während des Ersten Weltkrieges. Damit galt er in den Augen der späteren französischen Faschisten als nicht rechts genug. Für die Katholische Kirche war der überzeugte Katholik Maurras dagegen offensichtlich zu links – jedenfalls wurden seine Schriften vom Papst auf den Index gesetzt. Wegen seiner (eher halbherzigen) Unterstützung des Vichy-Regimes wurde Maurras 1944 verhaftet und zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Ein Jahr nach seiner Begnadigung ist er 1952 gestorben. Seine Vorstellungen von einem „integralen Nationalismus“ wurden und werden jedoch bis heute von verschiedenen Kreisen und Organisationen vertreten, die sich stolz und unbeirrt auf Maurras berufen.
Erste faschistische Welle: Valois, Bucard, Dorgères und de la Rocque Nach dem Ersten Weltkrieg schien Frankreich von einer faschistischen Welle geradezu überschwemmt zu werden. Dies geschah in Gestalt verschiedener Parteien oder, wie sie sich nach dem Vorbild der Ligue d’Action française auch nannten, „Ligen“, die sowohl von den französischen Vorläufern wie vom neuen italienischen Faschismus beeinflusst waren. Letzteres trifft vor allem auf eine Partei zu, die „Le Faisceau“ genannt und von Georges Valois gegründet wurde.9
Valois ist 1878 als Alfred-Georges Gressent geboren worden. Er war zunächst Anarcho-Syndikalist, dann Anhänger des Sozialphilosophen Georges Sorel, um sich schließlich der Action française Charles Maurras’ anzuschließen. Als deren Mitglied gründete er 1911 unter dem Pseudonym Georges Valois den „Cercle Proudhon“, der sich um eine Vereinigung von linken Syndikalisten und rechten Nationalisten bemühte und daher von Zeev Sternhell als Urform des Faschismus angesehen wird. Mit Unterstützung von naturgemäß rechten französischen Unternehmern rief Valois 1925 die Partei „Le Faisceau“ ins Leben. Ihre Mitglieder imitierten das italienische Vorbild, indem sie in der Öffentlichkeit in einer Art Parteiuniform auftraten. Allerdings nicht in schwarzen, sondern blauen Hemden, zu denen sie dunkelblaue Jacken und Hüte trugen. Zu diesen äußerlichen Ähnlichkeiten kamen solche im Bereich der antikapitalistischen, antisozialistischen, nationalistischen und auch antisemitischen Ideologie. In politischer Hinsicht war der „Faisceau“ aber längst nicht so erfolgreich wie sein italienisches Vorbild, weshalb er schon 1928 aufgelöst wurde.
Valois selber machte nach der gescheiterten Machtergreifung der faschistischen Parteien im Februar 1934 eine bemerkenswerte Linkswendung und wollte sich der Sozialistischen Partei (SFIO) anschließen, was diese aber ablehnte. Valois ließ sich nicht abweisen und beteiligte sich aktiv an der linken Résistance. Von den Deutschen verhaftet und nach Deutschland deportiert, ist er 1945 im KZ Bergen-Belsen an Typhus gestorben.
Ein völlig anderes Schicksal hatte sein temporärer politischer Weggefährte Marcel Bucard, der sich 1924 dem „Faisceau“ angeschlossen hatte und nach dessen Auflösung eine eigene faschistische Partei gründete, die sich „Mouvement franciste“ und dann „Parti franciste“ nannte. Sie soll von Mussolini finanziell gefördert worden sein und hat sich dann zusammen mit anderen Parteien und Ligen an der versuchten Machtergreifung am 6. Februar 1934 beteiligt.10 Bucard wurde daraufhin verhaftet, aber bald wieder freigelassen. 1941 reaktivierte er seine Parti franciste und kollaborierte mit den Deutschen. Zusammen mit den Faschisten Jacques Doriot und Marcel Déat (von denen noch die Rede sein wird) gründete er die „Légion des volontaires français contre le bolchévisme“, die dann in die Waffen-SS integriert wurde. 1946 wurde er wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Die mit 420 000 Mitgliedern stärkste faschistische Partei der ersten Welle war die nach ihren grünen Hemden „chemises vertes“ benannte Partei Henri Dorgères. Offiziell hieß sie „Comités de défense paysanne“ und war zunächst eine bäuerliche Interessenorganisation. Ihr war aber kein so großer Erfolg wie den deutschen und italienischen faschistischen Parteien beschieden, deren Basen ja ebenfalls vor allem auf dem Lande und unter der Landbevölkerung gelegen hatten. Die Grünhemden Dorgères’ vermochten es nämlich nicht, der konservativen Bauernorganisation „Fédération Nationale des Exploitants Agricoles“ den Rang abzulaufen. Dennoch kann an ihrem – in Frankreich vielfach bestrittenen – faschistischen Charakter kein Zweifel sein.11
Umso bemerkenswerter ist die Nachkriegskarriere Dorgères’. 1944 gefangen genommen und wegen Kollaboration zu zehn Jahren Haft verurteilt, ist er auf Fürsprache einiger Résistance-Kämpfer schon 1946 amnestiert worden. Er schloss sich der poujadistischen Partei an, als deren Abgeordneter er 1956 ins französische Parlament einzog.
Die letzte der hier noch zu erwähnenden faschistischen Parteien war vermutlich gar keine. Gemeint sind die „Croix de Feu“ (Feuerkreuzler) François de la Rocques12, die aus einer Veteranenorganisation hervorgegangen sind. Daran erinnert auch ihr Name, der auf den hohen (dem Eisernen Kreuz vergleichbaren) französischen Orden Croix de Guerre Bezug nimmt. Unter der Leitung des ehemaligen Offiziers de la Rocques vertraten die Feuerkreuzler eine nationalistische, autoritäre, antikommunistische, aber kaum antisemitische Ideologie und verfügten über dispots (abgeleitet von französisch disponible = bereit) genannte paramilitärische Einheiten. Ob dies ausreicht, sie als faschistisch zu klassifizieren, ist, wie gesagt, umstritten.
Dafür spricht jedoch die Beteiligung der Croix de Feu am Marsch auf das Parlament vom 6. Februar 1934, weshalb sie wie die anderen faschistischen Bewegungen von der Volksfrontregierung verboten wurden. Ihre ebenfalls von de la Rocque gegründete und geleitete Nachfolgeorganisation hieß „Parti Social Français“ (PSF). Sie hätte möglicherweise die Parlamentswahl von 1940 gewonnen, wenn sie denn stattgefunden hätte. Dazu ist es nicht gekommen, weil in Frankreich nach der Niederlage gegen Deutschland eine Diktatur etabliert wurde, die nach ihrem südfranzösischen Regierungssitz als Vichy-Regime bezeichnet wurde.
Vichy (Pétain und Laval, Doriot und Déat)
Am 22. Juni 1940 musste das geschlagene Frankreich in Compiègne den Waffenstillstand unterzeichnen – an jenem Ort, wo 22 Jahre zuvor das kaiserliche Deutschland einen ebenso demütigenden Vertrag unterzeichnet hatte. Er sah unter anderem die Teilung Frankreichs in einen von deutschen Truppen besetzten und einen sogenannten freien Teil vor. „Chef d’Etat“ (Staatschef) des unbesetzten Frankreichs wurde nach einer vom Parlament mit großer Mehrheit gebilligten Verfassungsänderung der greise und als „Held von Verdun“ gefeierte ehemalige Marschall des Ersten Weltkriegs Henri Philippe Pétain.13
In außenpolitischer Hinsicht versuchte Pétain, einen Neutralitätskurs zu steuern, was ihm – natürlich, kann man im Rückblick sagen – nicht gelang. Tatsächlich gestaltete sich die ursprünglich von Pétain durchaus gewollte Zusammenarbeit beziehungsweise Kollaboration mit Hitler-Deutschland immer enger – und verwerflicher.
Die gesamte französische Industrie musste für die Zwecke und Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft produzieren, und immer mehr französische Arbeiter wurden gezwungen, in Deutschland zu arbeiten. Zunächst geschah dies in der Absicht, die französischen Kriegsgefangenen auszulösen, doch dann wurde daraus im großen Stil Zwangsarbeit unter sich immer weiter verschlechternden Bedingungen im deutschen Feindesland.
Noch schlechter erging es den von den Behörden Vichy-Frankreichs verhafteten und an Deutschland ausgelieferten Juden – zunächst den nach Frankreich geflüchteten ausländischen Juden, dann jüdischen Männern mit französischer Staatsbürgerschaft und schließlich auch Frauen und Kindern. Diese Form der Kollaboration war nichts anderes als Beihilfe zum Massen-, ja Völkermord. Für diese Verbrechen verantwortlich waren Pétain selber und sein Ministerpräsident Pierre Laval.
Diese verbrecherische Kollaboration mit dem faschistischen Deutschland allein rechtfertigt aber nicht, das von Pétain geführte Vichy-Regime als faschistisch einzustufen. Zu berücksichtigen ist auch seine Innenpolitik. Sie stand im Zeichen der von Pétain proklamierten „Révolution Nationale“, die an die Stelle der republikanischen Werte „Liberté, Égalité, Fraternité“ die scheinbar nur konservativen Ziele „Travail, Famille, Patrie“ setzte und verwirklichen sollte. Tatsächlich näherte man sich dabei der faschistischen Ideologie an. Denn „Arbeit“ bedeutete letzten Endes Arbeit für das faschistische Deutschland; unterstützt und gefördert wurden nur „arische“ und sozial und politisch angepasste „Familien“; und im so verherrlichten „Vaterland“ war eine immer brutaler werdende Diktatur errichtet worden, die zumindest als bonapartistisch zu bezeichnen ist. Nach dem Willen einiger französischer Faschisten sollte zudem aus der bonapartistischen eine vollends faschistische Diktatur werden.
An erster Stelle ist hier Jacques Doriot zu nennen, der mit Abstand wichtigste und radikalste französische Faschist.14 Diese Entwicklung war nicht vorherzusehen gewesen, entstammte der 1898 geborene Doriot doch einer Arbeiterfamilie. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er sich der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) angeschlossen, in der er schnell Karriere machte. Schon 1922 wurde er in das Exekutivkomitee der PCF aufgenommen. Ein Jahr später war er Chef der kommunistischen Jugendorganisation, 1924 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung und 1931 Bürgermeister von St. Denis. Doriot wäre mit ziemlicher Sicherheit zum Führer der gesamten kommunistischen Partei Frankreichs geworden, wenn er sich nicht zur Unzeit, nämlich schon 1934, für eine Einheitsfront mit den Sozialisten ausgesprochen hätte. Zwei Jahre später schwenkte seine Partei um und beteiligte sich an der Volksfrontregierung Léon Blums.
Doch da war Doriot schon aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden und hatte eine eigene, faschistische gegründet. Sie hieß „Parti populair français“ und vertrat wie die übrigen faschistischen Parteien eine antikommunistische, antisemitische und antidemokratische Zielsetzung. Dennoch oder gerade deshalb verfügte sie mit ihren 200 000 Anhängern über eine Massenbasis. Ihre Stunde schien mit der Etablierung des Vichy-Regimes zu kommen. Es sollte nach dem Willen Doriots zu einem faschistischen umgewandelt werden.
Doriot wollte dies aber nicht allein mit seiner faschistischen Partei erreichen, sondern verbündete sich mit Marcel Déat, mit dem zusammen er das „Rassem-blement pour la Révolution National“ (RRN) gründete. Ihm folgte 1941 die schon erwähnte und ebenfalls zusammen mit Déat (und Bucard) ins Leben gerufene „Légion des volontaires français contre le bolchévisme“.15
Es kam dann zu heftigen Kompetenzkonflikten zwischen Doriot und Déat einerseits, Pétain und vor allem Laval andererseits, durch die das gesamte Vichy-Regime zwar weiter radikalisiert wurde, aber letzten Endes dann doch nicht in ein eindeutig faschistisches umgewandelt wurde. Doch das lag keineswegs an dem Willen oder Unwillen der französischen Faschisten und sonstigen Kollaborateure, sondern an den Deutschen, die (auch aufgrund eigener Kompetenzkonflikte) meinten, dass ihre politischen und militärischen Interessen durch ein Kollaborationsregime besser gewahrt würden als durch einen faschistischen Staat, der möglicherweise nach mehr Eigenständigkeit gestrebt hätte.
Doch ob nun faschistisch oder „nur“ bonapartistisch: An dem grundsätzlich verbrecherischen Charakter des Vichy-Regimes ändert diese noch nicht beendete wissenschaftliche Debatte nicht das Geringste. Hinzu kommt, dass Frankreichs Vichy-Vergangenheit keineswegs als „bewältigt“ anzusehen ist. Dies geht auch aus den – sehr unterschiedlichen – Schicksalen der politischen Repräsentanten des Vichy-Regimes hervor.
Während Doriot 1945 in Sigmaringen, wohin sich die gesamte Vichy-Regierung abgesetzt hatte, bei einem Fliegerangriff umkam, ist Déat die Flucht nach Italien gelungen, wo er sich bis zu seinem Tod im Jahr 1955 in einem Kloster versteckt hielt. Pétain ist zwar zum Tode verurteilt worden, dann aber von de Gaulle begnadigt und in die Verbannung geschickt worden. Dort ist er auf der Insel Île d’Yeu 1951 als freier Mann gestorben. Lediglich Laval wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Viele weitere Repräsentanten des Vichy-Regimes im Allgemeinen und ihrer berüchtigten Polizei im Besonderen blieben jedoch unbehelligt. Einige konnten sogar ihre politische Karriere fortsetzen. Die von der Vichy-Regierung begangenen Verbrechen, insbesondere ihre Mitschuld am Holocaust sind erst in den letzten Jahren erkannt und öffentlich benannt worden. Zu dieser nicht bewältigten Vergangenheit gesellt sich in Frankreich nach 1945 eine Reihe von faschistischen Bewegungen von Poujade bis Le Pen.
Von Poujade bis Le Pen
Die erste dieser faschistischen Bewegungen nach 1945 trug den harmlosen Namen „L’Union de défense des commercants et artisans“. Gegründet wurde diese Union zur Verteidigung der Kaufleute und Handwerker im Jahr 1955 von Pierre Poujade.16 Der 1920 als Sohn eines Architekten geborene Poujade hatte eine Druckerlehre absolviert und war zum Inhaber eines Papiergeschäfts geworden, das wie viele andere mittelständische Unternehmen nach dem Krieg mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte. Verursacht seien sie nach Poujades Meinung durch die viel zu hohen Steuern, die von einer, wie Poujade sich auszudrücken beliebte, „Fiskalgestapo“ eingetrieben würden. Darüber hinaus mischte sich Poujades Partei auch in den ausgebrochenen Konflikt um das damals noch französische Algerien ein – natürlich auf der Seite der Algerienfranzosen, was mit scharfen und rassistischen Angriffen auf „die Araber“ verbunden war. Hinzu kam ein Antisemitismus, der seit der Dreyfus-Affäre in Frankreich weit verbreitet war. Vermutlich vor allem deshalb war Poujades faschistische Partei temporär erfolgreich. 1956 gewann sie bei den Parlamentswahlen 11,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und konnte mehrere Abgeordnete in die Nationalversammlung entsenden. Unter ihnen befand sich auch der schon erwähnte Dorgères und der junge Jean-Marie Le Pen, auf den noch näher einzugehen ist.
Poujade hätte wahrscheinlich von der Krise profitieren können, in welche die Vierte Republik wegen des Algerienkonflikts geraten war, und zu einem, wie die Franzosen spöttelten, „Poujadolf“ werden können, wenn es nicht zur Etablierung eines Regimes gekommen wäre, das zumindest große Ähnlichkeiten mit den vorherigen bonapartistischen hatte – und bis heute hat. Gemeint ist die Fünfte Republik, die von Charles de Gaulle mit einem Staatsstreich gegründet wurde.
Charles de Gaulle wurde 1890 als Sohn einer bürgerlichen Familie (die daher eigentlich De Gaulle hieß) geboren.17 Anders als sein Vater, der ein liberaler Schullehrer gewesen war, schlug der junge de Gaulle eine militärische Laufbahn ein, die sehr erfolgreich verlief. Aus dem Ersten Weltkrieg kehrte er als mehrfach verwundeter und wegen Tapferkeit ausgezeichneter Hauptmann zurück, um danach in den französischen Militärmissionen in Polen, dem Libanon und Deutschland tätig zu sein. Gleichzeitig machte er sich durch das Verfassen von militärischen Schriften über die Panzerwaffe einen Namen. 1940 war er Oberst und Kommandeur einer, und zwar der einzigen erfolgreichen französischen Panzerdivision. Zum Brigadegeneral befördert, wurde er Staatssekretär im letzten Kabinett vor der Pétain-Regierung. Er lehnte den von Pétain abgeschlossenen Waffenstillstand ab und floh nach England, von wo aus er sich in der berühmt gewordenen Rede vom 25. Juni 1940 seinen Landsleuten als Führer des „Freien Frankreichs“ und Chef der „Freien französischen Streitkräfte“ vorstellte und diese zum Widerstand aufforderte. Zunächst mit geringem Erfolg, von der später so gefeierten Résistance war damals nämlich noch nicht viel vorhanden. 1944 konnte de Gaulle schließlich in das befreite Frankreich zurückkehren und die Regierungsgewalt übernehmen. 1945 musste er jedoch das Amt des Ministerpräsidenten aufgeben. Sein Versuch, es mit seiner neu gegründeten Partei, dem „Rassemblement du Peuple Français“ zurückzugewinnen, scheiterte, weshalb sich de Gaulle 1953 ins Privatleben zurückzog.
1958 kehrte er als neu ernannter Ministerpräsident mit umfangreichen Befugnissen ins politische Leben zurück und ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, die bei einem Referendum von 83 Prozent der Franzosen gebilligt wurde. Sie sah eine Stärkung der Exekutive vor, die wesentlich durch das wieder eingeführte Amt des Präsidenten erreicht wurde. Gestützt auf die ihm damit verliehenen weitreichenden Befugnisse, gelang es ihm gegen erbitterten innenpolitischen Widerstand, den Algerienkonflikt durch einen Waffenstillstand mit der algerischen Befreiungsbewegung zu beenden.
Dagegen und gegen die Ausweisung aller Franzosen aus Algerien wandte sich eine neu gegründete faschistische Bewegung, die sich „Organisation de l’armée secrète“ nannte und ihre politischen Ziele durch terroristische Gewalt zu erreichen suchte. Dabei scheute sie selbst vor Attentaten auf den Präsidenten nicht zurück, die dieser freilich alle überlebte. Entscheidend dafür, dass de Gaulle die faschistische Bedrohung abwenden konnte, war aber die loyale Haltung der Armee, aus der zuvor hunderte von Offizieren entlassen worden waren. Von der Unterstützung durch die Armee wollte sich de Gaulle nicht dauerhaft abhängig machen, weshalb er 1962 eine ernute Verfassungsänderung durchsetzte, durch welche die Stellung des jetzt direkt gewählten französischen Präsidenten noch weiter gestärkt wurde. Dies wurde aber nur noch von 55 Prozent der in einem Referendum befragten Franzosen gebilligt.
Auf die weitere Außen- und Innenpolitik des keineswegs nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und einigen anderen westlichen Ländern bewunderten und gefeierten de Gaulle soll und muss hier nicht weiter eingegangen werden. Interessant ist sein Ende, weil es dem seines präsidialen Vorgängers – Louis Bonaparte – ähnelte oder zu ähneln schien. Im Mai 1968 wurde Frankreich von Streiks der Arbeiter und machtvollen Demonstrationen vieler Studenten erschüttert. Einige Zeitgenossen fühlten sich angesichts der in Paris errichteten Barrikaden an die Revolution von 1848 und an die Commune von 1871 erinnert. So scheint es auch de Gaulle selber gesehen zu haben. Jedenfalls empfand er die Situation als so bedrohlich, dass er sich der Hilfe der Führung der Armee versicherte, die vermutlich gegen die demonstrierenden Studenten und streikenden Arbeiter eingesetzt werden sollte. Diese ebenso ängstliche wie überhastete Reaktion auf die Demonstrationen im Mai 1968 führte zu einem Ansehensverlust de Gaulles. Noch einmal griff de Gaulle nach dem von ihm stets erfolgreich eingesetzten Mittel des Plebiszits, doch diesmal blieb ihm der Erfolg versagt. Nachdem die französische Bevölkerung das von ihm eingebrachte Referendum für eine Verwaltungsreform ablehnte, trat de Gaulle zurück. Eineinhalb Jahre nach seinem Rücktritt starb er am 9. November 1970.
De Gaulles Fall stärkte die Linke, was wiederum besorgte Reaktionen auf der Rechten hervorrief. Die traditionelle Angst vor „den Roten“ und der durch den Zuzug von Arabern und Afrikanern aus den früheren französischen Kolonien um sich greifende Rassismus ist dann von einer weiteren faschistischen Partei mit temporärem Erfolg ausgenützt worden. Sie nennt sich „Front National“ und wird bis heute von dem inzwischen über 80-jährigen Jean-Marie Le Pen angeführt.18
Le Pen ist 1928 in der Bretagne als Sohn eines Fischers geboren worden. Schon während seiner Studienzeit in Paris war er ein aktives Mitglied einiger rechter Hochschulgruppen. 1953 trat er in die Fremdenlegion ein und beteiligte sich an den Kämpfen in Indochina, Ägypten und Algerien. 1956 zog er, wie bereits erwähnt, als Abgeordneter der poujadistischen Partei in die französische Nationalversammlung ein. Nachdem er dieses Mandat 1962 verloren hatte, wandte er sich für einige Zeit von der Politik ab und arbeitete als – erfolgreicher – Unternehmer.
1972 hat er dann seine eigene faschistische Partei gegründet – den Front National, der 1984 erstmals in das Europaparlament einzog und dort bis heute mit einigen Abgeordneten, darunter Le Pen selber, vertreten ist. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Partei im Jahr 2002, als Le Pen bei der Präsidentenwahl 16,8 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichte, womit er den Sozialisten Jospin überrundete. Er kam in die Stichwahl, die dann aber deutlich von Jacques Chirac gewonnen wurde.
Bei der letzten Präsidentenwahl 2007 gewann Le Pen respektable 10,4 Prozent. Sein politischer Stern ist also noch längst nicht erloschen. Mit dieser wegen ihrer nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Ideologie und Politik eindeutig als faschistisch einzustufenden Partei ist nach wie vor zu rechnen – zumal sie es verstanden hat, auch und gerade in Teilen der französischen Arbeiterschaft Fuß zu fassen, die sich von den afrikanischen und islamischen Einwanderern bedroht sieht. Auf jeden Fall scheint die Geschichte sowohl des Bonapartismus wie des Faschismus, beziehungsweise des bonapartistischen Faschismus in Frankreich nicht abgeschlossen zu sein.