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Der Pfad

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Wieder kam ein Tier aus dem Wald, diesmal war es ein Reh. Zielstrebig lief es über die verwüstete Baustelle vor den Felswänden und folgte schließlich einem Wildpfad, der offenbar auf das Plateau über den Wänden führte. Aufmerksam schaute Wolf ihm nach. Das rotbraune Tier verschwand nach einiger Zeit tatsächlich oben im grauen Felsgewirr. Ein Bussard kreiste im Blau des Himmels, und in den Wäldern begannen die Vögel ihr Morgenlied zu zwitschern. Alles schien eine rechte Naturidylle, wären da nicht die wüsten Spuren der Menschen gewesen, die hier vor vielen Jahren rücksichtslos tiefe Wunden in die Berge und Wälder geschlagen hatten. Und als ob das scheue Waldtier ihm etwas zeigen wollte, machte er sich auf dessen Spur. Vorsichtig durchquerte er das dichte Grün am Hang. Deutlich vor ihm der lockere Boden des Wildpfades. Der Anstieg war nicht übermäßig steil. In leichten Serpentinen wand sich der schmale Steig in die Höhe. Mitunter verlor er sich auf Gesteinsflächen, dann wieder lief er über Moos. Schließlich kam er auf dem Plateau über den Felsen an, etwa 50 Meter unter ihm lag nun der alte Bauplatz und das verschüttete Tor. Wolf sah sich erneut aufmerksam um. Hier oben war die dünne Humusschicht des Waldbodens trocken und mit Gesteinsgrus durchsetzt. Das kleine Plateau, auf dem er stand, war nur spärlich mit gelben Gras und einigen kleinen Kiefern bewachsen. Erst auf der dem Abhang gegenüberliegenden Seite wurde der Wald wieder dichter. Und dort war etwas. Wolf glaubte erst, es wäre das Wild, das dort seinen Weg fortsetzte. Beim Näherkommen sah er aber, daß es sich um einen Trampelpfad handelte, der sich hier als helle Linie durch Moos und Gras in den Wald wand. Der schmale, mitunter kaum sichtbare Pfad war nicht oft begangen. Aber irgend jemand hatte hier seine regelmäßige Spur hinterlassen ... Wie ein Indianer pirschte Wolf nun dem Pfad nach. Vergessen war die Zeit. Er mußte auf jeden Fall den Punkt finden, zu dem dieser ominöse Steig hinführte. ‚Hoffentlich komme ich so auch an das Ziel‘, überlegte er. ‚Nicht, daß ich in falscher Richtung laufe und der Weg sich auf irgendeinem fernen Abhang verliert.‘

Doch er hatte Glück. Nach etwa fünfzehn Minuten vorsichtigem Gehens, wobei er plötzlich und überrascht auf eine betonierte Straße traf, die anscheinend seit Kriegsende nicht mehr befahren war und aus deren breiten Rissen schon dichtes Unkraut sproß, endete der kleine Weg plötzlich. Es war unweit der geheimnisvollen Straße im dichten Wald. Eine Art alter Wasserzisterne erhob sich hier und daneben niedriges, scheinbar verfallenes Gemäuer. Wolf setzte sich auf die zerbröselten Mauersteine, ruhte aus und besah dabei genau die sich vor ihm öffnende kreisrunde Anlage. Sie war etwas über zwei Meter tief und maß sicher an die 20 Meter im Durchmesser. Der Boden war mit Ziegelschutt, verfaulendem Laub und Moos bedeckt. Hier sammelte sich noch immer die Feuchte der umliegenden Wälder. Sicherlich sollte die Zisterne als Wasserspeicher für tief unten im Fels liegenden Bunkersysteme dienen. Das alte Mauerwerk daneben war sicherlich ein Art Pumpenhaus oder Elektrostation gewesen. ‚Dann gab es von hier vielleicht eine Verbindung in die Tiefe‘, überlegte Wolf. Aber dass der geheimnisvolle Pfad hier endete, machte ihn stutzig. Er stand wieder auf und betrachtete den Boden genauer. Inmitten des verbrochenen Mauerwerks am Rande der Zisterne wuchsen schon kräftige Büsche. Das war seltsam. Sie sahen aus, als ob sie schon seit recht langer Zeit hier gediehen. Selbst ein nicht mehr ganz junger Baum sproß aus den Betonbrocken und verdeckte das Innere der eingefallenen Ruine. Überhaupt standen hier einfach zu viele Büsche und Bäume herum, die so schnell nicht nachgewachsen sein konnten. In Wolf kam immer mehr der Verdacht auf, daß diese Vegetation nichts anderes als nachträglich angelegte Tarnung war. Mit Macht zwängte er sich jetzt durch die Büsche. Von dem kleinen Bauwerk am Rand des Wasserbehälters war wirklich nicht mehr viel übrig. Seine ehemaligen Grundmauern ragten noch etwa einen halben Meter aus hohem Gras und Erdhaufen heraus. Überall verstreut Ziegelsteine und Putzreste. Doch während sich sonst schon dichtes Gras und Unkraut durchgehend auf den baulichen Relikten ausgebreitet hatte, lagen hier an einer Stelle in einer unauffälligen und kaum noch als solche zu erkennenden Mauernische die roten Brocken fast blank und frisch am Boden. Wolf sah nun ganz genau hin und glaubte gar, im roten Gesteinsgrus schwache Fußabdrücke zu erkennen. Und die stammten keineswegs von ihm! Sein Herz begann automatisch schneller zu schlagen. Welcher Unbekannte trieb sich hier eventuell noch in seiner Nähe herum? Diese Frage ließ ihm keine Ruhe. Vorsichtig zwängte er sich erneut durch die Büsche nach draußen und suchte den Wald in der Umgebung der Zisterne sorgfältig nach weiteren Hinweisen ab. Doch er konnte nichts feststellen. Halbwegs beruhigt kehrte er zurück und begann jeden einzelnen Ziegelstein umzuwenden, bemüht, dabei so leise wie möglich zu bleiben. Es dauerte daher eine Weile, bis er das Stahlluk fand. Es saß tief unten in einer Wand der Mauernische, die es gut schützte. Wo früher ein stabiler Handhebel zum Öffnen war, befand sich jetzt allerdings nur noch ein gewaltsam abgebrochenes Stahlende. Es gab aber die Öffnung für ein großes Vierkanteisen. Diese zeigte im Inneren keinerlei Rostansätze und sah eher aus, als würde sie noch immer mechanisch beansprucht. Das nutzte Wolf allerdings nichts. Hatte er doch kein Werkzeug dabei, mit dem er dem primitiven aber nichtsdestotrotz stabilen Verschlußmechanismus wirksam hätte zu Leibe rücken können. Leise fluchend setzte er sich nochmals auf die inzwischen von der Sonne leicht angewärmten Schuttbrocken. Ein bunter Falter taumelte um Gräser und das niedergelegte Mauerwerk, und ein Specht begann sein unregelmäßiges Tackern im nahen Wald. Das dunkle Schott in der Nische schien ihn höhnisch anzugrinsen. Und fast körperlich glaubte er zu spüren, daß ringsum meilenweite Einsamkeit herrschte.

Doch nun mußte er vorerst zurück. Die Zeit war bei der Suche hingegangen. Immer mehr machte sich auch der Magen knurrend bemerkbar, nach einer baldigen Mahlzeit verlangend. Das verborgene Schott bekam er eh‘ nicht auf. Da mußte geeignetes Werkzeug herbei. Wolf wandte sich also dem Rückweg zu.

Vorsichtig benutzte er den schmalen Pfad, der ihn schon hierher geführt hatte. Bald überquerte er inmitten der hier ebenfalls dichten Bergwälder wiederum die ominöse alte Straße und erreichte schon etwas außer Atem das Plateau des Steilhangs, unter dem die Baustelle mit dem verschütteten Tor lag. Hier verweilte er kurz hinter verwitterten Felsklippen, spähte nochmals um sich, ehe er seinen Abstieg begann.

Währenddessen rollte in der Tiefe des Steinberges indes die Elektro-Draisine die letzten Meter knirschend über das Gleis des dunklen Tunnels. Hahnfeld hatte auch dieses Mal gebetet, daß dieses einfache aber perfekt konstruierte Fahrzeug ihn nicht im Stich lassen möge. Immerhin überbrückte er damit mühelos eine unterirdische Strecke von nahezu zwei Kilometern. Wieder war ein kleiner Bahnhof aufgetaucht. Der schmale Bahnsteig aus dunklem Beton glänzte feucht im spärlichen Schein der wenigen Lampen, die automatisch aufflammten, als die Draisine über einen Schienenkontakt rollte und anhielt. Kommandant Hahnfeld stieg aus seinem Gefährt und verschwand in einem schmalen Seitengang. Hier lag eine der wenigen streng geheimen Personenschleusen die verblieben waren, nachdem man schon den Zugang zu diesem, im Durchmesser ja relativ kleinen Fahrstollen noch während der Bauphase für immer verschlossen hatte, nachdem alle seine technischen Einrichtungen installiert und erfolgreich auf Funktionstüchtigkeit getestet waren. Zuerst überprüfte Hahnfeld die Arbeit der Außenkamera. Auf dem Kontrollpult, das sich in einer ausgekleideten Nische neben dem Bahnsteig befand, leuchtete langsam ein kleiner Bildschirm auf. Trübe zeigte sich auf ihm die Außenwelt. „Das Objektiv muß wieder gesäubert werden“, brummte Hahnfeld laut. Er erwischte sich in letzter Zeit häufig dabei, seine Gedanken laut in der ihn umgebende Stille zu äußern. „Ich werde doch nicht eines Tages als armer Irrer hier im Berg umherspuken“, meinte er besorgt zu sich selbst. Dann betrachtete er wieder interessiert auf dem Bildschirm das Abbild der Außenwelt. Die sehr gut versteckte Kamera zeigte ihm mit ihrem Weitwinkel die sich jetzt als besseren Steinbruch darstellende ehemalige Baustelle. Kein Lebenszeichen regte sich hier. Auch in den nahen dunklen Waldrändern machte sich keine ungewohnte Bewegung bemerkbar. ‚Wir haben sie wirklich gut verscheucht‘, grinste Hahnfeld in Gedanken. ‚Die Einheimischen werden sich bis in die nächste Generation nicht ohne Zittern in diese Berge wagen‘. Das empfindliche Außenmikrofon, das eben nur das sanfte Säuseln des Windes und das Rauschen der alten Baumkronen übermittelt hatte, ließ plötzlich das Poltern herabstürzender Gesteinsbrocken vernehmen. ‚Wahrscheinlich nur wieder irgendein Tier‘, merkte Hahnfeld auf, blieb aber noch am Bildschirm.

Vorsichtig kletterte Wolf den steinigen Abhang hinab. Er wählte nicht den schmalen Wildpfad als Abstieg, sondern wollte auf kürzestem Weg wieder zum ehemaligen Arbeitsplateau der verlassenen Baustelle gelangen. Fast wäre er hinabgeschlittert, als sich plötzlich das lose Gestein unter seinen Füßen löste. Im letzten Augenblick konnte er sich abfangen und blieb erleichtert auf dem Hosenboden sitzen. Rechts neben ihm glänzte in einer Felsnische plötzlich etwas kurz auf. Vorsichtig schaute er in diese Richtung und glaubte, im Schatten des Gesteins, so etwas wie das Okular eines Fernglases oder Winkelbeobachtungsgerätes gesehen zu haben.

Spielten ihm jetzt seine Nerven einen Streich? Oder da war wirklich eine Art Beobachtungsgerät? Doch wer, in Odins Namen, sollte es heute noch bedienen? Stimmte etwa die Legende, daß die ‚Alten‘ noch immer über ihre Geheimnisse wachten? Möglich war alles. Sicherheitshalber schmiegte er sich dichter an die warmen Felsbrocken und schob sich vorsichtig nach links weg. Er mußte hier keinesfalls vorzeitig entdeckt werden, von wem auch immer. Erst als er wieder durch den Wald die ehemalige Bahntrasse erreicht hatte, fühlte er sich wieder etwas sicherer. Bis dahin kam es ihm aber irgendwie vor, als spüre er einen unheimliche Beobachter in seinem Rücken.

Nach dem er auch den verwilderten Bahndamm hinter sich hatte und den Umschlagplatz inmitten der Bergwälder erreichte, war er froh, sein Auto an dem Ort vorzufinden, an dem er es vor rund zwei Stunden zurückließ. Erneut schaute Wolf sich aufmerksam um. Doch er konnte kein Lebewesen entdecken. Jedoch mußte das hier nichts bedeuten. Die felsigen Hänge ringsum, die dichten Waldungen und das unübersichtliche Lagerplatz- und Bahngelände boten einem heimlichen Beobachter genügend Möglichkeiten, sich unauffindbar zu verbergen. Zurück in der Geborgenheit des Wagens fröstelte es Wolf ein wenig. Ein unbehaglicher Schauer lief ihm über den Rücken, wenn er an die noch bevorstehenden Abenteuer dachte. Mit leise brummendem Motor und verminderter Geschwindigkeit fuhr er dann sein Auto an desolaten Barackenresten und verrottenden Materialstapeln vorbei wieder in Richtung Waldstraße. Erst als er die dunklen Bäume links und rechts des Wagens auftauchten und er die leicht abfallende Bergstraße in Richtung des noch fernen Burgstadts rollte, machte sich wieder so etwas wie ein Gefühl von Sicherheit in ihm breit.

Das Erbe Teil I

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