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ОглавлениеAll you need is love
Markus Brock
In meinem vierten Lebensjahr zogen wir nach Rüppurr. Kaum waren wir hier, trennten sich meine Eltern. Als ich 14 war, starb meine Mutter an einem Gehirntumor, und so kommt es, dass ich meine Kindheitserinnerungen mit niemanden mehr teilen kann, vor allem nicht die Erinnerung an die Jahre vor ihrem Tod. Mein Vater kam dann mit meiner Stiefmutter zu mir nach Karlsruhe, damit ich nicht aus meiner gewohnten Umgebung gerissen wurde. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar. Aber meine Kindheit war mit dem Tod meiner Mutter eigentlich vorbei – weshalb ich von den Jahren davor erzählen will.
Zuerst wohnten wir in der Frauenalber und später in der Spessarter Straße, wo ich – auch als Scheidungskind – eine glückliche Kindheit verbrachte. Meine Mutter war immer für mich da, gab mir unendlich viel Liebe. Ein Urvertrauen, von dem ich heute noch zehre. Aber auch mein Vater besuchte mich regelmäßig von München aus, wo er inzwischen wohnte.
Hier in Karlsruhe begegnete ich aber auch anderen Menschen, die mir so liebevoll entgegenkamen, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe. Schwester Ursula zum Beispiel vom katholischen Kindergarten – Schwester Ursula mit ihren roten Haaren. Dass ich evangelisch war, spielte für die Schwestern keine Rolle. Oder meine Grundschullehrerin, Frau Wentz, die meine ersten Jahre in der Riedschule begleitete. Als ich sie nach Jahren einmal in der Stadt traf, umarmte sie mich so herzlich wie früher, und ich wunderte mich, wie klein sie war.
Bilder fallen mir ein. Ich sehe mich noch als kleinen Jungen mit Gummistiefeln und abwaschbaren Klamotten durch die Alb waten, über schlammige Äcker springen, im Wald bei den sieben Hügeln in der Nähe der Aussiedlerhöfe toben, spielen, Hütten bauen und natürlich mit meinen Freunden auf dem Spielplatz. Da haben wir uns eigentlich jeden Tag getroffen. Haben Tischtennis, Fußball, Hockey oder „Räuber und Gendarm“ gespielt. Das war meine Welt, und sobald ich nach Schulschluss gegessen und meine Hausaufgaben gemacht hatte, zog es mich nach draußen, bis es dunkel wurde. Bei Wind und Wetter waren wir im Freien und wenn ich heim kam, war meine Mutter da, setzte mich in die Badenwanne und machte Abendbrot. Genau so war’s. Auch wenn ich mal nicht völlig verdreckt war!
Sie wollte keinen neuen Partner, und so sprach sie mit mir über alles, was sie bewegte und was in der Welt vor sich ging. So begann auch ich schon früh, mich für alles, was so passierte, zu interessieren.
Am Wochenende hatten wir beide unser festes Ritual. Jeden Samstag gingen wir zusammen in die Stadt. Und jedes Mal ging es zum Spielwarengeschäft Döring. Denn dort gab es alles für meine hölzerne Wildwest-Stadt. Jedes Mal durfte ich mir dann eine neue Cowboy- oder Indianerfigur aussuchen. Nicht mal eine Mark hat das damals gekostet. Dann wurden gemeinsam andere Besorgungen erledigt. Oft auch Kleidung für sie oder mich. Ich bei „Hergard“, meine Mutter in der schicken „Rodier“-Boutique. Vielleicht gehe ich deshalb heute noch – ganz untypisch für Männer – gerne mit meiner Tochter Kleider kaufen. Anschließend ging’s dann in die Pizzeria „Como Lario“ in der Kaiserstraße. Der Besitzer der Pizzeria war ein sehr netter Spanier. Einmal schenkte er mir eine Gourde, eine spanische Trinkflasche aus Leder. Meine Mutter bestellte sich immer eine Pizza oder Pasta mit einem kleinen Glas Rotwein, für mich gab es Pizza und Cola oder Fanta. Dann steckte ich eine Mark in die Musikbox und drückte drei Beatles-Songs. Vor allem ihr Lieblingslied: All you need is love, love, love is all you need ...
Auch heute noch brauche ich Rituale, sicher auch, weil mein Berufsleben so unstet ist. Schon als Kind war ich ein eifriger Freibadbesucher, und noch immer liebe ich das Rüppurrer Freibad, wo ich im Sommer drei- bis viermal die Woche meine dreißig oder vierzig Bahnen ziehe. Vor kurzem habe ich das Rheinhafenbad entdeckt, das sehr lange geöffnet ist, und kann nun meine Saison verlängern. Ich brauche den Sport, um meinen Kopf freizukriegen. „Bei uns tobt ein Bürgerkrieg im Kopf“, hat neulich ein Hirnforscher gesagt und mir geht das wirklich oft so.
Wenn ich im Oberwald in Rüppurr losjogge, dann klärt sich all das angehäufte Wissen, das ich tagsüber in meinen Kopf stopfe und dann in meinen Sendungen „ausspucke“. Es ist so wichtig für mich, meinen Kopf freizukriegen. Nicht denken: loslaufen, schwimmen, Rad fahren.
Mit 18, die Pubertät mit all ihren Problemen lag hinter mir, durfte ich meine Zukunft selbstständig in die Hand nehmen. Ich bereitete mich auf mein Abitur vor. Ich bin meinem Vater sehr dankbar, dass er großes Vertrauen in meine Selbstständigkeit gesetzt hat. Aber auch sonst habe ich immer Menschen getroffen, die mich liebevoll aufgenommen haben. Die Eltern meiner ersten Freundin aus der Eisenlohrstraße, die Familie meiner späteren Freundin, meine Lehrer und Lehrerinnen.
Es war eben nicht selbstverständlich, dass zum Beispiel mein Religionslehrer, Herr Hirth, obwohl wir ganz andere Ansichten über Gott und die Welt hatten, stundenlang mit mir diskutierte, oder Pfarrer Herion, der mich konfirmierte, mir so viel Toleranz entgegenbrachte. Ihnen verdanke ich es, dass ich auf dem Boden der christlichen Werte stehe.
Aber zurück zu meiner Kindheit. Ich war ein guter Schüler, abgesehen von Mathe, Physik und Chemie, wo ich eine richtige Pflaume war. Meine Grundschullehrerin wollte, dass ich mich für das Bismarck-Gymnasium entscheide, aber da war nichts zu machen. Ich wollte in meinem Rüppurr und bei meinen Freunden bleiben. Deshalb ging ich ins Max-Planck-Gymnasium, das heute auch meine Tochter besucht. Mein Lieblingslehrer, Paul Stephany, unterrichtet dort immer noch Politik, die ich am Ende als Leistungskurs gewählt hatte. Auch meine Deutsch- und Geschichtslehrerin Birgit Voigt ist noch da. Beide mag ich noch genauso wie damals.
Ich habe mich immer gerne in der Schule engagiert, war jüngstes Redaktionsmitglied der Schülerzeitung „Granate“, Klassensprecher oder in der SMV.
An unserer Schule herrschte eine sehr liberale, lockere Atmosphäre – dank Direktor Erwin Baurmann. Ich mochte dieses Gymnasium mit seinem guten Geist, das auch Problemkinder aufnahm, die von anderen Schulen geflogen waren und die hier noch eine Chance bekamen. Und ich mag es auch heute noch, als Vater einer Tochter, die dort nun ihren Weg machen darf.
Paul, mein Politiklehrer, mit dem ich heute noch gerne schwatze (s. o.!), sagte mal zu mir: „Das wusste ich, dass Du nie einen normalen Beruf haben wirst!“ Stimmt, ich wollte immer Musiker werden – oder eben Journalist. Weil ich gerne auf der Bühne stehe, macht mir das auch heute noch großen Spaß: als Fernseh-Moderator beim SWR.
Schon als Schüler spielte ich in verschiedenen Bands, „Pan Tau“ und „Inquest“ waren recht bekannt. Ich machte Jazz, Rock und Pop, spielte Bass und sang, aber ein großer Solosänger war ich nie. Ich bin ein ausgesprochener Individualist, aber gleichzeitig auch ein begeisterter Team-Worker, noch ein Grund, warum mir Fernsehen so viel Freude macht.
Nach dem Abitur habe ich Wirtschaftswissenschaften studiert. Drei Wochen lang. Denn es war einfach viel zu viel Mathematik, die ja nie mein Ding war. Also habe ich umgesattelt auf Soziologie und Politische Wissenschaft.
Heute lebe ich mit meiner Familie immer noch in Rüppurr und fühle mich in Karlsruhe sehr wohl.
Schon meine erste Erfahrung mit der Stadt war positiv. In der Zeit davor wohnten wir im Ruhrgebiet, das damals wirklich noch der berüchtigte Kohlenpott war. Ich hatte einen üblen Pseudo-Krupp-Husten. Als wir, ich war damals vier Jahre alt, nach Karlsruhe zogen, war dieser Husten nach nur drei Wochen verschwunden. Für immer. Und ich bin heilfroh, dass ich in der wärmsten Stadt Deutschlands lebe. Schade nur, dass der Sommer hier nicht 365 Tage dauert!
Auch wenn die Stadt momentan so viele Baustellen hat: Ich stehe voll hinter der Kombilösung, die uns endlich eine richtige Fußgängerzone bescheren wird. Bis dahin bleibt mir immer noch mein Fahrrad, da umfahre ich einfach jede Baustelle.
Barfuß durch den Sommer
Wolfram Fleischhauer
Ich bin in einer Stadt aufgewachsen, aber die frühsten Erinnerungen haben alle mit der Natur zu tun, vor allem mit dem Wald. Wir wohnten in der Oststadt, im Klosterweg. Wenn ich aus dem Fenster schaute, war alles grün. Um das Haus herum gab es überall noch Gärten und Wiesen, gegenüber lockte der immense Hardtwald, in den sich noch keine Universitätsgebäude, Stahlbetoninstitute und Parkplätze hineingefressen hatten.
Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, aber ich meine, ich ging den ganzen Sommer über barfuß. Ich weiß noch, dass ich im Frühling jeden Morgen nach dem Aufstehen auf den Balkon stürzte um zu schauen, ob das Thermometer schon 15 Grad anzeigte – denn nur dann bekam ich die Erlaubnis, in kurzen Hosen zur Schule zu gehen. Nachmittags war ich so viel wie möglich draußen, auf dem Singer-Gelände, wo heute das Fraunhofer Institut steht, oder im Wald gegenüber.
Wir lebten zu fünft in einer Dreizimmerwohnung. Zwar kamen eine eigene und später auch noch eine angemietete Mansarde hinzu, in die man ausweichen konnte, aber eng war es trotzdem.
Mein Vater war Beamter beim Hochbauamt, meine Mutter tat, was man heute wohl als Multitasking bezeichnen würde: Haushalt, Kinder und wechselnde Nebenjobs. Besonders gut erinnere ich mich an Tupperparties, zu denen ich oft mitgenommen wurde. „Die schöne Müllerin“ und „Das doppelte Lottchen“ waren fester Bestandteil meines Kindervokabulars. Am interessantesten war allerdings das Chaos, das im Wohnzimmer beim Umpacken der Bestellungen entstand. Meinem jüngeren Bruder und mir ging es dabei vor allem darum, leere Kartons für den Hüttenbau im Kinderzimmer abzustauben. Meine ältere Schwester war über dieses Stadium damals schon hinaus.
Ich bin zwar evangelisch getauft, da jedoch mein bester Freund katholisch war und der nächstgelegene Kindergarten auch, besuchte ich den Kindergarten der Bernhardus-Gemeinde. Vor ein paar Jahren habe ich alte Kinderzeichnungen aus dieser Zeit wiedergefunden, die Hochzeit zu Kanaan, von der ich offenbar damals keine rechte Vorstellung hatte. Eine Braut ist jedenfalls nirgendwo zu sehen, und was der nach offizieller Überlieferung Dauer-Single Jesus auf dieser Hochzeit verloren hatte, geht aus der Zeichnung auch nicht hervor. Haben Kinder vielleicht ein Gespür für Ungereimtheiten in Geschichten? Als ich Jahre später herausfand, dass die ganze Kanaan-Episode gefälscht ist (tatsächlich hat Jesus dort geheiratet), fiel mir jedenfalls die Zeichnung wieder ein.
Es fällt mir heute schwer, es zu glauben, aber soweit ich mich erinnern kann, ging ich die nicht unbeträchtliche Strecke zum Kindergarten schon als Fünfjähriger alleine. Und auch der Weg zur Tulla-Grundschule, die ich ab 1967 besuchte, fand nach einer kurzen Eingewöhnungszeit ohne Begleitung von Erwachsenen statt. Heute unvorstellbar, durchquerte ich dabei mit anderen ABC-Schützen das Gelände um den Hauptfriedhof und kreuzte Straßen, auf denen auch damals schon Autos und Straßenbahnen fuhren. Mein eigener Sohn ist heute acht Jahre alt und ich könnte mir nicht vorstellen, den verträumten Drittklässler an einem Novembermorgen auf einen solchen Weg zu schicken. Ist die Welt so viel gefährlicher geworden? Oder wir Erwachsene so viel ängstlicher? Immerhin – und das werde ich nie vergessen – wurde eine meiner Mitschülerinnen damals auf dem Schulweg totgefahren. Sie hieß Romei Stiefel. Ich kann mich noch gut an sie erinnern: Blond, mit einem fahrigen Blick aus blauen Augen und immer Resten von Schokoladenkeksen um den Mund.
Ich verliebte mich auf Anhieb in meine Lehrerin. Sie hieß Frau Schärf und hatte lange, schwarze Haare. Ich wollte ihr gleich am zweiten Schultag Blumen schenken, was meine Mutter allerdings zu verhindern wusste.
Ab der zweiten Klasse unterrichtete mich die strenge Frau Holler. Der Anklang an die Märchenfigur ist durchaus treffend. Sie steckte mich schon bald – wohl nicht ganz zu Unrecht – in die Kategorie Pechmarie (Spätentwickler, eher faul und ein wenig aufmüpfig). Meine Schulkarriere bis zur zehnten Klasse war ab da mehr oder weniger vorgezeichnet.
Dass ich es auf das Gymnasium schaffte und bis zur zehnten Klasse durchhielt, verdanke ich vor allem dem Engagement meiner Eltern. Ausbildung hatte bei uns einen sehr hohen Stellenwert, was sicher auch daran lag, dass meine Eltern diesbezüglich kriegsbedingt kein großes Glück gehabt hatten. Meine Mutter stammte aus einer Künstlerfamilie mit stark bohèmehaften Zügen, mein Vater war der Sohn eines Berufssoldaten. Sowohl der Künstler als der Soldat sind ja eigentlich lebensuntüchtig, weshalb sie sich in die Illusion von der absoluten Freiheit oder die Schimäre einer absoluten Ordnung flüchten. Ich spüre diesen Widerspruch oft in mir, das Leichte, Oberflächliche, Künstlerische und das Starre, Sicherheitsorientierte, Perfektionistische. Manchmal muss ich lachen, wenn ich mir anschaue, was aus dieser Mischung geworden ist: ein EU-Beamter, der Romane schreibt.
An meine Gymnasialzeit denke ich nicht gern zurück. Sicher lag es nicht nur an der Schule, dass ich mich so schwer tat, aber das Kant-Gymnasium, welches ich ab 1971 besuchte, hat schulpädagogisch sicher nicht Stadtgeschichte geschrieben. Wer dort mitkam, kam mit, wer nicht, musste eben sehen, wo er blieb. Mir wurde sehr rasch nahe gelegt, doch lieber auf die Realschule oder Hauptschule zu wechseln und so schnell wie möglich irgendeine Lehre zu machen. Mein Lateinlehrer schlug ernsthaft eine Fleischerlehre vor, da ich ja schon den Namen hatte. Mit Nachhilfe schaffte ich zwar immer wieder die Versetzung, aber in der Quarta resignierte ich und schlug nach einem Hagel von Vierern und Fünfern im ersten Schulhalbjahr selbst vor, eine Ehrenrunde zu drehen. Sogar in meinen Lieblingsfächern Deutsch und Englisch häuften sich die Misserfolge. Unter einem Aufsatz über ein Gewittererlebnis, bei dem ich mich sprachlich wirklich ins Zeug gelegt hatte, stand nur: Völlig unrealistisch. Vier minus.
Sitzenbleiben war die schlimmste Erfahrung meiner Jugend. Die Trennung von der alten Klassengemeinschaft, in der ich mich sehr wohl gefühlt hatte, machte mir enorm zu schaffen. Nach Weihnachten plötzlich in eine mir völlig fremde Klasse zu gehen und die gewohnten Schulfreunde nicht mehr um mich zu haben, war entsetzlich. Ich fühlte mich frustriert und gedemütigt und sah wenig Veranlassung, meine Einstellung zur Schule oder mein Verhalten zu ändern. Ich verlor meine Freunde, ein Schuljahr, und meine Leistungen blieben gleich schlecht.
Ausgleich von der verhassten Schule fand ich vor allem beim Sport und in Jugendorganisationen. Da war vor allem die Jungschar, eine Jugendgruppe der Lutherkirche, die von zwei jungen Männern namens Frank und Harald in den Kindergartenräumen in der Werthmannstraße geleitet wurde. Vor allem Frank hatte es mir damals angetan. Er sah aus wie Che Guevara, rauchte Gitanes oder Gauloises und hatte Antworten auf jedes Weltproblem, von Vietnam bis zu Martin Luther King. Wir sangen, spielten, diskutierten über Verhütung und ob es einen Gott gibt, fuhren ins Zeltlager, ich schrieb meine ersten Lieder zur Gitarre und natürlich gab es regelmäßig Steh-Blues-Partys, um Geist und Sinnlichkeit gleichermaßen zu entwickeln. Das war eine tolle Gemeinschaft, und mit Uschi, meiner ersten großen Liebe von damals (zwei Köpfe größer als ich, was aber nicht störte), habe ich heute noch Kontakt.
Fast noch wichtiger als die Jungschar war der Sport. Ich war ein ganz guter Fußballspieler und nicht selten spielentscheidend als Kreisläufer in der Jugendhandballmannschaft des MTV. Zwar ist es uns nie gelungen, Beiertheim oder Rint-heim zu schlagen, aber wir schafften es doch mehrmals in die Nähe der Kreismeisterschaft. Dann wurde ich Rettungsschwimmer. Ich trat in die DLRG ein und trainierte mittwochs im Tulla- und freitags im Vierordtbad, bis ich den Rettungsschwimmerschein in der Tasche hatte. Damit war auch entschieden, wo ich künftig die Sommerferien verbringen würde: im Rheinstrandbad Rappenwört. Glücklicherweise bekam kein Badegast einen Herzinfarkt, während ich dort am Becken stand, die Wellenmaschine ein- und ausschalten durfte und mit DLRG-Kapuzenpulli und Trillerpfeife den Bademeister gab.
Abends, wenn das Bad sich leerte, zogen wir DLRGler uns zunächst in das DLRG-Häuschen am Rhein zurück. Später setzten wir mit einem immer löchrigeren Ruderboot über einen Rheinseitenarm zu unserem Zeltlager am Rheinufer über. Zwei oder drei Sommer habe ich dort draußen verbracht, mit Lagerfeuer, Gitarrengesang, Jugendliebeleien und zahllosen Schnakenstichen.
Ich war also ganz gut integriert. Und doch eckte ich bisweilen an, was an einem ganz merkwürdigen Umstand lag: Ich konnte einfach kein echtes Karlsruherisch sprechen. Meine Mutter stammt aus Kehl, mein Vater aus Kassel. Zwar sprachen wir alle mit süddeutscher, badischer Färbung. Aber der spezifische Tonfall und das spezielle karlsruherische Vokabular waren bei uns nicht in Gebrauch. Wir benutzten Plastiktüten und keine Gummiguck oder wie immer das heißt. Auch aßen wir Kartoffeln und keine Grumbiere. Sich einem Dialekt oder der vorherrschenden Umgangsprache zu verweigern, kann heikel sein. Manche Altersgenossen fühlten sich von meiner Art zu sprechen provoziert. Einmal brachte mir ein amüsiertes Kichern über die Ausdruckweise eines Mitfußballers sogar eine dicke Backe ein. Manche hielten mich für hochnäsig, was nicht der Fall war. Ich kam mir nicht als etwas Besseres vor. Aber anders fühlte ich mich schon. Meine Heimatsprache war mir einfach fremd.
Ein Gutes hatte mein Sitzenbleiben gehabt: Meine neue Klassenlehrerin, Frau Kuhn, bewies nicht nur ein Gespür für meinen schulischen Kummer, sondern sie hatte auch eine Lösung parat: ein Jahr ins Ausland. Sie steckte mir eine Broschüre des American Field Service zu. Ein Jahr in Amerika zur Schule gehen! Ich war sofort Feuer und Flamme, bewarb mich und tat etwas, was ich bisher noch nie getan hatte: Ich strengte mich in der Schule an, denn Voraussetzung für das Auslandsjahr war nicht nur beim AFS angenommen zu werden, sondern die Versetzung in die elfte Klasse.
Dieser Text soll von Karlsruhe handeln, deshalb kann ich das Jahr in den USA nur streifen. Aber ich frage mich oft, was aus mir geworden wäre, wenn ich diese Chance nicht bekommen hätte. Hätte ich überhaupt das Abitur geschafft? Hätte ich die Reife und das Selbstvertrauen gewonnen, um das Leben zu leben, in dem ich mich heute wiederfinde? Auf jeden Fall hätte es mehr schmerzhafte Umwege gegeben. Vielleicht kann ich es auf eine einfache Formel bringen: Ich bin in Karlsruhe aufgewachsen, aber erwachsen geworden bin ich in den USA. Und das gleich zweimal. Einmal als Austauschschüler 1978/79 und dann noch einmal während des Studiums, als mir ein zweites Amerikajahr, diesmal an einer Uni in Kalifornien, in einem ganz anderen Zusammenhang erneut sehr geholfen hat, meine Orientierung zu finden. Mein vorletzter Roman, „Der gestohlene Abend“, erzählt diese Geschichte, in die mehr autobiografische Details eingeflossen sind als in meine sonstigen Bücher.
Mein Schuljahr an einer High School in Ohio wurde in Deutschland nicht anerkannt und so musste ich nach meiner Rückkehr noch drei weitere lange Jahre die Schulbank drücken. An das Kant-Gymnasium, die Stätte zahlloser Niederlagen und Frustrationen, wollte ich keinesfalls zurückkehren. In der Eile war nur das Wirtschaftsgymnasium bereit, mich aufzunehmen, und so verbrachte ich ein ziemlich merkwürdiges Schuljahr am Friedrich-Liszt-Gymnasium. Ich war plötzlich umringt von angehenden Bank- und Versicherungskaufmännern und -frauen, von zukünftigen Betriebswirten und Kaufleuten aller Art. Wie in Trance folgte ich diesen Kursen über VWL, Buchhaltung und Betriebswirtschaft. Meine Interessen hatten sich in den USA komplett auf Geisteswissenschaften und Sprachen verlagert, entsprechend verzweifelt war ich, als ich nach einem dreiviertel Jahr von Buchungssätzen („Vorsteuer an Kasse“) und Kontenrahmen die Nase gestrichen voll hatte, zugleich jedoch kein Rückweg an ein normales Gymnasium möglich schien. Rettung erschien in Gestalt von Frau Wegel, der damaligen Direktorin des Fichte-Gymnasiums, die im Schulgesetz nachschlug und feststellte, dass mein Fall zwar nirgendwo vorgesehen, aber auch nicht ausdrücklich verboten war. So konnte ich die letzten zwei Schuljahre doch wieder an einem normalen Gymnasium verbringen, statt Buchhaltung Leistungskurse in Englisch und Geschichte belegen und ein Allgemeinabitur machen.
Angesichts dieser bizarren Schulkarriere wird man mir nachsehen, dass ich die Bildungsdiskussion in Deutschland nur mit Kopfschütteln verfolge. Wenn ich etwas zu sagen hätte, so würde ich das Allgemeinabitur für alle als Staatsziel in die Verfassung und den Bundeshaushalt schreiben. Es mangelt nur selten an Können, sondern fast immer an Förderung und Motivation. Es gehört zur Perfidie und Scheinheiligkeit der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie alles tut, um 80 Prozent der Bevölkerung vom Abitur auszuschließen, anstatt alles daran zu setzen, den wichtigsten Rohstoff, den wir haben, auch aus den zunächst unzugänglichen Seelen und Köpfen hervor zu fördern.
Die letzten beiden Jahre in Karlsruhe waren wohl meine glücklichsten. Die Schule lief wie von selbst, ein jahrelanger Albdruck war einfach abgefallen. Neue tiefe Freundschaften entstanden zwar nicht mehr, dazu ergab sich durch die vielen Schulwechsel keine Gelegenheit mehr. Aber da meine Abnabelung sich im Grunde schon in den USA vollzogen hatte, litt ich darunter nicht und fühlte mich auch unter Menschen wohl, mit denen ich nur locker befreundet war. Dass ich Karlsruhe sofort nach dem Abitur verlassen würde, wusste ich schon, und so genoss ich es jetzt. Das mag seltsam klingen und soll keinesfalls gegen die Stadt gerichtet sein. Aber es gibt eben Menschen, die Wurzeln benötigen um zu wachsen. Andere brauchen Flügel. Und dazu gehöre ich. Ich war plötzlich ein Einserschüler mit relativ viel Freizeit. Ich war sehr aktiv im American Field Service, dem ich sehr viel verdanke. Ich komponierte viel, vertonte altenglische Balladen und besuchte im letzten Schuljahr die ersten Literaturseminare bei Professor Knopf, weil es mir in der Schule nun allmählich zu langsam ging. Ich schrieb meine ersten Kurzgeschichten und wusste, dass ich mir in jedem Fall einen Beruf suchen würde, wo man für das Lesen bezahlt wird.
Nach dem Abitur wohnte ich sechs Monate lang in einer Wohngemeinschaft. Die Adresse, Kriegsstraße 176, war damals wohl in der halben Stadt bekannt. Die Feste waren super, die Gespräche wundervoll, die Tagesabläufe voller Zufälle und interessanter Begegnungen. Allein der einwöchige Spüldienst, der unweigerlich alle fünf Wochen drohte, konnte einem die Stimmung verderben. Im Grunde waren meine letzten sechs Monate in Karlsruhe eine ununterbrochene Party, bis ich mich an einem Januarmorgen 1983 plötzlich in einem Nachtzug nach Salamanca (nein, nicht nach Lissabon!) wiederfand, wo ich hinfuhr, um Spanisch zu lernen.
Seither habe ich nie wieder in Karlsruhe gelebt. Natürlich kam ich anfänglich oft zu Besuch, aber der Abschied war dennoch endgültig gewesen.
Wenn ich heute zurückkomme, dann immer gern. Ich liebe den Schlossgarten und die vielen Fahrradwege und die Art und Weise, wie die Stadt und der Wald ineinander übergehen. Wenn ich von Frankfurt mit dem Auto oder dem Zug komme, freue ich mich immer, wenn ich endlich den Turmberg sehe und das an den Hang geschmiegte Durlach. Wenn ich es einrichten kann, gehe ich in die Schauburg oder ins Staatstheater, aber ich bin zu selten und meist auch zu kurz da, um die Stadt neu zu erkunden. Mit dem Dialekt habe ich mich längst versöhnt. Ich liebe die Gedichte von Harald Hurst, und wenn ich in Berlin jemanden auf der Straße badisch reden höre, bekomme ich immer heimatliche Gefühle.
Nur mit dem merkwürdigen Umstand, dass ich ausgerechnet in Karlsruhe für meine Bücher immer die schlimmsten Verrisse ernte, habe ich mich noch nicht so ganz abgefunden. Aber wahrscheinlich muss das so sein. Ja, es ist wohl ein untrügliches Zeichen, dass ich eben wirklich ein Karlsruher bin. Denn wie sagt man so schön auf der anderen Seite des Rheins: Nul n’est prophète en son pays.
Brüssel, im Herbst 2011