Читать книгу Hopfenduft und Butterbrezel - Wolfram Fleischhauer - Страница 6
ОглавлениеDer Sohn des
Widerstandskämpfers
Klaus Frank
Es ist immer wieder schön für mich, nach Karlsruhe zurück- zukehren, in die Stadt, wo ich geboren wurde und meine Kindheit und Jugend verbrachte. Ein echter Badener zu sein, darauf bin ich stolz.
Am 4. Oktober 1935 wurde ich als drittes Kind des Rechtsanwalts Reinhold Frank und seiner Ehefrau Annemarie in der Landesfrauenklinik in der Kaiserallee geboren. Mit kurzen Ausnahmen lebte ich mit meinen drei Geschwistern in der Weststadt, in der Maxaustraße Nr. 30, die heute Ludwig-Marum-Straße heißt. Zu diesem Haus gehörte ein großer Garten, der nach dem Krieg durch den Bau eines Mietshauses verloren ging. 1938 kam meine jüngste Schwester zur Welt und die Familie blieb zusammen, bis das Studium uns an einen anderen Ort verschlug. Dennoch blieb die Ludwig-Marum-Straße unser Anziehungspunkt, bis unsere Mutter 1975 zurück in die Südstadt zog, wo sie aufgewachsen war.
Meine Erinnerungen gehen zurück in eine sehr behütete Kindheit, in eine häusliche Geborgenheit, zu der auch unsere Oma, die Mutter unserer Mutter, wie selbstverständlich dazu gehörte.
Es folgte der Besuch des Kindergartens im „Herz-Jesu-Stift“, der von Ordensschwestern geleitet wurde und in dessen Räumen nach der Zerstörung des Gotteshauses 1944 Gottesdienste gefeiert wurden. 1946 wich Pfarrer Carl Degler in das Rheingold-Filmtheater aus, ein Ort, der heute ein bekanntes Nachtlokal ist.
Die ersten Schuljahre verbrachte ich in der Gutenbergschule, bis sie 1943 zerstört wurde. 1939 hatte der Krieg begonnen, was uns Kindern vor allem dadurch bewusst wurde, dass oft die Alarmsirenen ertönten und wir im Keller durchhalten mussten, bis wir wieder auf die Straße durften.
Es war das Jahr 1943, als der abgesetzte Staatspräsident Eugen Bolz bei uns Unterschlupf fand. Ich erinnere mich an einen kleinen, schmalen Mann, der mit uns Kindern unter dem Namen „Dr. Müller“ regelmäßig auf dem Flugplatz spazieren ging. Bolz musste fliehen und unser Vater hatte ihn gebeten, zu uns zu kommen. Der Flugplatz lag hinter dem Städtischen Krankenhaus und von hier aus sahen wir, wie die Kriegsbomber aufstiegen in Richtung Westen. Wie viele von ihnen wohl wieder zurückgekommen sind?
Den ersten großen Luftangriff erlebten wir am 27. September 1944 im Keller unseres Hauses, ohne Licht und voller Angst. Unser Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits in politischer Haft, weil er sich bereit erklärt hatte, politische Verantwortung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu übernehmen. Er sollte als Staatspräsident von Baden in politischer Verantwortung stehen, ein Amt, das dann Leo Wohleb überantwortet wurde, ein beredter Streiter für die badische Sache, ein bewährter Lehrer, der aus dem Stegreif Deutsch, Latein und Griechisch sprechen konnte.
Nach dem gescheiterten Attentat von 20. Juli 1944 wurde unser Vater noch in der Nacht von zwei „Freunden“ aus dem Bett geholt und, wie ein Verbrecher, mit Handschellen abgeführt. Wir sahen ihn nie wieder.
Da es sich herumgesprochen hatte, dass unser Vater zum Widerstand gehörte, war es fast selbstverständlich, dass manche Personen uns ab da mieden, auch die Kinder auf der Straße.
Nach dem ersten Großangriff wurde uns geraten, Karlsruhe zu verlassen. So fuhren wir Kinder mit unserer Mutter auf fast abenteuerlichen Wegen in die Heimat unseres Vaters nach Oberschwaben, in die kleine Ortschaft Bachhaupten bei Ostrach, und besuchten die Schule im Nachbarort Tafertsweiler. Alle Klassen wurden in einem Raum unterrichtet. Für uns Stadtkinder eine völlig fremde Welt mit vielen Tieren, Landwirtschaft und ohne Angst vor Fliegeralarm. Später erfuhren wir, dass unter unseren Mitschülern auch Karl Lehmann war, der später Professor und Kardinal wurde.
Als wir nach dem zweiten Großangriff auf Karlsruhe, am 4. Dezember 1944, der vor allem der Weststadt galt, keine Nachrichten mehr von zu Hause bekamen, entschloss sich unsere Mutter, die abenteuerliche Reise zurück nach Karlsruhe zu wagen. Nach vielen Reiseunterbrechungen kamen wir an und stellten fest, dass unser Haus zwar beschädigt war, es aber keine Toten gegeben hatte.
Schwer getroffen war die Kirche St. Peter und Paul und im Pfarrhaus waren drei Geistliche umgekommen.
Wir waren in der Heimat, doch der Krieg war noch nicht zu Ende. Immer wieder sahen wir feindliche Flieger und abgeschossene Flugzeuge. Schulunterricht gab es keinen, denn es war ja alles zerstört. Wie hatte der große Diktator gesagt: „Geben Sie mir zehn Jahre Zeit, und Sie werden Deutschland nicht mehr wiedererkennen.“
Es stimmte: Ganz Deutschland lag in Trümmern. Zu Beginn des Jahres 1945 leerte sich auch Karlsruhe. Es wurde sehr einsam um uns herum und das Leben vollzog sich eng gedrängt in den Kellerräumen. Das Ende des Krieges bedeutete für uns zunächst, wieder angstfrei auf die Straße gehen zu können. Den ersten Marokkaner sahen wir vom Kellerfenster aus, wie er mit dem Fahrrad an uns vorbeifuhr. Natürlich hatte der Volkssturm zur letzten Verteidigung seine Kanonen ringsum aufgestellt, die ein gefährliches Pulver enthielten, das meinen Bruder und seinen Freund lebensgefährlich verletzte.
Nach und nach bekam unser Haus wieder Fenster und die Marokkaner zogen in die oberen Räume, wilde Burschen, die von Hygiene keine Ahnung hatten. Inzwischen hatte auch in den immer noch zerstörten Räumen die Schule wieder begonnen und mein Weg führte mich ins Bismarck-Gymnasium, das auch immer noch halb zerstört war. Der Unterricht fand in muffigen Kellerräumen statt, die von Kanonenöfen beheizt wurden. Es gab weder Bücher noch Hefte und kaum Schreibzeug, aber wir hatten das Glück, Lehrern zu begegnen, die uns überzeugten. Aber es gab auch solche, die ihre Nazivergangenheit nicht verleugnen konnten.
Es muss das Jahr 1947 gewesen sein, als Schweizer Familien sich anboten, den Kindern von Widerstandskämpfern in der Schweiz eine Erholung zu schenken und so durften wir Geschwister in die Schweiz fahren, allerdings mit unterschiedlichen Zielen: nach Bern, Luzern und Celerina. Ein Aufenthalt, der drei Monate dauerte. Vorher waren wir auf Veranlassung von Erzbischof Dr. Konrad Gröber für vier Wochen in Friedenweiler untergekommen, damit auch unsere Mutter eine Auszeit für sich nehmen konnte.
Etwa in diese Zeit fällt auch der Besuch des ehemaligen Zentrumspolitikers und deutschen Reichskanzlers Josef Wirth in unserem Hause, eine Begegnung, die uns Kindern deswegen im Gedächtnis haften blieb, weil er uns etwas sehr Seltenes mitbrachte: Schokolade! Karlsruhe war, wie andere Städte, übersät von Trümmern und Ruinen. Die Aufräumungsarbeiten zogen sich lange hin und wurden unterstützt vom AAK-Bähnle (Adolf Alte Kämpfer), das auch an unserem Hause vorbeifuhr direkt zum Gymnasium, was uns zuweilen reizte, auf dem Puffer mitzufahren, was zwar verboten, aber schön war.
In den ersten Schuljahren nach dem Zusammenbruch gab es täglich die Schülerspeisung, ein Geschenk des amerikanischen Präsidenten Hoover und der Amerikaner. Es war nicht immer appetitlich, aber es stillte den Hunger, zumal die Lebensmittelkarten nur das Notwendigste garantierten.
Im Februar 1945 kam für mich die Zeit der Ersten Kommunion, auf die mich Pfarrer Dr. Richard Doldt vorbereitete, ein Priester, den mein Vater als Anwalt aus den Händen der Gestapo gerettet hatte. Er kam zurück nach St. Bonifaz, wo einige Leute lautstark zum Ausdruck brachten, dass ein Priester, der kein Nationalsozialist ist, im Grunde untragbar sei. Ich war damals der einzige Erstkommunikant und der Gottesdienst wurde im Herz-Jesu-Stift gefeiert. Damals wussten wir noch nicht, dass unser Vater bereits tot war.
Bei dem Angriff am 4. Dezember 1944 wurde die Geistlichkeit von Sankt Peter und Paul getötet und da ich Ministrant war, konnte ich bei der Beerdigung auf dem Karlsruher Hauptfriedhof ministrieren. Man hat von den Toten nicht mehr viel gefunden. Noch heute stehe ich manchmal vor ihren Gräbern.
Unsere Mutter legte großen Wert darauf, dass wir neben dem Schulunterricht im Konservatorium in der Jahnstraße Unterricht bekamen. Da ich immer ein Freund der Orgel war und heute noch bin und auf alle Fälle spielen wollte, musste ich dort vor Direktor Rumpf eine Prüfung ablegen und ich spielte ihm auf dem wohltemperierten Klavier etwas von Bach vor. Die Prüfung habe ich zwar bestanden, aber aus irgendwelchen Gründen kam es nicht zum Orgelspielen.
Während unserer Schulzeit hat unser Musiklehrer Erich Werner den Oratorien-Chor gegründet, dem ich beitrat und bis zum Beginn meines Studiums angehörte. Bis heute sind mir die Aufführungen des Stabat Mater von Dvorak, der Schlusschor der 9. Symphonie von Beethoven, seine Missa Solemnis und das Requiem von Giuseppe Verdi in Erinnerung geblieben. Als Schüler konnten wir für 50 Pfennig am Sonntagmorgen die jeweiligen Symphoniekonzerte als Vorkonzert der Badischen Staatskapelle besuchen. So erlebte ich unter anderem die Dirigenten Otto Mazerath und Alexander Krannhals.
Ausflüge mit der Klasse gingen nach Straßburg ins Europaparlament und zu einer schneereichen Freizeit in die Nähe des Feldbergs. Unsere Klassengemeinschaft blieb neun Jahre lang zusammen und wird heute noch gepflegt durch jährliche Treffen und Exkursionen, was allen Freude macht.
Als ich nach dem Krieg ein zusammengebasteltes Fahrrad bekam, konnte ich Karlsruhe in alle Richtungen erkunden. Es war sehr viel zerstört, und wenn ich heute da und dort in meiner Stadt unterwegs bin, gehen meine Gedanken zurück: Das war einmal alles zerstört!
Ich habe Karlsruhe nach dem Krieg zunächst ohne alle Aufgeregtheiten erlebt, selbst wenn einmal ein politischer Strauß ausgefochten werden musste. Zum Beispiel die Entscheidung für den Südweststaat oder die Wahl zum Oberbürgermeister mit den Kandidaten Günter Klotz und Franz Gurk. Obwohl ich auch andere Wahlveranstaltungen besuchte, kann ich mich nicht an persönliche Beleidigungen und billige Auseinandersetzungen ohne Niveau erinnern.
1945 verließ ich Karlsruhe, um in Freiburg Theologie zu studieren. Aber immer wieder in den Ferien bin ich nach Karlsruhe zurückgekehrt, um für das Weiterstudium Geld zu verdienen, am Finanzamt in der Moltkestraße und später am Zirkel. Die Arbeit in der KLV, die miserabel bezahlt wurde, ist mir in schlechter Erinnerung geblieben.
Während meines Studiums wechselte ich kurz nach Münster in Westfalen, um dann schließlich im Jahr 1961 in Freiburg die Priesterweihe zu empfangen. Damit begann mein aktives Berufsleben.
Im Jahre 2005 bin ich nach meiner Pensionierung wieder in meiner Heimatstadt Karlsruhe sesshaft geworden, die ihren Reiz für mich bis heute noch nicht verloren hat. Ich weiß, dass es Karlsruhe schwer hat gegenüber Stuttgart und wenn ich irgendwas bedauere, ist es die Tatsache, dass das alte Hoftheater, in dem ich noch „Hänsel und Gretel“ und die „Puppenfee“ als Kind erleben durfte, seinen schönen Platz am Schloss verloren hat.
Heute ist Karlsruhe wieder aufgebaut und eine begehrte Metropole und wird regiert von Oberbürgermeistern, die treu zu ihrer Stadt stehen. Dass es in meiner Heimatstadt eine große Straße gibt, die den Namen meines Vaters trägt und auf dem Karlsruher Hauptfriedhof ihm zu Ehren eine würdige Gedenkstätte geschaffen wurde, bindet mich noch intensiver an Karlsruhe.
Für mich ist es selbstverständlich, dass auch ich auf diesem Friedhof mit der wunderbaren Atmosphäre, wo auch unsere Familienangehörigen ruhen, meine letzte Ruhestätte haben werde. – So sind und bleiben wir in Karlsruhe weiter beisammen.