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Der Umsteiger
ОглавлениеRobert Lukats Wohnung lag für seine Zwecke recht günstig. Er wohnte nur wenige Meter vom Bahnhof Großburgwedel entfernt. Von dort aus konnte er innerhalb einer halben Stunde Hannover erreichen. Das war der tägliche Ausgangspunkt für seine Unternehmungen. Leider hatte der „Metronom“, der Nahverkehrszug nach Hannover, selten Verspätungen. Das war bedauerlich, doch von Hannover aus ergaben sich viele Möglichkeiten. Als ehemaliger Lokomotivführer kannte er sich bestens aus. Er hatte fast alle Fahrpläne im Kopf – oder zumindest auf seinem Tablet – und konnte deshalb schnell reagieren.
Seit drei Jahre war er im Ruhestand, doch die kümmerliche Rente, die er trotz seines langen Arbeitslebens bekam, reichte vorne und hinten nicht. Seitdem es die Einheitsrente gab – angeblich aus Gründen der Gleichbehandlung – entsprach diese nur noch der Höhe des Sozialsatzes. Für alle! Ohne Rücksicht auf die Höhe der einbezahlten Rentenbeiträge oder die Anzahl der Arbeitsjahre. Das war schon seit dem Beginn seiner „Verrentung“ so. Was für ein unsinniges Wort! Man könnte genauso gut „Verarmung“ sagen.
Seit dem Tod seiner Elfriede lebte er allein. Er bekam noch nicht einmal Witwerrente. Die hatte man ebenfalls abgeschafft. Mit seinem Sohn Jan hatte er sich schon vor etwa acht Jahren verkracht. Es war wirklich ein nichtiger Anlass gewesen. Lukat konnte sich gar nicht mehr erinnern, worum es ging, doch keiner wollte nachgeben. Schließlich war Jan ausgezogen. Elfriede hatte noch eine Zeit lang versucht, den Kontakt aufrecht zu erhalten, aber Robert wollte davon nichts hören.
Solange er noch als Lokomotivführer gearbeitet hatte, machte ihm das nichts aus. Er war ja täglich unterwegs – manchmal kam er tagelang nicht nach Hause.
Für Elfriede war das sicherlich nicht einfach. Sie musste allein mit dem Haushalt zurechtkommen, was ihr zunehmend mehr Probleme bereitete, zumindest was die täglichen Hausarbeiten betraf. Sie beschlossen, sich eine Putzfrau „zuzulegen“.
Das war gar nicht so einfach, zumindest nicht auf legale Weise. Mehrmals hängten sie eine Karte auf der Infowand ihres Supermarktes aus: „Haushaltshilfe für 2 Stunden wöchentlich gesucht“. Haushaltshilfe klang besser als Putzfrau. Das sollte alles über die Minijobzentrale laufen, die sich um Steuern, Sozialabgaben und den gesamten behördlichen Kram kümmern konnte.
Doch keine der Damen, die an der Putzstelle interessiert waren, wollte das legal machen. Sie waren nur an Schwarzarbeit interessiert. Dabei waren Robert und Elfriede bereit, mehr als den Mindestlohn zu zahlen.
Schließlich beauftragten sie ein örtliches Dienstleistungsunternehmen, welches eine wahre „Perle“ schickte, die wöchentlich zwei Stunden lang die Wohnung in einem gepflegten Zustand erhielt.
Elfriedes zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigung brachte Robert auf die Idee, doch mal ihre Pflegebedürftigkeit feststellen zu lassen. Der beauftragte Sachverständige stellte den Pflegegrad 1 fest, was nicht gerade hoch war, jedoch einen monatlichen Zuschuss für haushaltsnahe Dienstleistung versprach.
Dummerweise erkannte die Pflegekasse das gewerbliche Dienstleistungsunternehmen nicht an, weil dazu nur Institutionen zugelassen waren, welche sich in einem aufwendigen Genehmigungsverfahren qualifiziert hatten.
Nun gut, einen solchen „Pflegedienst“ fanden die beiden auch, was dazu führte, dass für weniger Leistung mehr Geld verlangt wurde. Das zahlte natürlich die Pflegekasse.
Elfriedes Tod fiel etwa mit Roberts Verrentung zusammen.
Das war im Jahre 2027, und heute schrieb man schon 2030.
In diesen drei Jahren veränderte sich für ihn alles.
Robert Lukat hatte sich anfangs fast täglich in den Metronom gesetzt, der so praktisch vor seiner Haustür hielt und war den ganzen Tag herumgefahren. Das konnte er sich dank der kostenlosen Jahreskarte für den gesamten Regionalzugverkehr der Deutschen Bahn durchaus leisten. Andere Leute mussten viel Geld für eine solche Jahreskarte bezahlen. Als Bahnbediensteter im Ruhestand bekam er sie kostenlos. Das war eine der Vorzüge seiner ehemaligen Position, die er weidlich ausnutzte.
Von Natur aus war er nämlich ein Pedant – ein Korinthenkacker, wie die Kollegen manchmal gesagt hatten. Es bereitete ihm diebische Freude, die Einhaltung aller Vorschriften zu beobachten, wozu besonders auch die Beachtung der Fahrpläne gehörte.
Mit der Einführung der gesetzlich vorgeschriebenen neuen Entschädigungsregeln bekam gerade der Fahrplan eine völlig andere Bedeutung für ihn.
Das „Gesetz zur Entschädigung von Fahrgästen bei Zugverspätungen der Deutschen Bahn“, allgemein nur „Entschädigungsgesetz“ genannt, vereinfachte die Beantragung von Entschädigungsleistungen durch Zugverspätungen erheblich. Bis dahin musste der Bahnkunde auf endlosen, kaum zu verstehenden Fragebögen den finanziellen Nachteil, der ihm durch eine Verspätung entstanden war, nachweisen. Diese Beweispflicht war durch das Entschädigungsgesetz umgekehrt worden. Die Bahn – dazu gehörten auch alle Privatbahnen – musste nun bei jeder Zugverspätung einen Euro pro Minute an den Bahnkunden zahlen, wenn er nachweisen konnte, dass er in einem Zug mit Verspätung gesessen hatte. Das war mit der gleichzeitig eingeführten digitalen Fahrgastüberwachung (DFÜ) völlig problemlos.
Dieses DFÜ baute auf der allgemeinen Personenidentifikation (allgPI) in der EU auf. Jeder Bürger der EU wurde sofort nach der Geburt mit einem ID-Chip versehen, der in die Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand implantiert wurde. Auf diese Weise gab es eine lückenlose Erfassung, der sich niemand entziehen konnte. Für zeitweise anwesende Personen, zum Beispiel Touristen, Flüchtlinge oder Asylanten, gab es Sonderregelungen, doch diese waren für Robert Lukat ohne Belang.
Er bestieg jeden Tag den Metronom, um seinen Tag möglichst gewinnbringend in verspäteten Zügen zu verbringen. Sobald er den Zug betrat, wurde seine Anwesenheit erfasst. Das galt natürlich auch für alle anderen Fahrgäste. Eine Fahrkarte musste niemand mehr kaufen. Schwarzfahren war praktisch unmöglich. Darin lag auch der Vorteil für die Deutsche Bahn. Die Einsparungen durch den Wegfall von Einnahmen durch Leistungserschleichung – so wurde das Schwarzfahren behördlich bezeichnet – waren höher als die Entschädigungszahlen bei Zugverspätungen.
Hatte der Zug bereits bei Abfahrt eine Verspätung, wurde die entsprechende Entschädigung als Gutschrift von dem Fahrpreis abgezogen. Für Lukat war das besonders günstig, da er auf allen Regionalverbindung ohnehin Freifahrt hatte. Auf diese Weise gab es nur ein Haben auf seinem Kundenkonto, das ihm monatlich ausgezahlt wurde. Sein Trick war es nun, möglichst viele Züge mit Verspätung zu erwischen.
Das war komplizierter, als man sich das vorstellen konnte, denn ein Gewinn auf dem Konto wurde auch gleich wieder eliminiert, wenn der Zug eine Verspätung aufholte. Es brachte also nichts, wenn Lukat zu lange in einem Zug sitzen blieb. Am günstigsten war es, einen Zug mit Verspätung zu besteigen, um ihn dann am nächsten Bahnhof wieder zu verlassen. Dann hatte er seine Euros in Sicherheit.
Doch auch diese Regel war nur bedingt anwendbar. Lukat musste jedes Mal eine Analyse der Möglichkeiten anstellen. Es konnte ja sein, dass der Zug seine Verspätung noch vergrößerte. Dann war es besser, sitzen zu bleiben. Andererseits musste er auch beachten, wo er ausstieg. Es ergab keinen Sinn, in einem Kuhdorf zu landen, wo der nächste Zug erst zwei Stunden später kam. Das musste – im wahrsten Sinne des Wortes – Zug um Zug gehen.
Robert Lukat war ein Meister im Umsteigen. Nur durch häufiges Umsteigen konnte er alle Möglichkeiten ausschöpfen. Das machte im keiner nach. Er wurde deshalb im Kreise seiner noch aktiven Kollegen auch als „Umsteiger“ bezeichnet, was er wie eine persönliche Auszeichnung hinnahm.
Auf diese Weise konnte er an guten Tagen bis zu 50 Euro dazuverdienen – im Schnitt monatlich etwa 1000. Das war mehr als seine Standardrente, und vor allem steuerfrei und völlig legal.
Allerdings war er auch täglich acht bis zehn Stunden unterwegs.
Anfangs hatte ihm die Bahnverwaltung noch einen Strich durch die Rechnung machen wollen. Man weigerte sich, ihm die erlangten Guthabenpunkte auszuzahlen, mit der Begründung, ihm würden als Rentner keinerlei finanzielle Nachteile entstehen. Das wollte Lukat nicht so ohne weiteres hinnehmen und klagte das Geld ein.
Der Richter hörte sich die Argumente beider Parteien sorgfältig an, bis er feststellte, dass der Wortlaut des Gesetzes keine Begründung mehr verlangte.
Auch den Einwand der Bahn, der Kläger würde die Fahrten nur vornehmen, um Entschädigungsleistungen zu kassieren, lehnte der Richter ab. Jeder Rentner hat das Recht, seinen Lebensabend und seine Freizeit nach eigenem Gutdünken zu verbringen. Er muss dabei den Sinn und Zweck oder sogar die Notwendigkeit seiner Fahrten nicht begründen, weil das Gesetz eine solche Begründung nicht verlange. Auch verstoße die Tätigkeit des Klägers nicht gegen die guten Sitten. Abschließend schlug er den Parteien einen Vergleich vor, um ein öffentlichkeitswirksames Urteil zum Nachteil der Bahn zu vermeiden.
Der Vertreter der Bahn bot deshalb an, die geforderten Leistungen auch für die Zukunft anzuerkennen, wenn sich der Kläger zum Stillschweigen verpflichte. Im Weigerungsfalle würde man höhere Instanzen aufrufen, um ein Präzedenzurteil herbeizuführen. Das war natürlich für die Bahn außerordentlich riskant, denn ein solches Urteil hätte einen großen Teil der Öffentlichkeit animiert, es dem Kläger gleichzutun.
Doch Lukat stimmte dem Vergleich zu und bot an, seine Klage zurückzuziehen, wenn die Bahn die Gerichtskosten übernahm, die sonst an ihm hängengeblieben wären. Mit saurer Miene stimmte der Anwalt der Bahn ebenfalls zu, was für diese sicherlich kein großer Verlust war.
Auf diese Weise durfte Robert Lukat seinem einträglichen Nebenerwerb ohne Einschränkungen nachgehen.