Читать книгу Umsteiger - Wulf Köhn - Страница 6
Der Leichentransport
ОглавлениеEinige Tage später hatte der Metronom ausnahmsweise mal Verspätung. Er kam bereits 20 Minuten zu spät in Großburgwedel an und behielt diese auch bis nach Hannover. Das war ein guter Beginn.
Allerdings blieb Lukat dadurch nur wenig Zeit für den Anschlusszug nach Goslar, den er sich ausgesucht hatte.
Als der Metronom in den großen Bahnhof Hannover einfuhr, stand der Interregio „erixx“ nach Goslar schon auf dem Nachbargleis. Das konnte knapp werden, denn um dorthin zu gelangen, musste Lukat den Bahnsteig wechseln. Der erixx stand zwar direkt neben ihm – er konnte fast mit der Hand hinüberreichen – jedoch auf dem benachbarten Bahnsteig. Da galt es, zunächst den eigenen Bahnsteig zu verlassen, die Treppe bis zum Verbindungsgang hinabzusteigen, sich zwischen den vielen Bahnreisenden hindurch zu drängeln, die nächste Treppe wieder nach oben zu eilen … Das war niemals zu schaffen!
Aber wozu war Lukat einmal Lokomotivführer gewesen? Er kannte alle Tricks! Auch die verbotenen!
Zum Glück war er in den letzten Wagen des Metronoms eingestiegen. Genau der hinteren Tür gegenüber befand sich die hinterste Tür des erixx … und dazwischen lag der Lokführersteg. So wurde der kurze Holzsteg genannt, der die Züge miteinander verband, um den Lokomotivführern im Bahnhof einen kurzen Wechsel von Zug zu Zug zu ermöglichen. Die dem Bahnsteig abgewandten Türen waren natürlich gesperrt, damit niemand versehentlich auf der falschen Seite ausstieg. Doch Lukat kannte den Trick, um die Türen zu öffnen.
Das tat er jetzt. Schnell löste er die Sperre, öffnete die Tür und sprang auf den Steg hinaus. Sorgfältig verriegelte er die Tür hinter sich und entriegelte die Tür des anderen Zuges. Ein kleiner Schritt nach oben – und schon stand er im letzten Waggon des IR, der im selben Moment abfuhr.
Geschafft! Das war knapp!
Doch als sich Lukat umsah, stockte ihm beinahe der Atem. Das Abteil war lediglich mit zwei brennenden Kerzen beleuchtet, die auf einem kleinen Tisch an der Querwand standen. Daneben hatten sich zwei dunkel gekleidete Männer von ihren Sitzen erhoben und starrten ihn erschrocken an. Der uniformähnlichen Kleidung nach, waren es vermutlich Sargträger, denn in der Mitte des kleinen Abteils stand ein Sarg. Das war richtig unheimlich.
Lukat erinnerte sich, dass die Bahn mitunter auch Leichentransporte in besonderen Abteilen durchführte. Das war von außen nicht zu erkennen. Man wollte ja die übrigen Reisenden nicht unnötig erschrecken. In der Trennwand zum Rest des Wagens befand sich deshalb auch eine verschlossene Tür, die nur mit einem Spezialschlüssel geöffnet werden konnte.
In einem solchen Abteil war Lukat nun dummerweise gelandet, und es war nicht feststellbar, ob er selbst oder die Sargbegleiter erschrockener darüber waren.
Lukat fasst sich schnell.
„Guten Morgen, die Herren!“, grüßte er verlegen. „Ich wusste nicht … Tut mir leid, dass ich so hereingeplatzt bin.“
„Guten Morgen!“, grüßte der kleinere der beiden. Er trug eine Schirmmütze und legte einen Finger an den Schirm, bevor er sie abnahm und unter den Arm klemmte.
Der Größere starrte Lukat mit Glubschaugen an und sagte gar nichts. Er hatte eine Glatze – seine Mütze lag bereits auf dem Tisch.
„Mein Beileid!“, begann Lukat erneut.
„Da sind Sie bei uns an der falschen Adresse!“, wehrte der Kleinere ab. „Wir sind nur die Begleiter. Wir überführen den Verblichenen lediglich. Aber wie kommen Sie denn hier rein? Man hat uns versprochen, dass die Ruhe des Verstorbenen nicht gestört wird.“
„Das war ein Versehen!“ gab Lukat zu. „Ich ahnte ja nicht, dass hier eine Leiche transportiert wird.“
„Gehören Sie zum Bahnpersonal?“, fragte jetzt der Glatzkopf. Er hatte einen seltsam lauernden Gesichtsausdruck.
„Nicht mehr – ich war mal Lokomotivführer. Da kenn ich mich aus!“, erklärte Lukat.
„Aha“, überlegte der Kleine. „Dann verschwinden Sie einfach wieder!“
„Kein Problem!“, nickte Lukat. Er verspürte ebenfalls den Wunsch, diese unheimliche Stätte zu verlassen. „Beim nächsten Halt steige ich aus!“
„Es wäre uns aber lieber, Sie verschwinden sofort!“, fauchte der Glatzkopf jetzt giftig.
Nanu? Was war denn in den gefahren?, überlegte Lukat, doch dann ging er bereitwillig zu der Zwischentür und probierte, ob sie sich öffnen ließ.
Dazu war aber ein Schlüssel erforderlich, den er nicht besaß.
„Dann muss ich eben warten!“, gab er resigniert zu. Was sollte schon passieren?
Unschlüssig blieb er an der Tür stehen. Es gab nur zwei Stühle in dem Abteil, die – ebenso wie der Tisch – mit dem Boden verschraubt waren. Dort saßen die beiden Sargträger und schauten ihn an. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als stehen zu bleiben.
Wann würde der Zug das erste Mal halten?
Er holte sein Tablet aus der Umhängetasche und schaute nach. Merkwürdigerweise fand er den Zug nicht, in dem er sich befand. Normalerweise hätte er mit einem einzigen Blick den Zug und sein Punkteguthaben ablesen können.
Nach der Anzeige befand er sich jedoch noch auf dem Bahnhof Hannover – mit einem Guthaben von 20 Punkten. Warum wurde der Zugwechsel nicht angezeigt?
Im DB-Rechenzentrum Hannover wurde ein IT-Controller auf die rote LED-Warnanzeige aufmerksam. Eigentlich hätte er schon früher den Signalton hören müssen, doch diesen hatte er abgeschaltet. Die ständige Piepserei ging ihm auf die Nerven. So fiel ihm der Alarm erst 11 Minuten später auf. Er öffnete einen Monitor, der ihm den Grund des Alarms anzeigte: In den SSE (Super-Schnell-Express) nach Mailand war eine unbefugte Person in einen gesperrten Bereich eingedrungen. Als er sah, um wen es sich handelte, griff er zum Telefon und rief den Fahrdienstleiter an.
„Hallo Ben“, erzählte er. „Der Umsteiger ist mal wieder unterwegs!“
„Hallo Kurt! Du meinst den alten Lukat?“, fragte Ben zurück. „Der ist doch jeden Tag unterwegs und sammelt Verspätungen!“ Fast alle Kollegen im Umkreis von Hannover wussten von Lukats außergewöhnlichem Hobby.
„Ja, aber diesmal sitzt er im SSE nach Mailand“, ergänzte der Controller. „Da bekommt er doch unmöglich Punkte! Der Zug hatte noch nie Verspätung! Es sei denn …“
„Was willst du damit andeuten?“, fragte Ben zurück.
„Es sei denn, er hat Informationen über einen Zugzwischenfall“, überlegte der Controller.
„Wie bist du denn auf den Umsteiger gekommen?“, wollte Ben jetzt wissen.
„Das ist ja das Verrückte!“, platzte der IT-Mann heraus. „Er befindet sich im Leichenabteil. Dort werden statt zwei Personen plötzlich drei angezeigt. Dafür gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder, er ist widerrechtlich dort eingedrungen oder er lag im Sarg und ist wieder auferstanden.“
„Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“, zweifelte der Fahrdienstleiter.
„Dem Umsteiger traue ich alles zu!“, behauptete der Controller. „Aber Scherz beiseite: Im Sarg liegt die Leiche eines Bankers aus Zürich, der in die Schweiz übergeführt werden soll. Sein ID-Chip wurde vor dem Einsargen deaktiviert. Von dort gibt es also keine Anzeige. Der Sarg wurde bereits zwei Stunden vor der Zugabfahrt auf Gleis 5 in den Spezialwagen verladen. Das ist ein reines Rangiergleis, zu dem kein Fahrgast Zugang hat. Der SSE nahm dort den Sargwagen auf und fuhr zum Gleis 6, um die Fahrgäste aufzunehmen. Wegen der Rangiermaßnahmen fuhr der SSE ausnahmsweise von diesem Gleis ab, wo normalerweise der IR nach Goslar steht. Das hatte leider zu Beschwerden einiger Fahrgäste geführt, obwohl die Änderung lange vorher angezeigt worden war. Zum Glück hatte es aber keinerlei Verspätung gegeben.“
„Und was ist jetzt mit Robert Lukat?“, fragte der Fahrdienstleiter ungeduldig.
„Der ist praktisch genau im Moment der Abfahrt im Sargabteil aufgetaucht. Auf welchem Wege auch immer. Jetzt befinden sich die beiden Sargbegleiter und er in dem Abteil“, schloss der Controller seinen Bericht.
„Ich verstehe“, überlegte Ben. „Wäre er in einen anderen Wagen zugestiegen, hätte es keinen Alarm gegeben. Er wäre lediglich als Fahrgast registriert worden. Die Zusatzgebühren für den SSE wären automatisch von seinem Konto abgebucht worden. Das könnte womöglich die Lösung sein. Der Zug hält nur in Frankfurt, Basel und Mailand. Aus irgendeinem Grund muss er in eine dieser Städte und will die Fahrkosten sparen. Im Leichenabteil wird er nicht als Fahrgast registriert.“
„Dafür hat er aber einen Alarm ausgelöst!“, gab der Controller zu Bedenken.
„Irgendetwas stimmt da nicht!“, resümierte der Fahrdienstleiter. „Das passt alles nicht zu Robert. Er kommt frühestens in etwa zwei Stunden in Frankfurt wieder raus. Bis dahin ist das Abteil verschlossen. Ich werde die Bundespolizei in Frankfurt informieren. Die kann sich dort mal umsehen.“
„Mach doch nicht solchen Aufstand!“, besänftigte der Controller. „Wer weiß, was Lukat vorhat? Wir wollen ihm doch keinen Ärger machen!“
„Lukat muss einen Hinweis auf eine Verspätung des SSE haben. Sonst wäre er nicht dort eingestiegen. -- Andererseits kommt die Verspätung nicht seinem Punktekonto zugute, wenn er im Leichenabteil sitzt. Das ergibt alles keinen Sinn!“
„Wir sollten uns auf irgendeinen Zwischenfall vorbereiten. Ich behalte ihn im Blick. Ich habe ja sein Signal!“
Zum gleichen Zeitpunkt ahnte Lukat nicht, was sich da zusammenbraute. Er konnte langsam nicht mehr stehen, und die Sargbegleiter machten keine Anstalten, ihm einen Platz anzubieten.
„Wo soll denn die Reise hingehen?“, fragte er mit einem Blick auf den Sarg.
„Nach Basel“, erwiderte der Glatzkopf mürrisch.
„Nach Basel?“, fragte Lukat irritiert. „Der Zug fährt doch nur bis Goslar! Und von dort gibt es keine Zugverbindung nach Basel!“
Die beiden Männer sahen sich an. „Wo sollen wir hier sein?“, fragte der Kleine. „Im Zug nach Goslar? Das muss ein Irrtum sein!“
Lukat schwieg. Das Abteil hatte keine Fenster, durch die er hinaussehen konnte. Dann hätte er sofort gesehen, wo sie sich befanden. Er kannte jeden Kilometer des Norddeutschen Streckennetzes. Weil er nicht mehr stehen konnte, setzte er sich kurzerhand auf den Sarg, was sofort den Unmut der Männer hervorrief. Empört warfen sie ihm Pietätlosigkeit und Störung der Totenruhe vor, so dass Lukat wieder aufstand.
Resigniert ließ er sich an der Wand nieder. Das war noch unbequem genug. Von der Fahrzeit her, musste der erixx jedoch längst in Sarstedt gehalten haben. Nach Fahrplan hätte er sogar schon Hildesheim hinter sich gelassen. Da stimmte etwas nicht! Lukat sah ein, dass er sich wirklich im SSE nach Basel befand. Das bedeutete, dass er bis Frankfurt nicht mehr aus dem Leichenabteil herauskam. Er musste also bis Mittag noch auf dem unbequemen Fußboden ausharren.
Die beiden Männer waren nicht gerade angenehme Reisebegleiter. Misstrauisch starrte sie ihn die ganze Zeit an und schwiegen. Brachte der Beruf das mit? Immer in Begleitung eines Toten?
Endlich ergriff der Glatzkopf noch einmal das Wort. „Sind wir wirklich im Zug nach Goslar?“, wollte er wissen.
„Ich fürchte, ich habe mich geirrt“, gab Lukat zu. „Dann hätten wir schon mehrmals gehalten. Es sieht so aus, als säßen wir tatsächlich im SSE nach Mailand.“
„Basel“, berichtigte der Kleine.
„Der Zug endet in Mailand und hält nur in Frankfurt und Basel. Danach fährt er durch den Gotthardtunnel bis nach Mailand“, erklärte Lukat.
„Interessiert uns nicht!“, brach der Mann die Erklärung ab. „Hauptsache, wir kommen nach Basel!“
„In Frankfurt steige ich dann aus!“, sagte Lukat seufzend. Den Tag konnte er abschreiben. Zurück musste er auch noch. Das kostete mit dem SSE viel Geld.
Die Zeit verging, bis ihn ein merkwürdiges Geräusch aus einem kleinen Schlummer aufweckte. Er hörte ein leises Klopfen, das ihn sofort aufmerksam werden ließ. Als Lokomotivführer war er es gewohnt, auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu reagieren. Das hier war ungewöhnlich!
Er drehte den Kopf, um die Richtung zu ermitteln. Sie kam vom Sarg her. Lukat lauschte weiter, und auch die Männer schienen aufmerksam geworden zu sein. Sie schauten sich an und dann zum Sarg hinüber.
Das Klopfen wurde lauter und eindringlicher. Sollte der Tote wiedererwacht sein?
Lukat stand langsam auf und wollte zum Sarg hinübergehen, als die beiden Männer aufsprangen und ihn gewaltsam niederwarfen.
„Weg von dem Sarg!“, brüllte der Glatzkopf und setzte sich auf Lukats Oberkörper.
Lukat bekam kaum noch Luft. „Da ist was in dem Sarg!“, keuchte er mühsam. „Wir müssen nachsehen!“
„Wir müssen gar nichts!“, herrschte der Kleine ihn an. „Der Sarg bleibt zu!“
In diesem Moment klappte allerdings der Sargdeckel von allein nach oben und der Tote richtete sich auf. Lukat hatte normalerweise gute Nerven. Ihn konnte so leicht nichts erschüttern, doch jetzt schrie er laut auf. Der Leichnam sah im Kerzenlicht gespenstisch aus. Ein bleiches Gesicht mit dunklen Augenhöhlen starrte ihn an. Lukat erlebte gerade eine Wiederauferstehung. Das kannte er bisher nur von Jesus – und von Lazarus natürlich.
Aber das hatte noch nie jemand gesehen. Es gab nur Überlieferungen aus der Bibel. Hier stand Lazarus aber wirklich vor ihm.
„Ihr habt doch gesagt, ihr wolltet mich gleich nach der Abfahrt rauslassen!“, schimpfte Lazarus. Dann sah er die Männer, die sich auf dem Boden wie Ringkämpfer herumwälzten. Er stutzte. „Was macht ihr eigentlich?“ Jetzt erst versuchte er, die Situation zu deuten und entdeckte auch Lukat. „Wie kommt der denn rein?“
Lukat erfasste blitzschnell die neue Lage. Die ganze Sache mit dem Sarg war irgendeine Gaunerei. Die Leiche war gar nicht tot! Trotzdem war die Aufregung plötzlich zu viel für ihn. Er verlor das Bewusstsein.
Als der Zug in Frankfurt einfuhr, standen schon zwei Beamte der Bundespolizei auf dem Bahnsteig. Sie hatten nicht viel Zeit, denn der Zug hielt nur wenige Minuten. Sobald er zum Stehen kam, wurden alle Türen zentral entriegelt und konnten durch Knopfdruck geöffnet werden. Das galt aber nicht für das Leichenabteil. Die Türen waren mit der Aufschrift „Dienstabteil“ versehen und ließen sich von außen nicht öffnen. Die Beamten kannten allerdings den Hebel unter einer Abdeckleiste, mit dem die Türen entsperrt werden konnten. Zischend entwich die Druckluft und fast unhörbar glitten die beiden Flügel auf. Sofort betraten die beiden Beamten das Abteil und überschauten die Situation: Zwei Männer saßen im Kerzenlicht am Tisch, ein dritter bückte sich gerade, als wollte er sich die Schuhe zubinden.
„ID-Kontrolle! Bitte lassen Sie sich scannen!“, sagte Polizeikommissar Fieseler, während Oberkommissar Haurich in seinen Kommunikator sprach. „Es sind tatsächlich drei Personen anwesend. Wie sollte der Verdächtige heißen?“
Der Fahrdienstleiter aus Hannover nannte Lukats Namen, und die Polizisten verglichen die Angaben mit den Scanergebnissen. „Das ist merkwürdig“, stellte Haurich fest. Einer hat gar keine Scannung und die beiden anderen sind ordnungsgemäß als Begleiter angemeldet. Ein Robert Lukat ist nicht dabei.“
„Das kann nicht sein!“, meldete sich der IT-Controller. Ich habe ihn hier auf meinem Monitor. Er muss in dem Abteil sein!“
„Dann muss das der Mann ohne Scannung sein. Wir werden ihn zur Identitätsfeststellung festnehmen. Er ist ohnehin illegal in dem Abteil. Ansonsten müssen wir uns beeilen. Der Zug fährt gleich weiter. Wir dürfen keine Verspätung verursachen!“
„Behandeln Sie ihn nicht zu grob!“, bat Ben über den Kommunikator. „Er ist ein Kollege im Ruhestand.“
„Das liegt ganz an ihm!“, entgegnete Fieseler.
Sie führten die Person aus dem Abteil und aktivierten wieder die Druckluftsperre. Im hellen Sonnenschein fiel ihnen jetzt das merkwürdige Aussehen des Mannes auf. Das Gesicht war offensichtlich wie zu Halloween geschminkt: bleiche Haut und dunkle Augenringe. Wie ein Untoter!
Da kam ihnen ein merkwürdiger Verdacht: ein „Untoter“? Sollte das der Tote aus dem Sarg sein?
Jetzt war es zu spät, das zu überprüfen. Der Zug hatte den Bahnhof schon wieder verlassen. Undenkbar, ihn noch vor der Schweizer Grenze aufzuhalten. Nächster Halt war Basel.
In diesem Moment meldete sich der Kommunikator wieder. Der Controller fragte erneut nach: „Habt ihr Robert Lukat nicht aus dem Wagen geholt? Der Zug ist doch schon wieder unterwegs!“
„Wir haben die verdächtige Person zur Identitätsfeststellung aus dem Zug geholt. Er hat keine Kennung“, antwortete Fieseler.
„Lukat befindet sich immer noch im Abteil. Ich habe ihn hier auf dem Monitor.“
Als Lukat wieder erwachte, war es dunkel und stickig um ihn herum. Das Atmen fiel ihm schwer. Er ahnte sofort, wo er sich befand: im Sarg! Die Gauner mussten seine Hilflosigkeit dazu benutzt haben, die Rollen zu vertauschen. Jetzt war die angebliche Leiche draußen und er drinnen. Wie würden sich die drei Männer verhalten, wenn er den Sargdeckel nach oben drückte? Das musste er ausprobieren.
Vorsichtig drückte er gegen den Deckel, doch der ließ sich keinen Millimeter anheben. Entweder hatten die Gauner ihn inzwischen verschraubt oder sich daraufgesetzt.
Lukat versuchte es noch einmal, diesmal mit größerer Kraft. Der Deckel bewegte sich nicht. Zum Glück gab es aber einige Löcher, durch die etwas Kerzenlicht hereinfiel. Allerdings war es Lukat nicht möglich, hindurchzuschauen, weil die Löcher ziemlich weit oben angebracht waren. Aber sie ließen etwas Atemluft hindurch. Ersticken würde er also nicht.
Seine größte Sorge aber war, mit einer echten Leiche zusammen in dem Sarg zu liegen. Er tastete um sich herum und fühlte keinen anderen Körper. Er lag relativ weich auf einer Unterlage und war mit einer Decke zugedeckt. Das war bequemer als auf irgendwelchen Sitzen im Zug, die er zur Genüge kannte. Sollte er froh darüber sein?
Vorerst verhielt sich Lukat still und ordnete seine Gedanken. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, lebendig begraben zu werden. Diese Aussicht nahm bald sein ganzes Denken in Anspruch. Er musste auf jeden Fall so schnell wie möglich wieder raus aus seinem Gefängnis. Lieber wollte er an der Abteilwand hocken, als die Leiche zu spielen.
Je länger er über seine Situation nachdachte, desto mehr drängte sich die Frage nach dem Warum auf. Die Antwort musste sich hier im Sarg befinden.
Beim erneuten Herumtasten entdeckte er seine Umhängetasche mit dem Tablet. Erfreut stellte er fest, dass er Netzanschluss hatte. Er ortete seinen eigenen Standort und stellte fest, dass er sich in der Nähe von Karlsruhe befand. Das war auf der Bahnstrecke neben dem Rhein auf deutscher Seite. Er befand sich also tatsächlich in dem SSE nach Basel. Der Grund dieser Aktion musste also im Grenzübertritt oder in der Schweiz liegen. Vielleicht illegale Einwanderung in die Schweiz mit ihren strengen Einwanderungsgesetzen? Oder vielleicht Schmuggel? Doch was konnte man in einem Sarg in die Schweiz schmuggeln?
Rauschgift? Drogen? Das war immerhin möglich.
Egal, was auch immer, er musste aus seinem Sarg heraus um Hilfe rufen.
Die Nummer des Fahrdienstleiters in Hannover hatte er im Kopf. Ben meldete sich. Den kannte er sogar persönlich. „Hallo Ben!“, stieß er hervor. „Hier ist Robert Lukat. Ich befinde mich im SSE nach Basel und … “
„Hallo Robert!“, unterbrach ihn Ben. „Ich weiß! Wir beobachten dich die ganze Zeit. Was machst du denn in dem Sargabteil?“
„Das ist eine lange Geschichte“, wehrte Lukat ab. „Aber der Zug muss noch vor der Schweizer Grenze gestoppt werden. Hier ist eine ganz große Gaunerei geplant.“
„Wir können doch keinen Zug stoppen!“, empörte sich Ben. Das ist unmöglich!“
„Wollt ihr, dass ich lebendig begraben werde?“, regte sich Lukat auf. „Dieses Schicksal droht mir nämlich!“
„Wo bist du denn?“, fragte der Fahrdienstleister zurück.
„Ich liege in dem Sarg im Sargabteil und komme nicht mehr heraus. Wahrscheinlich soll ich entsorgt werden!“, übertrieb Lukat. „Vermutlich liege ich aber auf irgendwelchem Schmuggelgut. Ihr müsst noch vor der Grenze zuschnappen. Benachrichtige bitte die Bundespolizei oder den Zoll und rettet mich!“
„Das ist Ehrensache!“, versprach der Fahrdienstleiter in Hannover und setzte sich mit dem Hauptzollamt in Verbindung. Das war einfacher als gedacht. Das gemeinsame deutsch-schweizerische Zollamt befand sich direkt in Basel auf dem Badischen Bahnhof. Dort hielt der SSE ohnehin.
Bei der Einfahrt stand schon eine ganze Reihe Zöllner von beiden Staaten bereit, um gemeinsam das Sargabteil zu stürmen. Die beiden Gangster ergaben sich ohne Gegenwehr, und Lukat konnte endlich aus seinem Gefängnis befreit werden.
Der Waggon wurde abgekoppelt, damit der Zug nach Mailand weiterfahren konnte. Trotzdem verursachte die Aktion eine halbstündige Verspätung. Mit Bedauern schaute der Umsteiger hinter dem SSE her, denn seine bisherige Fahrt hatte ihm keinen einzigen Punkt gebracht.
Unter einem doppelten Boden im Sarg fanden die Zöllner große Mengen von Euro-Banknoten. Hier hatte man gerade noch einen großen Geldschmuggel, vermutlich sogar den Versuch einer Geldwäsche, verhindert.
Zu allem Ärger nahmen die Schweizer Zöllner Lukat zunächst ebenfalls fest, um seine Rolle bei diesem Geldschmuggel zu klären. Da er beim ersten Verhör standhaft eine Beteiligung leugnete, musste er die Nacht auf einer harten Holzpritsche im Gewahrsamstrakt verbringen. Lediglich eine nach Schweiß stinkende Wolldecke warf ihm ein Wächter hinein.
Erst am nächsten Morgen wurde er unter Entschuldigungen aus seinem Gefängnis entlassen.
Inzwischen hatten die Zöllner Banknoten im Wert von über 30 Millionen Euro gezählt – die größte Summe, die der Zoll jemals an der Deutsch-Schweizer Grenze sichergestellt hatte. Dank der telefonischen Nachfrage beim Fahrdienstleiter in Hannover war Lukats Unschuld einwandfrei bewiesen.
Als er das Dienstgebäude verließ, stürzte sich eine Horde Reporter und Fotografen auf ihn. Er war plötzlich zum Helden geworden.
Ach ja! Die deutsche Bahn verzichtete großzügig auf eine Anzeige wegen der illegalen Benutzung des Sargabteils, ebenso, wie auf die Zahlung der Fahrtkosten für den SSE von Hannover nach Basel.
Nur die Rückfahrt nach Großburgwedel buchte man von seinem Konto ab. Das war ärgerlich! Diese beiden Tage mit der unfreiwilligen Reise nach Basel hatten nur Kosten verursacht.
Bereits am nächsten Tag nahm er seine Beschäftigung als Umsteiger deshalb wieder auf.