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Allahu Akbar

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Beim Frühstück merkte Hano, dass irgendetwas anders war als sonst. Er konnte es zunächst nicht deuten, bis ihm beim Herumknabbern auf dem Toastbrot das Kauge­räusch auffiel. Er hörte alles viel lauter und intensiver. Sogar der eigene Atem brauste in seinen Ohren. Alle Geräusche um ihn herum schwollen zu einem unerträgli­chen Wirrwarr an, in dem sich jedes Einzelgeräusch ver­lor. Je länger er dieses Phänomen beobachtete, desto lauter und schlimmer wurde es.

Die Umprogrammierung seines Gehörs hatte offensicht­lich doch noch geklappt, und sein Gehirn hatte Probleme, damit umzugehen. Das Essen wurde zur Qual, und Hano hielt sich die Ohren zu. Das machte es auch nicht besser, denn dadurch wurde der Druck auf das Trommelfell ver­stärkt, was ein zusätzliches Rauschen erzeugte, ähnlich dem „Meeresrauschen“ einer großen Schnecke, die man ans Ohr hielt. Aber die anderen Geräusche wurden gedämpft. Als er sich zwei Finger in die Ohren stopfte, wurde es erträglicher. Aber er konnte nicht ständig mit Fingern in den Ohren herumlaufen.

Irgendwo musste er noch Ohrenstöpsel vom letzten Badeurlaub herumliegen haben.

Er fand sie schließlich im Badezimmer im Medizin­schrank. Noch bevor er sie einsetzen konnte, warf ihn ein infernalischer Glockenklang fast an die Wand. Der West­minsterschlag! Die elektronische Türglocke! Jemand stand an der Wohnungstür!

Das bestellte Taxi fiel ihm ein. Schnell setzte Hano die Ohrenstöpsel ein und öffnete vorsichtig die Tür.

„Das Taxi ist da!“, brüllte der Mann ihn an. Jedenfalls kam es ihm – trotz der Stöpsel – so vor.

Hano ließ die Reste des Frühstücks auf dem Tisch liegen und folgte dem Taxifahrer nach unten. Der Straßenlärm erschlug ihn fast. Innerhalb des geschlossenen Wagens wurde es besser. Der Magnetantrieb machte fast keine Geräusche und die Scheiben waren gut isoliert. Er legte seine Hand auf den Sensor, und schon war der Taxifahrer über das Ziel informiert – genauer gesagt, fuhr der Wagen vollautomatisch, und der Fahrer wird wohl auch eine DIP gewesen sein.

Hano konnte sich etwas entspannen. Ihm fiel auf, dass er trotz der Stöpsel und isolierten Scheiben immer noch die Umweltgeräusche außerhalb hörte. Besonders Stimmen erkannte er. Sein Gehirn begann, sich darauf einzustellen und einzelne Stimmen herauszufiltern. Sobald Hano sich auf eine Person konzentrierte, hörte er sie deutlich spre­chen, wenn sie es gerade tat. Er versuchte zwei Frauen gleichzeitig zu erfassen, die am Straßenrand standen und tratschten. Auch das klappte.

„Haben Sie gestern die schamlose Person gesehen, die bei Schidlowski geklingelt hat?“, fragte die eine.

„Was hat sie denn gemacht?“, hechelte die andere.

„Wie soll ich das wissen?“, antwortete die erste wieder. „Aber man denkt sich so seinen Teil …“

In diesem Moment verlor Hano sie aus seinem Blickfeld. Das war ganz schön spannend.

Während der weiteren Fahrt konnte er sich an anderen Stimmen üben. Meist hörte er nur Bruchstücke eines Gesprächs, mit denen er nichts anfangen konnte. Ein Fahrradkurier fuhr eine Zeit lang vor ihnen her. Der träl­lerte ein Liedchen „Juppheidi und juppheida, Schnaps ist gut für Cholera! … Aus dem Weg du Schleicher! … Scheißprämie! … Das schaff ich wieder nicht!“

Er schlängelte sich zwischen den anderen Fahrzeugen hindurch und war bald außer Sichtweite.

Je länger die Fahrt zum Terminal dauerte, desto besser gelang es Hano, die Hintergrundgeräusche zu verdrängen und sich auf die Selektion der Stimmen zu konzentrieren. Sein Gehirn kam erstaunlich schnell damit zurecht. Trotzdem ärgerte er sich, dass INTESCO ihn einfach so umprogrammiert hatte. Sie hätten ihn wenigstens vorher fragen können.

Andererseits hatte das neue Hörempfinden auch seine Reize. Abgesehen von den mehr oder weniger interessan­ten Gesprächen ließ sich das sicherlich auch kommerziell auswerten. Vielleicht hatte ja INTESCO schon Pläne mit ihm.

Am Terminal des Northern Germany Central Airport angekommen, legte er erneut seine Hand auf den Sensor. Der Taxifahrer erwartete noch nicht mal ein Trinkgeld – offensichtlich war er tatsächlich eine DIP.

In der großen Halle nahm Hano die Ohrenstöpsel heraus. Sofort überflutete ihn unerträglicher Lärm. Schnell setzte er sie wieder ein. Die Stöpsel schienen die Lösung zu sein: Mit ihnen schloss er den Umweltlärm aus, konnte aber trotzdem alle Stimmen hören, sobald er sich darauf konzentrierte.

Am Abfertigungsschalter der EasyAir legte er wieder die Hand auf die Sensorplatte. Seine Buchung wurde sofort erkannt. Er benötigte noch nicht einmal das ausgedruckte Ticket. Ein Laufband brachte ihn zur zentralen Sicher­heitskontrolle. Die war völlig unproblematisch. Er betrat eine Personenschleuse, in der alle persönlichen Gegen­stände – sogar die Kleidung – entfernt und digitalisiert wurden. Stattdessen erhielt er eine digitale Kopie seiner Kleidung. Alles andere wurde online an den Bestim­mungsort transferiert. Niemals befanden sich die Origi­nale persönlicher Gegenstände in der gleichen Maschine. So waren Terroranschläge jeglicher Art von vornherein ausgeschlossen, und es gab keine langen Wartezeiten bei der Sicherheitskontrolle.

Natürlich wurden nur Gegenstände am Körper erfasst. Körperfremde Objekte innerhalb des Körpers, wie zum Beispiel Endoprothesen und Herzschrittmacher oder der ID-Chip, waren ausgenommen. Zu Hanos Überraschung ließ man ihm sogar seine Ohrenstöpsel. Offensichtlich steckten diese weit genug im Gehörgang.

Bis zum Boarding waren noch einige Minuten Zeit. Er setzte sich in einen der bequemen Sessel und beobachtete die Anzeigetafel. Ab und zu brüllte ein Lautsprecher die nächste Gruppe von Flugreisenden an, die sich dann brav zum Einchecken anstellten. Hano schreckte jedes Mal zusammen. Eine Lautsprecherstimme wirkte anders als die eines Menschen.

Neugierig konzentrierte er sich auf andere Reisende, um deren Gespräche zu belauschen. Das vertrieb die Lange­weile und war lustiger, als in den ausgelegten Prospekten zu blättern.

In einer entfernten Ecke steckten zwei Männer die Köpfe zusammen. Sie sahen aus, als hätten sie etwas zu verber­gen. Was Hano hörte, ließ seine innerlichen Alarmglo­cken schrillen.

„Bist du bereit?“, fragte der eine, ein junger Mann mit rotem Bart und fanatischem Blick.

Der andere – er trug einen dünnen Fusselbart – klopfte sich auf den Bauch. „So bereit wie nie! Allahu Akbar!“

Die letzte Bemerkung machte Hano besonders hellhörig. Das waren ohne Zweifel Islamisten, doch wozu war der Fusselbart bereit?

Der Rothaarige beantwortete die Frage selbst. „Hoffent­lich haben wir alles gut berechnet!“

„Das war schon eine Tortur, den ganzen Sprengstoff zu schlucken!“, sagte der Fusselbart. „Das möchte ich nicht noch einmal tun!“

„Brauchst du auch nicht!“, versicherte Rotbart diabolisch grinsend. „Das war mit Sicherheit das einzige und letzte Mal. Sieh zu, dass du auch wirklich auf dem gebuchten Fensterplatz sitzt. Dann reißt es ein Loch in die Außen­wand. An dieser Stelle liegen auch die hydraulischen Leitungen für das Höhenleitwerk. Dann kann kein Pilot der Welt die Maschine mehr in der Luft halten!“

„Das haben wir doch schon Hunderte Male durchge­kaut!“, winkte der Fusselbart genervt ab. „Hoffentlich verspätet sich der Abflug nicht. Ich habe die Zündkapsel erst im letzten Moment geschluckt. Nach 90 Minuten hat sie sich aufgelöst. Dann haben wir gerade die Reisehöhe erreicht. Wenn wir hier aufgehalten werden, fliege ich schon am Boden in die Luft.“

„Bisher läuft alles planmäßig“, beruhigte der Rotbärtige. „Ich setz mich dann schon mal ab!“

„Ich dachte, du kommst mit!“, protestierte Fusselbart.

„Ich hab Wichtigeres zu tun, als mit dir abzustürzen!“, erwiderte der andere und stand auf.

„Du bist schon im Sicherheitsbereich!“, rief der Fussel­bart hinter ihm her.

„Raus komme ich immer!“, rief der andere zurück.

Nach dem ersten Schock begann Hano zu überlegen. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Offensichtlich planten die beiden tatsächlich einen Sprengstoffanschlag. Mögli­cherweise sogar in seiner Maschine. Das konnte er nicht zulassen!

Er stand auf und schaute sich nach einem Sicherheits­mann um. Am Eingang des Wartebereichs stand ein Uni­formierter mit dem Rücken zu ihm. Die Buchstaben auf seinem Rücken wiesen ihn als „Security“ aus. Möglichst unauffällig ging Hano auf ihn zu und sprach ihn von hin­ten an: „Ich möchte Ihnen einen geplanten Anschlag mel­den!“

Der Security blickte ihn ungläubig an. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich habe gehört, dass zwei Männer ein Flugzeug in die Luft sprengen wollen. Einer hat große Mengen Spreng­stoff geschluckt und soll am Fenster sitzen, damit die Hydraulik zerstört wird – und er hat Allahu Akbar geru­fen, aber ganz leise!“, stotterte Hano.

„Er hat ganz leise gerufen?“, fragte der Uniformierte und betrachtete Hano wie ein Schaf mit zwei Köpfen.

„Ja, aber ich konnte es trotzdem hören“, er zog seine Stöpsel aus den Ohren, „mit den Ohrenstöpseln höre ich nämlich besonders gut.“

„So, so“, wiederholte der Sicherheitsmann, „mit Ohren­stöpseln hören Sie besser als ohne!“

„Ja“, bestätigte Hano. Endlich hatte der Mann ihn ver­standen.

Dieser sprach in sein Oberarmmikrofon: „Unterstützung Gate 5, Wartebereich!“

Eine quäkige Stimme antwortete, und Hano hatte wieder Probleme, diese zu verstehen.

Kaum eine Minute später kamen fünf weitere Guards herbeigeeilt. Der Wachmann vom Wartebereich zeigte nur auf Hano und meinte: „Hört euch mal seine Geschichte an!“ Dabei machte er eine eindeutige Hand­bewegung vor der Stirn. Für ihn schien die Angelegen­heit damit erledigt zu sein.

Die anderen Guards forderten Hano auf, ihnen zu folgen. Einer erfasste höflich aber bestimmt seinen Oberarm und bugsierte ihn quer durch die Halle in einen Überwa­chungsraum. Dort hörten sie sich geduldig seine erneute Schilderung an, ohne ihn zu unterbrechen.

„Können Sie die beiden Männer beschreiben?“, fragte der Anführer am Ende.

„Ja, einer trägt einen schwarzen dünnen Bart und hat den Sprengstoff geschluckt. Der andere hat rote Haare und einen roten Bart. Er sah eher wie ein Wikinger aus“, beschrieb Hano.

„Also ein Wikinger und ein Islamist!“, fasste der Anfüh­rer zusammen. Die anderen grinsten verhalten. Man schien ihn nicht ernst zu nehmen.

„Der mit dem Sprengstoff im Bauch sitzt noch im Warte­bereich! Schauen Sie doch selber nach!“, empörte sich Hano.

Einer der Männer drehte einen Monitor in Hanos Rich­tung. Dort war der gesamte Wartebereich zu sehen. Die beiden mutmaßlichen Terroristen sah Hano nicht.

„Dort hinten haben sie gesessen!“, erklärte er. „Der Rot­bärtige ist dann weggegangen.“

Der Wachmann tippte auf eine Taste und spulte die Auf­zeichnung zurück. Als er das Bild anhielt, sah Hano sich selbst den Wartebereich betreten. Er schaute sich um und setzte sich auf einen der bequemen Polstersessel. Das Ganze war völlig lautlos, denn ein Ton wurde offensicht­lich nicht aufgezeichnet. Zunächst studierte er die Anzei­getafel, dann schaute er in der Halle herum, bis sein Blick plötzlich an einer leeren Sitzgruppe hängen blieb. Er starrte erschrocken in diese Richtung – allerdings saß dort niemand. Keiner der beiden Männer war zu sehen.

„Können Sie mir die beiden Männer zeigen?“, fragte der Security.

Hano stammelte: „Aber … aber … dort hinten saßen die beiden! Ich habe sie deutlich gesehen! … und gehört!“, fügte er noch hastig hinzu.

Zum Beweis zog er die beiden Ohrstöpsel aus den Ohren.

Der Wachleiter schaute ihn mitleidig an und meinte: „Ich fasse mal zusammen, ob ich auch alles richtig verstanden habe: Sie haben mit Ohrstöpseln im Ohr ein Gespräch gehört, das zwei unsichtbare Männer in einer entfernten Ecke des Wartebereichs über einen angeblichen Spreng­stoffanschlag geführt haben sollen.“

„Aber die Männer waren wirklich da!“, protestierte Hano. „Ich habe sie laut und deutlich gesehen!“

„Laut und deutlich gesehen!“, wiederholte der Wach­mann.

Gehört natürlich!“, gab Hano zu. „Ich bin schon ganz durcheinander!“

„Das sehe ich!“, bestätigte der Uniformierte. „Die Flug­angst löst manchmal seltsame Empfindungen aus. Ent­spannen Sie sich einfach – es kann Ihnen überhaupt nichts passieren. Möchten Sie eine Beruhigungstablette haben, dann rufe ich den Bereitschaftsarzt.“

„Nein danke, nicht nötig!“ Langsam glaubte Hano selbst an eine Halluzination.

„Wenn wir Sie in den Wartebereich zurückbringen, kom­men Sie noch rechtzeitig zum Boarden.“

Hano nickte ergeben und ließ sich von einem Wachmann begleiten. Der Flug wurde gerade aufgerufen.

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