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Über den Wolken

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An einem der Gates drängte sich eine Gruppe von Passa­gieren um das Bordpersonal zusammen. Die beiden Flug­begleiterinnen der EasyAir achteten darauf, dass jeder Fluggast die Sensorplatte berührte. Erst wenn die grüne Lampe über dem Ausgang aufleuchtete, öffnete sich die automatische Glastür und ließ diese eine Person hin­durch. So war gewährleistet, dass wirklich nur die für diesen Flug vorgesehenen Passagiere an Bord kamen.

Auch Hano wurde hindurchgelassen. Durch einen Gang kam er direkt in das Flugzeug hinein. Im Eingangsbe­reich zeigte ein Schild mit der Aufschrift „Standard Class (SC)“ nach rechts, ein anderes „Upper Class (UC)“ nach links, und eine Treppe führte zur „Very Upper Class (VUC)“ nach oben. Die Einweisungsautomatik reagierte, ohne dass er einen Sensor berühren musste. Die Anzeige „SC“ blinkte grün, bis er den Durchgang zur Standard­klasse durchschritten hatte. Der Anblick dort war über­wältigend. Zwei Gänge führten bis an das Heck der Maschine und verbanden etwa 50 Sitzreihen miteinander. Die meisten Sitze waren schon besetzt, doch über dem Mittelsitz der fünften Reihe blinkte ein grünes Licht. Es lockte Hano förmlich an. Bereitwillig erhoben sich zwei Nonnen, die bereits saßen, und ließen ihn hindurch. Sobald er Sitzkontakt hatte, hörte das Blinken auf. Nun saß er zusammengefaltet auf dem mittleren von fünf Sitz­plätzen und konnte sich kaum regen. Schade, dass man für ihn keinen Platz in der UC gebucht hatte. Dort hätte er sicherlich mehr Beinfreiheit gehabt. Aber der Flug sollte ja nur acht Stunden dauern – von morgens um acht bis nachmittags um vier! Ortszeit natürlich! Das würde er noch aushalten. Aber da kam ja noch die Zeitverschie­bung dazu. Wie viel war das noch mal? Er glaubte, sich an acht Stunden zu erinnern. Musste man die abziehen oder zuzählen? Das hatte er noch nie begriffen.

Zum Glück roch er immer noch nichts. Die Ausdünstun­gen der vielen Menschen hätte ihm Unbehagen verur­sacht. Dafür nahm er die Gespräche noch überdeutlich wahr. Aber auch die hielten sich in Grenzen. Die meisten Passagiere starrten auf die vor ihnen angebrachten Moni­tore, wo gerade ein Willkommensspot ablief. Jeder Pas­sagier wurde sofort nach dem Platznehmen namentlich begrüßt und mit den Einrichtungen der Maschine bekannt gemacht. Selbstverständlich mithilfe der bereitliegenden Ohrhörer, sonst hätte es ein heilloses akustisches Durch­einander gegeben. So war es fast beängstigend ruhig in der Maschine. Kaum einer sprach mit seinem Sitznach­barn.

Hano schaute sich um. Jede Sitzreihe bestand aus elf Plätzen: fünf zwischen den Gängen und je drei zwischen Fenstern und Gang. Bei geschätzten 50 Reihen waren das allein 550 Plätze in der SC. Dazu kamen die Plätze in den beiden anderen Klassen. Das werden über tausend Passa­giere sein, denn alle Plätze waren besetzt.

Auf dem für ihn zuständigen Monitor zeigte ein digitales Girl in der EasyAir-Uniform, wie man die Ohrhörer aus der Tasche des Vordersitzes entnimmt und sich in die Ohren steckt. Das wiederholte sie geduldig mit immer den gleichen Bewegungen, denn Hano hatte sich noch nicht entschlossen, seine Ohrstöpsel gegen die Ohrhörer auszutauschen. Als er das tat, dröhnten die Fluggeräu­sche schmerzhaft in seine Ohren. Schnell setzte er die Ohrhörer ein und es wurde besser. Erleichtert atmete das Girl auf. Es sah erstaunlich echt aus. Ob sie ihn die ganze Zeit beobachtet hatte? Routiniert spulte die Dame ihr Programm ab, zeigte auf die Notausgänge (natürlich nicht während des Fluges), auf das Paket mit der Ret­tungsweste unter seinem Sitz und wie man diese bei Bedarf aufbläst. Auch auf die Atemmasken wurde hinge­wiesen, die man hoffentlich nicht benötigen würde. Ganz zum Schluss deutete sie noch diskret auf die Toiletten am Heck der Maschine hin.

Das löste bei Hano sofort einen unwiderstehlichen Drang aus, diese zu benutzen. Doch wie sollte er dort hinkom­men? Er saß genau in der Mitte. So oder so mussten jeweils zwei Sitznachbarn aufstehen.

Er verkniff sich vorerst den Gedanken daran.

Rechts von ihm zappelte ein etwa sechsjähriger Knabe neben seiner Mutter herum. Diese saß am Gang. Leider wurde Hano dadurch zum Opfer der Zappelei. Auf der linken Seite saßen die beiden Ordensschwestern. Er wollte sie nicht schon wieder hochscheuchen.

In diesem Moment wurde er von einer Lautsprecher­durchsage abgelenkt. Der Flugkapitän teilte mit, dass das Flugzeug jetzt starten würde.

Die Nonnen bekreuzigten sich und umklammerten das Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trugen.

Vom Start war nicht viel zu merken. Der Andruck ver­stärkte sich für eine kurze Zeit, dann war die Maschine auch schon in der Luft. Sofort holten die Schwestern kleine Gebetbücher aus ihren Taschen und begannen zu lesen. Hano überlegte, wie das möglich war, denn auch die Nonnen durften ja keine persönlichen Gegenstände mitnehmen. Das konnten also nur digitalisierte Kreuze und Gebetbücher sein. Ob diese dann auch die gleiche religiöse Wirkung hatten? Welche Wirkung eigentlich? Die Zwiesprache mit Gott? Die war auch ohne Gebet­buch möglich. Vielleicht dienten sie auch nur der Beruhi­gung. Vielleicht hatten sie ja auch Flugangst. Warum aber? Je höher sie kamen, desto näher waren sie doch bei Gott – oder im Himmel!

Plötzlich schämte sich Hano über seine makabren Gedan­ken. Aber was fiel einem auch alles ein in diesem Moment.

Außerdem hatte er ganz andere Sorgen. Sein Problem wurde immer „dringlicher“. Er wandte sich an den Kna­ben: „Hallo Kleiner“, sagte er, „ich müsste mal aufste­hen! Kannst du mich durchlassen?“

„Wo willst du denn hin?“, fragte der Kleine zurück.

„Der Herr muss mal Pipi machen, Heiner!“, erklärte die Mutter. Sie stand selber auf und zog den Knaben aus der Sitzreihe.

„Ich muss auch Pipi machen!“, verkündete Heiner laut­stark und rannte den Gang entlang nach hinten, gefolgt von seiner Mutter, diese wiederum gefolgt von Hano. Einige Passagiere beobachteten erstaunt diesen Wettlauf. Eine Flugbegleiterin stellte sich ihnen allerdings in den Weg und erklärte, dass Rennen im Flugzeug nicht erlaubt wäre. Das störte Heiner nicht. Er duckte sich an ihr vor­bei und schlüpfte in die Toilettenkabine. Noch ehe die Mutter reagieren konnte, hatte er schon von innen verrie­gelt.

Nun stand Hano mit ihr vor der Tür und trat von einem Bein auf das andere. Lange konnte er das nicht mehr aus­halten. Die Mutter rüttelte an dem Türgriff und rief: „Mach sofort auf, Heiner!“

Wer weiß, wie lange Heiner dieses Spiel noch fortgesetzt hätte, wenn nicht die Flugbegleiterin mit einem Spezial­schlüssel aufgeschlossen hätte. Schnell schlüpfte die Mutter hinein und verriegelte ihrerseits von innen. Das konnte noch ewig dauern!

Die Toilette auf der anderen Gangseite wurde frei. Eine gewaltige Dame schob ihre Leibesmassen heraus. Hano rannte erleichtert hinüber, doch ein Mann kam ihm zuvor. „Wir gehören zusammen!“, verkündete er und verschwand in der Kabine. Wieder nichts mit der Erleichterung! Hano eilte zurück auf die andere Seite, wo sich nun aber eine andere Frau aufgestellt hatte. „Hinten anstellen!“, fauchte sie ihn an. In diesem Moment steckte Heiner seinen Kopf durch den Türschlitz und wurde von seiner Mutter herausgeschoben.

„Wir gehören zusammen!“, rief Hano verzweifelt und drängte nun seinerseits hinein. Das tat gut!

So schnell wollte er aber diesen Ort nicht wieder aufge­ben. Sollte doch die Frau, die ihn so angefaucht hatte, noch eine Weile schmoren!

Hano wollte in Ruhe wieder seine Ohrstöpsel einsetzen, denn in der Eile des Aufbruchs hatte er nur den Stecker der Ohrhörer aus der Buchse gezogen. Nun hingen ihm die Kabel zu beiden Seiten aus den Ohren heraus. Das sah lächerlich aus. Er entfernte sie und fummelte die Stöpsel aus der Reverstasche, um sie einzusetzen. Das klappte beim ersten, doch dabei entglitt ihm der zweite und fiel in die Toilettenschüssel. Dort lag er in der blauen Flüssigkeit, die sich nach dem Spülen wieder angesam­melt hatte. Erschrocken starrte Hano hinein, ebenso erschrocken über das, was sich in seinem Kopf abspielte. Ein Ohr war bereits durch den Stöpsel gedämpft, das andere den Umweltgeräuschen vollkommen preisgege­ben. Es war ein fürchterliches Gedöns im Kopf. Das konnte er unmöglich lange aushalten!

Zum Glück hatte Hano schon gespült. Deshalb hatte er jetzt keine Bedenken, herzhaft hineinzugreifen, um sei­nen Stöpsel zu retten.

Das hätte er lieber nicht getan – zumindest nicht mit der rechten Hand! Ein heftiger Schmerz zuckte unter die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, genau dort, wo sein ID-Chip eingepflanzt war.

Erschrocken zog er die Hand zurück, hatte den Stöpsel aber schon ergriffen. Sorgfältig spülte er ihn unter dem Wasserhahn ab, gleichzeitig auch seine Hand. Die Schmerzen ließen etwas nach und wurden erträglicher. Mit einem Papiertuch trocknete er den Stöpsel ab und setzte ihn wieder ins Ohr. Jetzt fühlte er sich besser, und im wahrsten Sinne des Wortes „erleichtert“ schlenderte er zu seinem Platz zurück.

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