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Kapitel 4: Die Trauer auf dem Mars und die unerwartete Ankunft des Gelobten

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Er war so schnell angereist, wie er nur konnte. Trotz seines Alters und angeschlagenen Gesundheitszustandes eilte Okorimashita Endoxa im Beisein seines Stabes, so schnell es ihm nur irgend möglich war, durch die überdimensionale Haupthalle des unterirdischen Chrysoberyll-Tempels. Er nahm aus den Augenwickeln Notiz von den alten Darstellungen, welche rasch an ihm vorbeizogen. Die grösste der vielen, kunstvoll aus feinem Malachit ausgearbeiteten Mosaikdarstellungen stellte den Gott Mars dar, wie er seine Feinde unter seinen Füssen niederwarf. Die Tempelhalle war so hoch, dass man das Dach des Gebäudes kaum erkennen konnte und es kam an und ab sogar vor, dass aufgrund der Weitläufigkeit Feuchtigkeit in dem monumentalen Raum zu Dunst kondensierte und ein leichter Nebel in Bodenhöhe auftauchte. Lichtquellen gab es nur wenige, vor allem in Form von Sonnenstahlen, welche durch die grossen lilafarbenen Quarzfenster Einlass in den Tempel fanden und durch das Feuer einzelner Fackeln, welche in der Wand in ihren Halterungen steckten. Der Tempel war mit Schaulustigen gesäumt und der tiefe Trauergesang, der in orangenen Roben gehüllten Tanvedra-Bruderschaft erfüllte die Halle. Die Tanvedra war eine neue populäre Sekte von Stoikern, welche jegliche genetischen Verbesserungen oder lebensverlängernde Massnahmen strikt ablehnten und das Werk „Selbstbetrachtungen“ des antiken römischen Philosophenkaisers Marcus Aurelius als ihre heilige Schrift akzeptierten. Die Überreste der Toten waren auf einigen auf das hastigste aufgestellten Steintischen aufgebahrt worden. Einem uneingeweihten Zuschauer musste die offene Zurschaustellung von verbrannten Knochen und Asche pietätlos erscheinen. Für die Marsianer jedoch war dies die konventionelle Totenpraktik. Geschlossene Särge aus Stein kannten die Marsianer nur für Könige und selbst dann erst nach der zeremoniellen Totenfeier. Okorimashita driftete mit den Gedanken ab vielleicht war die ganze Situation zu viel für ihn gewesen. Er empfand einen erschütternden Kummer. Hier hatte er seine Eltern und seine jüngeren Geschwister nach einem schrecklichen Shuttleunfall zu Grabe tragen müssen. Hier lag die Gruft aller seiner Ahnen. Auch seine jung verstorbene Frau Sadgynaika hatte hier ihre letzte Ruhe gefunden. Sollte er an diesem Ort nun auch noch unter Kummer sein einziges, geliebtes Kind der gerechten Gnade der Götter übergeben müssen? Er erreichte den Altar des Saals und traf dort den Hohepriester Prosefchetai Taneb und den Kommandanten des Militärstützpunktes, welche das Wrack der Barke zuerst gefunden hatten. Taneb war ganz in schwarz gekleidet (die Trauerfarbe der Marsianer) und schwang einen Eisenstab in der Luft herum und fuchtelte mit den Armen in Richtung des Himmels.

„Ich habe euch stets gewarnt, dass ihr zu naiv und schwach seid. Ihr wolltet immer nur verhandeln. Verhandeln, verhandeln, verhandeln! Das Schwert habt ihr seit langem verabscheut! Seht jetzt die Früchte eurer Taten, mein König! Die Götter sind erzürnt! Sie haben grosses Unglück über uns verhängt! Über uns alle, um euch für euren mangelnden Respekt für den Krieg, den Vater aller Dinge, zu bestrafen! Nur Blut kann die Götter jetzt noch besänftigen! Leben für Leben. So will es das alte, ungeschriebene, heilige Gesetz! Wir müssen die Götter wieder besänftigen oder unter den Beinen unserer Feinde zertrampelt werden!“

Okorimashita keuchte immer noch wie wild und machte eine impulsive, stark abweisende Geste gegenüber Taneb.

„Haltet Euren Mund, Taneb! Ich bin jetzt nicht in der Stimmung für Eure lächerlichen Anschuldigungen!“

Mit einer drohenden Geste richtete der Hohepriester seinen Stab auf ihn und ballte seine Hand zur Faust.

„Wir alle wissen, dass es wahr ist, Okorimashita. Seht euch um. Öffnet Eure Augen und überprüft Eure anderen Sinne! Die Götter sind nicht minder wütend als Euer eigenes Volk!“

Endoxa sah sich in dem Raum um, blickte in die verurteilenden und wütenden Gesichter der Menschen. Da war tatsächlich tiefe Ablehnung und Verurteilung in ihren Ausdrücken. Manche der Adeligen versuchten ihre Abscheu durch aufgesetztes Lächeln gegenüber dem König zu verbergen, was ihnen jedoch mehr schlecht als recht gelang. Es war eine bizarre Szene: die eigentlich den Krieg und Tod gleichermassen hochschätzenden Marsianer waren durch die Attacke völlig verunsichert worden und empfanden nun eine ehrlich empfundene Trübseligkeit. Kommandant Revinta machte einen Schritt auf den Herrscher zu. Auch er hatte sich entsprechend den Trauerritualen mit einer schwarzen Rüstung und einem schlichten, roten Umhang bekleidet.

„Eure Majestät, wir haben das Wrack etwa eine Stunde nach dem Angriff entdeckt und geborgen. Wir wurden auf den Verbleib aufmerksam, weil das Schwebeschiff der Prinzessin auf seiner Rundreise eigentlich mehrere Städte hätte passieren sollen. Den Ureinwohnern des Nordpols war das Verspäten der sonst so pünktlichen Prunkbarke als erstes aufgefallen. Ich wurde umgehend informiert und sandte einen grossen Suchtrupp aus, welcher letztlich auch fündig wurde.“

Der König ergriff den Kommandanten am Brustharnisch und schüttelte ihn durch:

„Wo ist meine Tochter? Vergesst den Rest fürs erste. Wo ist sie? Welches der Opfer ist sie?“

„Keines, eure Majestät. Wir konnten ihre Überbleibsel nirgends aufspüren. Wir gehen stark davon aus, dass man die Prinzessin in voller Absicht entführt hat.“

Auf Okorimashitas Schultern fühlte es sich etwas leichter an. Sie war also entführt worden? Das musste bedeuten, dass zumindest noch eine Chance bestand, dass sie noch am Leben sein könnte. Wer würde schon eine so verwegene Aktion mitsamt ihrem Verschwinden durchführen, wenn man sie nicht lebend gefangen nehmen wollte? Hätte man sie wirklich nachhaltig töten wollen, hätte man diesen Endpunkt der Planung auch durch Raketen, aus sicherer Distanz, erreichen können oder durch einen gezielten Schuss aus einem höheren Orbit. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Zunehmende, zärtlich aufkeimende Hoffnung erwuchs in seinem Herzen.

„Herr, da ist noch mehr. Seht bitte selbst.“, Der Kommandant deutete auf ein verbranntes Skelett, welches auf einem der Tische ausgebreitet lag. Die verkohlten Reste der Rüstung und die fast unkenntlich gewordenen Rangabzeichen identifizierte Okorimashita sofort: dies mussten die sterblichen Überreste von Kelkantos Benevarius sein. Der alte König verdrängte eine Träne und näherte sich dem Leichnam langsam. Er berührte die Seite des Schädels behutsam und verehrend mit der Fläche seiner Hand.

„Mein alter Freund. Mein treuer Begleiter in ach so vielen Kämpfen und nicht minder vielen Scharmützeln. Langjähriger und uneigennütziger Beschützer meiner Tochter. Möge Charon deine Seele gut über den Fluss Styx in die Unterwelt führen.“

Er legte ein Grabtuch über den Schädel. Danach platzierte Okorimashita zwei Goldmünzen auf die Augenregionen. Anhänger der Tanvedra-Bruderschaft klatschten dazu rhythmisch in die Hände, während das Ganze mit dem tiefen Bassgesang eines ihrer älteren Mitglieder untermalt wurde. Okorimashita fühlte sich in diesem Augenblick unbeschreiblich alt. Er erblickte eine Reflektion seiner selbst in einer den Gott Mars verkörpernden, aus schwarzem Granit bestehenden Stehle. Was war nur mit ihm geschehen? Konnte das wirklich er sein? War er das, dieser uralte Mann mit der ledernen Haut eines Elefanten, der ihn da anblickte? Wo war seine jugendliche Erscheinung nur hin verschwunden? Chronos hatte sie verzerrt, der unerbittliche Zahn der Zeit an ihr genagt. Erinnerungen an alte Heldentaten und Feiern überkamen ihn. Er hatte als nur zehnjähriger Junge sich vielen Duellen gestellt und sogar einen der älteren, erfahrenen Krieger mit einem Metallstock erschlagen und dies obwohl sein hünenhafter Gegner das Doppelte seiner Grösse und eine scharfes Schwert besass. Er hatte den abgeschlagenen Kopf des Mannes auf demselben Stock, mit dem er ihn getötet hatte, aufgespiesst in seiner Heimatstadt umherparadiert. Der kleine Prinz hatte damit grossen Respekt von den Älteren geerntet, auch von seinen Grosseltern mütterlicherseits, welche niedere Adelige aus der Provinz waren. Sein Grossvater war vom Stolz förmlich übermannt worden. Über Okorimashitas unerwarteten Triumph im Duellkampf war er so sehr erfreut gewesen, dass er einen eingravierten Erinnerungsstein an dem Ort des Geschehens hatte anbringen lassen. Seine Erbin hatte für ihn einen ledernen Lendenschurz anfertigen lassen, welcher an die Kleidungsstücke der älteren Krieger erinnerte und in alter Schrift seinen Erfolg mit den Worten „Der alles erzittern lassende Mars steht diesem Knaben in seinen Taten bei“ verkündete. Bei dieser Rückschau sah er wieder die fröhlichen Gesichter seiner lange verstorbenen Familienmitglieder vor sich. Mit nur zwanzig Jahren war er später der König des unter seinem Vater vereinten Mars geworden. Wie oft hatte er sich gegenüber seinen Stammesmitgliedern in halsbrecherischen Aktionen beweisen müssen. Aber wohin hat das alles letztendlich geführt? Seine Tochter war fort und nun hasste ihn sein Volk für sein, ihrer Meinung nach, „Weiches“ Herz. Sein einstiger Ruhm und seine Errungenschaften waren in Vergessenheit geraten. Nicht wenige im Volk wünschten sich jetzt den viel bewunderten Omnios vom Jupiter als neuen Herrscher. Er würde den Mars reich machen und wieder zu alter Grösse führen, hiess es. Endoxa runzelte die Stirn. „Sie würden tatsächlich einen fremden Mann vom Jupiter ihrem eigenen König vorziehen, der aus ihrer Mitte stammt“, dachte er. Wut stieg in ihm auf. Wie viel hatte er dem Mars und seinen Leuten geopfert? Wie viel Blut hatte er für die Marsianer verloren wie viele Narben davongetragen, nur um diese dann durch die rückständigen und schmerzhaften Behandlungsmethoden der marsianischen Heilkunst wieder gesunden zu lassen? Bereits als kleines Kind hatte er durch den harten und stets mit blutvergiessenden Auseinandersetzungen gezeichneten Leben nicht wenige schwere Wunden davongetragen. Sein Blick fiel auf eine Narbe an seinem linken Arm, welche ihn von seinem Cousin während dem Waffentraining mit einem Dolch beigebracht worden war, als er fünf Jahre alt war. Die Leute stellten sich ihn als einen im Luxus schwelgenden Hedonisten vor, aber das war er nie gewesen. Eine Schlafmatte reichte ihm als Bett und er ass niemals mehr, als was sein Körper brauchte. Den Festgelagen war er meistens fern geblieben, um sich im meditativen Gebet dem Gott Mars in dessen Tempel widmen zu können. Einen Harem hatte er ebenfalls nicht gekannt, Sadgynaika war seine einzige Liebe gewesen, obwohl ihm als König das Recht auf viele unterschiedliche Sexualpartner zugestanden hätte. Ja, so dankte man ihm seinen streng spartanisch gehaltenen Lebensstill letztendlich: indem man ihn als schwachen, nur nach weltlichen Gelüsten schwelgenden Idioten darstellte. Die Leute verwechselten ihn scheinbar mit seinem Grossvater väterlicherseits, König Milos Endoxa, der ein unentschuldbarer Spieler, Lustmensch als auch in allen anderen Bereichen unverzeihlich verkommener König gewesen war. Okorimashitas Vater Pyron selbst war einer wilden Nacht nach einem langen Fress- und Trinkgelage des alten Königs mit einer Dienerin entsprungen. Okorimashita erinnerte sich, wie sehr er den alten Mann verachtet hatte. Für ihn war er der pure Ausdruck von perversester Dekadenz gewesen. Als er ihn einmal als Kind in seinem Palast besucht hatte, war der Alte wie üblich wieder einmal betrunken gewesen. Er hatte Okorimashitas für sein junges Alter sehr stark ausgeprägten Bauchmuskeln gesehen und fuhr ihm mit seiner ringbesetzten Hand über den Bauch. „Wozu brauchst du das, mein Junge? Willst du etwa auf der Erde einen Schönheitswettbewerb gewinnen?“ hatte der alte Mann zynisch gefragt. Gelächter war durch die geladene Menge gegangen. Okorimashita hatte innerlich gekocht. Milos war von seinen Beratern zweifellos über seine Erlebnisse aufgeklärt worden, aber an Stelle, dass er ihn lobte, verhöhnte er ihn in seinem Thronsaal vor den Augen aller Adelshäuser. Er empfand immer noch Wut in seinem Herzen über diese Zusammenkunft sein Vater versuchte zu vermitteln, indem er ihm weismachen wollte, dass sein Grossvater, wie immer, angetrunken gewesen sei und dass seine ihm entgegengebrachte Geringschätzung ein Werk seiner elenden Trinkerei sei. Aber Okorimashita kannte die Wahrheit hinter den ermunternden Worten seines Vaters: der Alkohol hatte seine Worte nicht verdreht, stattdessen hatten die Gebräue die wahren Ansichten des alten Mannes freigelegt diese witzelnden Aussagen hatten letztlich doch seinen tatsächlichen Ansichten entsprochen. Milos kannte keinen Respekt für irgendjemanden oder irgendetwas. Als ihn die Nachricht vom Ableben seines Grossvaters erreichte, war er darüber ausgesprochen erheitert gewesen, was ihm später jedoch leidtat, denn immerhin verdankte er dem alten Mann, trotz aller Differenzen, seine eigene Existenz. „Er war ein altersschwacher Trottel gewesen“, hatten die Leute gemunkelt, als Milos Sarkophag durch die königliche Stadt getragen wurde. Sahen ihn nun die Leute mit einer solchen Geringschätzung, wie er einst auf seinen Grossvater heruntergeblickt hatte? Sah man ihn als wahrhaften Enkel in der Linie von Milos, „dem Dekadenten“? Er griff sich an die Stirn. Nach allem? Nach all den vielen Heldentaten und seinem endlosen Streben nach Ruhm und Ansehen sah man in ihm trotz allem nur den König Milos in Blut und Treiben beerbenden Enkelsohn? Er wurde jäh aus seinen Assoziationen gerissen, als ein kleiner Junge ausser sich in den Tempel gerannt kam. „Herr! Herr! Hört meine wichtigen Worte! Der Gelobte ist aus der Wüste gekommen und ist auf dem Weg hierher!“ Hohepriester Taneb nickte zustimmend, während sich Kommandant Revinta betend auf die strammen Knie warf. Okorimashita zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Er traute seinen Ohren nicht. Nach all den Jahren? Nach all den Jahren verliess der Gelobte seinen Berg Olympus Mons in der Wüste und kam nun hierher? „Mein Herr, mein Herr!“ rief der Junge sichtlich aufgebracht. „Was sollen wir tun?“ – Die Antwort brauchte er nicht lange abzuwarten: „Bereitet sofort alles für seine heilige Ankunft vor.“ Über die zu aggressiven, zorneserfüllten Fratzen verzogenen Gesichter kam mit dem Eintreffen der Nachricht auf einmal Erleichterung und sogar Entrücktheit. Auf einmal hatte sich der mit Verzweiflung und Bekümmernis gefüllte Tempel mit den aufgebahrten Leichen in eine enthusiastische Feierhalle voller religiös empfundener Zuversicht gewandelt. Dieses hochgeachtete Wesen, der „Gelobte“ (auch der „Geheiligte“), der Marsianer war in Wahrheit eine aufrechtgehende, sprechende Amphibie, bekannt bei Nicht-Marsianern vor allem als „Violetter Frosch vom Mars“. Der violette Frosch vom Mars war, wie der Name bereits andeutete, ein etwa zweieinhalb Meter grosser, ausserordentlich dünner, anthropomorpher Frosch mit einer violett schimmernden Haut und für viele war er Heiliger und Prophet zugleich. Er war den Marsianern in schweren Stunden oft zu Hilfe geeilt, hatte scheinbare Wunder vollbracht und sogar Umweltkatastrophen vorherprophezeit. Was er genau war, wusste niemand wirklich. Da keines der bekannten Genlabore im Sonnensystem jemals solche Froschwesen wie ihn produziert hatte und er sogar älter als die ältesten Klonanalgen der Menschheit zu sein schien, hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er in Wirklichkeit ein Ausserirdischer sei vielleicht sogar einer der ursprünglichen Bewohner des Mars, der den Untergang seiner Zivilisation in einem unterirdischen Bunker - vielleicht in einer Stasiskammer ausgeharrt hat und dadurch überlebt haben soll. Da es niemanden gab, der sich an seinen ersten Aufritt erinnern konnte und selbst die meisten der am allerfrühesten angelegten Mars-Chroniken ihn, wenn auch nur ganz beiläufig, erwähnten, musste er ungezählte Jahrtausende alt sein. In der Marskultur war, ausser dem Gott Mars selbst, niemand so sehr bewundert und verehrt worden, wie der legendäre violette Frosch. Kommandant Revinta erhob sich wieder und rief vor dem König einen dreidimensionalen, holographisch erstellten Bildschirm auf: eine feiernde, tanzende, die ganze Wüstenstrasse und die dahinter liegende Landschaft quer überziehende Menschenmenge begleitete die kapuzentragende, durch einen zerrissenen, braunen Umhang bedeckte Gestalt mit den zerbrechlich dürren, violetten Gliedmassen. In seiner linken Hand hielt der vielgepriesene Gelobte einen hohen, langen Holzstock, was nur schon durch das Fehlen von holzspenden Bäumen auf dem Mars erstaunlich genug war. Das Wesen lief völlig barfuss, ohne jegliche Fusskleidung, durch den feinen, roten Sand. Okorimashita wurde nervös, er ertappte sich dabei, wie seine Haut erschauderte. Er war dem hohen Besucher in den tausend langen Jahren seines Lebens noch nie persönlich begegnet, hatte aber viel über ihn gehört und gelesen. Offenbar hatte er jeden, mit dem er jemals zusammengetroffen war, in tiefes Staunen versetzt. Rasch herbei geeilte Wächter informierten den König, dass der verehrte Gast nun vor dem Tempeleingang eingetroffen war. Er war da. Wie rasch das ging! Die Wachen öffneten mit vereinten Kräften die schweren, mit kostbaren Darstellungen gezierten Stahltore. Okorimashita sah, wie die grosse Gestalt des Gelobten mit seinen Begleitern den Chrysoberyll-Tempel durch den massiven Torbogen betrat. Der Frosch schlug mit seinem Stock auf den kalten steinernen Boden auf, während er nach vorne in Richtung des Altars lief. Durch das Aufklopfen konnte man seinen Standort in dem unübersichtlichen Raum besser erahnen. Endlich traf er weiter vorne ein. Es herrschte völlige Stille alle Anwesenden starrten stumm und bedächtig auf den exotischen Wanderer. Das Geleit aus Menschen folgte ihm ebenfalls tonlos. Da waren Marsianer aller Art: Krieger, Schmiede, Ärzte, Köche, Piloten, Soldaten, niedere und höhere Dienerinnen, Ammen, Mönche und Schwestern aus Klöstern, Adelige, Bürger, Reiche, Arme, kleine Kinder, die teils getragen und an den Händen geführt werden mussten, Jugendliche, junge Paare, schwangere Frauen, Leute fortgeschrittenen Alters und sogar Uralte, welche an Stöcken gehen mussten. Da gingen reiche Händler und arme Bettler nebeneinander wie vertraute Geschwister. In seiner Gegenwart schienen die Menschen ihre Ränge und die damit verbundenen gesellschaftlichen Trennwände zu vergessen. Menschen verschiedenster Stellungen hatten sich nahtlos in Reih und Glied gestellt. Das Beieinander alleine hatte einen über alle Massen beachtlichen Anblick geboten, aber mit dem Geheiligten an seiner Spitze wirkte es wie die Erfüllung einer mystischen Prophezeiung. Auf dem Gesicht des Wesens, welches nach und nach mit dem Näherkommen unter der Kapuze teilweise deutlicher sichtbar wurde, liess sich keine menschliche Mimik ausmachen. Es gelang dem verdutzen König nicht festzustellen, ob der flache Kopf mit dem breiten Maul und den hervortretenden Augen ihn direkt ansah oder nicht. Der Gelobte und seine Begleiter kamen kurz vor dem König zum Stand. Totenstille herrschte. Die sich über ihn erhebende Gestalt verdunkelte den wesentlich kleineren Okorimashita. Eine Aura alldurchdringender Heiligkeit erfasste Endoxa, als ob er förmlich darin gebadet wurde. Wunder über Wunder. Der Frosch zog langsam seine braune Kapuze zurück, was seine gelben Linsenaugen noch besser zur Geltung brachte.

„Da ist grosser Schmerz in dir, König des Mars, Sohn des Pyron, Sohn des Milos. Ich fühle gleichwohl den Frust in deiner Seele. Verbitterung kann ein tödliches Gift sein“, sagte die hagere Erscheinung. Der König blieb wie angewurzelt und versteinert stehen. Er vernahm eine sanfte, aber dennoch kraftvolle menschliche Stimme gleich der eines liebenden, älteren Ahnens. Aufgrund des Äusseren des Gelobten hatte er einen quakenden, amphibienhaften Bass erwartet.

„Herr… verzeiht ich hoffe, dass alles Euren Wünschen entspricht. Wir hatten leider nur wenig Zeit, um ein wenig aufräumen zu können. Ich hoffe inständig, dass die Leichenreste Euch nicht stören.“ Der Frosch warf einen Blick auf Kelkantos Benevarius Leiche. „Sein Verlust trifft dich besonders“, meinte er. Dann berührte er das Skelett mit seinem Stock.

„Erwache! Der König braucht dich und die deinen jetzt mehr als jemals zuvor. Entsage dem ewigen Schlaf, zumindest für eine Weile.“

Kaum waren die Worte gefallen, erschien urplötzlich flüssiges Gewebe und Fleisch auf den ausgebrannten Leibern und lief wie ein nach oben, gegen die Schwerkraft fliessender Wasserfall über die Gebeine, bis sie ganz davon überzogen waren. Dasselbe lief bei allen anwesenden Toten ab. Der König wusste nicht, wie ihm geschah. Das, was er nun mit seinen eigenen Augen mitverfolgte, übertraf alles, was er jemals gesehen oder gehört hatte. Sogar die zu Asche verbrannten Opfer setzten sich allmählich wieder zusammen: der Knochenstaub und die Splitter wurden wieder zu ganzen Knochen und wuchsen danach zu vollständigen Menschenleibern zusammen. Der Geheiligte hatte durch ein Wunder alle von der Feuerbrunst und den infernalischen Explosionen entstellten Körper ohne eine irgendwie sichtbare Technologie wiederhergestellt. War dies etwa ein metaphysisches Wunder? Oder hatte der Frosch womöglich doch Zugriff auf unbekannte ausserirdische Technologien? Von aussen waren keine medizinischen Apparaturen auszumachen oder andersartige Maschinen sichtbar. Gleichwohl welche der Erklärungen wahr war, ging der König des Mars vor dem namenlosen Gelobten auf die Knie, um seinen tiefen Dank und seine Wertschätzung zu verkünden.

„Verzeiht meine Unwissenheit. Ich hatte keine Ahnung Ihr seid so durchdrungen von Heiligkeit und voller Wunder, wie es mein Volk mir berichtet hat. Vergebt einem alten Mann seine Zweifel.“

Kelkantos öffnete langsam seine Augen und blickte den König an. „Mein Herr, Ihr seid auch gestorben? Weilen wir beide im Totenreich?“

Okorimashita nahm ihn freundschaftlich in den Arm. „Alter Freund, du warst tot. Nun nicht mehr. Es ist ein Wunder!“

„Die anderen? Sind sie auch in das Leben zurückgekehrt?“ Er stammelte etwas und wirkte desorientiert.

„Ja. Der Gelobte ist von seinem Berg gestiegen, um euch erneut zum Leben zu erwecken.“

In dem Tempel herrschte grosse Freude die eigentlich wegen der Trauer angereisten Familienmitglieder konnten nun ihre wieder lebendig gewordenen Verwandten in ihre Arme schliessen. Auch „Anilikos“ Ereborn, der schrecklich hingerichtete Pilot, sah nun seine geliebte Mutter wieder. Lobgesänge erklangen selbst die sonst so von Selbstbeherrschung regierten asketischen Tanvedra-Brüder stimmten in die Lieder mit ein.

Der violette Frosch richtete sich zu Okorimashita: „Höre meine Worte, König des Mars. Höre meine Warnung. Ein gewaltiges Unglück wird Euer Sonnensystem schon bald erschüttern. Bereitet euch vor.“

„Dieser neue Jupiter-Kaiser…“

„Nein.“

„Nein?“

Der violette Besucher schwieg und erteilte keine weitere Auskunft. Der König dachte über seine Worte nach. „Ein grosses Unglück also. Vielleicht ein interstellarer Krieg?“ - In seinem Kopf dreht sich alles. Inzwischen waren Aethas und seine Gruppe eingetroffen und wurden zu dem König vorgelassen. Ihr Shuttleschiff hatten sie einige Meter vor dem Tempeleingang auf einem Hügel parkiert. Aethas hatte sofort in Verdacht, wer der König war. Dort stand, neben einer rätselhaften Erscheinung, ein dem Gesicht nach älterer Mann in einem Lendenschurz, dessen Haupt eine simple Krone aus Gold, etwa in der Grösse eines Kopfreifens, zierte. Obwohl er über tausend Jahre alt war und an einer, wie man hörte, tödlichen Krankheit litt, wirkte der König gesammelt und verfügte über den athletischen Körperbau eines jungen Mannes, obwohl sein Gesicht wesentlich gesetzter erschien. Er entsprach nicht dem Bild eines fragilen alten Greises, den Aethas anzutreffen erwartet hatte. Offenbar hatte der König dank der genetischen Augmentationen hervorragend gealtert. Okorimashita Blick traf Aethas ebenso und stellte nicht minder angelegte Bewertungen an. Aethas schien dem König sehr jung zu sein er trug einen einteiligen, schwarz geplätteten Schuppenpanzer mitsamt Schutzhelm und Respirator und einen grossen, weiten Multifunktionszweckgürtel, an welchem unterschiedliche Hilfsmittel und Waffen aller Art befestigt waren. Begleitet wurde er von einem hoch aufgeschossenen Schakal-Lykanthropen und einer Neoanthropoden Echsenfrau sowie einer seltsamen, schwebenden, offenbar kugelrunden Metallkiste. Alle der kleinen Truppe, bis auf den Roboter, waren, aufgrund der feindlichen Umgebung des Mars, auf die Nutzung von Lebenserhaltungssystemen angewiesen. Okorimashita hielt kurz inne und leckte sich die staubtrockenen Lippen. Hatte man ihm, trotz seiner flehenden Bitte um Hilfe, nur diese Grünschnäbel geschickt? Das mussten ja fast noch Kinder sein. Wollten ihn die Mitglieder der stellaren Liga mit dieser Aktion verhöhnen? Oder steckte mehr in diesen Jugendlichen da, als was das Auge sah? Die bunte Truppe trat zum Treppenaufgang, welcher zum Altar führte. Revinta stellte den König vor: „Ich möchte Ihnen seine königliche Majestät, Okorimashita Endoxa, den Herrn des Mars sowie Nummer CLXXI in der langen Erbfolge der Endoxa-Dynastie vorstellen.“ Aethas verneigte sich und wies seine Begleiter an es ihm gleichzutun. „Verehrter König Endoxa, geehrte Mitglieder der hohen Häuser, liebe Bürger des Mars. Mein Name ist Aethas Enaretos ich bin ein Spezialagent der stellaren Liga und operiere mit meinem erprobten Team in schier aussichtlosen Notfällen, wie Entführungen und Geiselnahmen. Wenn Sie erlauben, möchte ihnen meinen Piloten und Technikexperten Skylos sowie unsere Kundschafterin und Spionin Klimaka vorstellen. Unser schwebender Begleiter ist Vikendios, der Arzt unserer Eliteeinheit.“

Der König setzte sich auf einen Stein-Koloss, welcher oberhalb der steinernen Stufen und unterhalb des Altars stand. „Meine Tochter wurde entführt. Vielleicht von Rebellen aus den Gewürzminen, von unzufriedenen Schneckenfarmern oder Piratenpack aus dem Asteroidengürtel. Wer auch immer dahinter steckt, wollte uns grossen Schaden zufügen. Ich vermute, dass der Mistkerl Henoch Lakkos vom Merkur in die Sache involviert sein könnte. Er ist immer noch darüber aufgebracht, dass die Handelsgilden, aufgrund der gefährlichen Route vom Mars zum Merkur, ihre Lieferkosten erhöht haben.“

Aethas war bereits zu Beginn der merkwürdige Gast aufgefallen. Der Frosch lehnte sich auf seinen Stock und betrachtete aufmerksam den Menschen und seine kleine Truppe. Endoxa verbeugte sich und hielt seine flache Hand in Richtung des Frosches: „Vergebt mir. Erlaubt mir unseren hohen Gast vorzustellen: er ist bei uns unter verschiedenen Namen bekannt, darunter „Der Gelobte“, „Der Geheiligte“ oder „Der Heilige vom gewaltigen Berg Olympus Mons“. Er ist uns zugleich Schutzpatron und Prophet. Wir sind übrigens gerade Zeugen seiner Heiligkeit geworden. Der Gelobte hat die bei dem Angriff verstorbenen Krieger und Diener wieder zum Leben erweckt! Es ist ein wahres Wunder!“

Vikendios schwebte über dem Vorsprung, welchen ihn von den Wiedererwachten trennte und tastete sie ausgiebig und gewissenhaft mit seinen Sensoren ab. Danach machte er schlagartig kehrt und flog zu Aethas zurück. „Ich kann keine Wunden erkennen. Zumindest keine frischen. Bei einigen sind alte Knochenbrüche verheilt, welche sie offenbar als Kinder erlitten haben. Aber es gibt keine Anzeichen, dass diese Menschen jemals tot waren. War das womöglich eine visuelle Täuschung ähnlich einer Luftspiegelung eine Fata Morgana?“ Der König reagierte verärgert. „Wie kann es Eure Blechschachtel nur wagen den Heiligen und seine Wundertaten in Zweifel zu ziehen? Wir haben alles gesehen. Es waren verkohlte Überreste. Sie waren tot. Alle waren tot“, schnaubte der König und es schien als wollte er am liebsten nächstens zur Klinge greifen. Als seine Hand den Griff seines Schwertes umklammerte und dieses just aus der Schneide ziehen wollte, legte der Frosch behutsam seine Hand auf die des Königs und hinderte ihn so daran sein Schwert zum Einsatz kommen zu lassen. „Nein. Bitte kühlt Euren Zorn. Es ist heute wahrlich genug getötet worden. Gesegnet sind jene, die mit eigenen Augen die Wunder gesehen haben. Nehmt es diesen Aussenweltlern nicht übel, denn sie sind Kinder und schwach im Geiste. Schenkt Ihnen das Leben. Ich bitte Euch.“

Enaretos hob entwaffnend seine Hände. „Bitte wir wollten Euch nicht beleidigen. Mein Roboter hat nur eine medizinische Diagnose durchgeführt. Er wollte Euch oder den Heiligen vom Berg damit nicht kränken oder in Zweifel ziehen.“

Der König erbebte förmlich. „Ihr habt grosses Glück. Zu Ehren des Heiligen werde ich Euch verschonen. Wären dies andere Umstände, so würde ich euch vierteilen und auf kleiner Flamme schmoren lassen. Wir haben kein Verständnis für Frevler und Lästerer. So will uns also die stellare Liga helfen? Indem sie uns solche beleidigende Bastarde schickt, die unsere Kultur mit Füssen treten? Die unseren Heiligen verunglimpfen?“ Die Menschen im Tempel reagierten ebenfalls aufgebracht und der Hohepriester Prosefchetai Taneb sprach einige wüste Verwünschungen aus. Kelkantos Benevarius erhob sich von der Steinplatte, auf welcher er vorher noch als Leiche gelegen hatte und packte Aethas mit einem harschen Griff am Oberarm.

„Hört her, ihr Narren. Ich war tot. Ich habe die Tore des Totenreiches erblickt. Ich lege hiermit Zeugnis darüber ab, dass ich durch ein Wunder wieder ins Leben kam. Ich war tot. Ich habe meine letzten lebendigen Sekunden ganz bewusst erlebt. Ich habe das Feuer gesehen, welches meinen Körper verzerrt hat.“ Danach stiess er Aethas ohne Vorwarnung von sich, so dass dieser zu Boden stürzte. Klimaka kniete sich neben ihn hin und flüsterte ihm per Radiowellenübertragung über einen geschützten Kanal durch das Mikrophon in seinem Helm leise in das Ohr: „Die marsianische Kultur ist ausgesprochen martialisch aufgebaut. Die Erziehung der Jungen beginnt in jedem Fall mit der Gymnastik fürs Ringen und dem Faustkampf. Danach folgen der Dolch, Stangenwaffen, Schildkampf und einhändige Waffen, Kampfhämmer, Keulen, Stöcke, Hackschwerter und Säbel. Zum Langschwert - der hochangesehenen Königsdisziplin - geht man dann als letztes über, bevor man als Meister der Waffenkunst gilt. Natürlich gibt es auch exzessives Training in dem Gebrauch von Schusswaffen aller Art. Wie bereits gesagt lernen hier die Jungen das Kämpfen, bevor sie richtig gehen können und praktisch keiner von ihnen stirbt an Altersschwäche im Bett.“ Er sah sie fragend an. „Klimaka, was hat das mit unserem Fall zu tun? Was du gesagt hast, wusste ich schon.“

„Ja“, meinte sie. „Was du aber sicherlich nicht wusstest, ist, dass die Marsianer extrem empfindlich sind, wenn es um ihren Schutzheiligen geht. Gemeint ist der fremdartige Frosch, den du hier vor dir siehst. Ihn zu beleidigen – was wir faktisch gerade gemacht haben – bedeutet ein Todesurteil.“

Die tobende Menge griff zu den Waffen. Selbst kleine Kinder nahmen aggressiv scharfe Kurzmesser hervor, offenbar dazu bereit von diesen Gebrauch zu machen. Der Frosch erhob seinen Stock mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf und sagte: „Genug, meine Kinder! Lasst sie in Frieden wieder gehen! Heute soll ein Tag der Freude und des Wiedersehens sein, nicht ein Tag der Hinrichtungen.“

Die Menge tat, trotz des brodelnden Zorns, wie ihr gesagt worden war und gab den Weg zum Eingang frei. Der König sah Aethas in die Augen: „Geht nach draussen! Wartet in Eurem sonderbaren Raumschiff, bis ich Euch privat sprechen kann! Zuerst müssen wir Eure infame Beleidigung einigermassen verdauen.“

Die kleine Gruppe von Aussenweltlern verliess niedergeschlagen den Chrysoberyll-Tempel wieder. Aethas selbst hatte den Befehl gegeben sich bis auf weiteres in das gepanzerte Shuttleschiff zurückzuziehen. Selbst Skylos liess seine Ohren hängen. Anstelle, dass man über Taktiken und potenzielle Rettungsversuche sprach, hatte der ungewollte Eklat dazu geführt, dass sie nun selber als Feinde der Marsianer betrachtet wurden. „Du hast uns da in eine schöne Lage gebracht. Das nächste Mal bleibst du auf dem Schiff, mein lieber Vikendios“, meinte Aethas. „Wie Ihr meint, Herr“, antwortete dieser.

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