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Ein paralleles Zahlungssystem

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Der von mir skizzierte Plan, den ich im Juni erwähnte und in der Fünf-Punkte-Strategie im Mai 2013 aufgriff, basierte auf früherer theoretischer Arbeit zu der Frage, wie die unter fiskalpolitischem Druck stehenden Regierungen der Eurozone durch einen neuartigen Einsatz der Websites ihrer Finanzämter etwas Spielraum gewinnen könnten. Es war ganz einfach.

Nehmen wir einmal an, ein Staat schuldet Unternehmen A eine Million Euro, zögert die Zahlung aber hinaus, weil er finanziell klamm ist. Nehmen wir weiter an, Unternehmen A schuldet seiner Angestellten Jill 30.000 Euro und einem Lieferanten, Unternehmen B, noch einmal 500.000 Euro. Gleichzeitig schuldet Jill dem Staat 10.000 Euro an Steuern, und Unternehmen B schuldet ihm 200.000 Euro. Stellen wir uns vor, das Finanzamt würde für jeden Steuerzahler (um präzise zu sein: für jede Steuernummer) ein Reservekonto einrichten, auch für die Unternehmen A und B und für Jill. Dann könnte der Staat einfach eine Million Euro auf das Reservekonto von Unternehmen A »einzahlen«, indem er die Zahl eintippt und jedem Steuerzahler eine PIN gibt, um »Geld« von einem Reservekonto auf ein anderes zu transferieren. Unternehmen A könnte so 30.000 Euro auf Jills Reservekonto transferieren und 500.000 auf das Reservekonto von Unternehmen B. Jill und Unternehmen B könnten mit dem Geld ihre jeweiligen Steuerschulden in Höhe von 10.000 Euro beziehungsweise 200.000 Euro an den Staat bezahlen. Damit ließen sich schlagartig viele Zahlungsrückstände ausgleichen.

Ein solches System wäre schon in guten Zeiten eine großartige Sache für Portugal, Italien, auch für Frankreich. Für Griechenland wäre es in dem Notfall, dass die EZB die Banken schließen würde, überlebenswichtig, weil alle möglichen Transaktionen weitergehen könnten, nicht nur Transaktionen mit dem Staat. Zum Beispiel könnten Renten teilweise auf Reservekonten gezahlt werden, und eine Rentnerin könnte einen Teil der Summe dann auf das Konto etwa ihrer Vermieterin transferieren, die ebenfalls Steuern bezahlen muss. Diese Kredite könnten zwar nicht in bar aus dem System herausgenommen werden, aber es würde funktionieren, solange der Staat sie weiter anstelle von Steuern akzeptieren würde. Und es würde sehr gut funktionieren, wenn man es in zweierlei Hinsicht weiterentwickelte.

Jeder griechische Staatsbürger hat einen Ausweis. Stellen wir uns vor, es würden neue Ausweise ausgegeben in Form einer Smartcard mit einem Chip, wie ihn moderne Giro- und Kreditkarten heute schon haben. Die Ausweise von Rentnern, Staatsbediensteten, Sozialhilfeempfängern, Lieferanten des Staates – alle, die Geschäfte mit dem Staat abwickeln – könnten mit ihren Reservekonten bei der Finanzverwaltung verknüpft und dann dafür eingesetzt werden, um in Supermärkten, an Tankstellen und ähnlichen Einrichtungen für Waren und Dienstleistungen zu bezahlen. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Banken geschlossen würden, selbst wenn der Staat illiquide wäre, könnte die Regierung weiterhin ihren Verpflichtungen nachkommen, indem sie die Ausweise ihrer Bürger einfach in Kreditkarten verwandeln würde – natürlich nur so lange, wie der Gesamtwert der Kredite den Staat nicht in ein Haushaltsdefizit treiben würde.

Zweitens könnte sich der Staat mit diesem System bei griechischen Bürgern Geld leihen und so die Geschäftsbanken umgehen, die feindseligen und misstrauischen Finanzmärkte und natürlich die Troika. Die Bürger könnten Steuerkredite vom Staat erhalten und darüber hinaus die Option, online Kredit beim Finanzamt zu erwerben, wenn sie Onlinebanking in Verbindung mit ihren normalen Bankkonten nutzen würden. Warum sollten sie das wollen? Weil der Staat ihnen einen Abschlag von, sagen wir, 10 Prozent anbieten würde, sofern sie später, sagen wir in einem Jahr, den Kredit dafür verwenden würden, ihre Steuern zu bezahlen. De facto würde sich der Staat auf diese Weise zu einem Zinssatz von 10 Prozent, den kein Europäer heute bei einer Bank bekommt, Geld bei seinen Bürgern leihen. Solange das Gesamtvolumen der Steuerkredite der Regierung nach oben begrenzt und vollkommen transparent wäre, wäre das Ergebnis eine fiskalisch verantwortungsvolle Erhöhung der staatlichen Liquidität, mehr Freiheit gegenüber der Troika und damit eine Abkürzung auf dem Weg zu dem Endziel einer vernünftigen neuen Vereinbarung mit der EU und dem IWF.

Dragasakis schien beeindruckt. Er bat mich, das alles schriftlich zu formulieren. Alexis und Pappas schienen beruhigt durch den Gedanken, dass ein solches Vorgehen ihnen nach dem Bruch mit den Gläubigern wertvolle Zeit kaufen würde. Achtundvierzig Stunden nach meiner Rückkehr nach Austin schickte ich einen zehnseitigen Entwurf an Pappas, den er an Alexis und Dragasakis weitergeben sollte.

Spulen wir jetzt vier Monate vor, in den März 2015, zu einer Kabinettssitzung der Syriza-Regierung, die Alexis als Ministerpräsident leitete. Nach der Einschätzung, dass die Konfrontation mit der Troika mit einem Rachemanöver an Tag eins begonnen hatte, genau wie ich vorausgesagt hatte, erläuterte ich einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der humanitären Krise, den mein Ministerium im Parlament eingebracht hatte: An dreihunderttausend Familien, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, sollten Debitkarten ausgegeben werden mit einer Kreditlinie von einigen Hundert Euro im Monat zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse.

»Aber diese Karten sind erst der Anfang«, erklärte ich. »Bald könnten sie die Personalausweise ersetzen und die Grundlage für ein Zahlungssystem abgeben, das parallel zu den Banken existiert.«

Ich erläuterte, wie das System funktionieren würde, und skizzierte dann seine vielen Vorteile: Es würde der Regierung mehr fiskalischen Spielraum geben, die Armen zu unterstützen, ohne sie durch die Verteilung von Lebensmittelcoupons zu stigmatisieren, und vor allem würde es der Troika signalisieren, dass Griechenland ein Zahlungssystem besaß, das unsere Wirtschaft weiter am Laufen halten würde, wenn sie unsere Banken schließen sollte. Und dann war da noch ein letzter Punkt: Sollte die Troika Griechenland aus der Eurozone werfen, was sich der deutsche Finanzminister seit Jahren wünschte,6 könnte dieses Zahlungssystem mit einem Knopfdruck in eine neue Währung umfunktioniert werden.

Als die Kabinettssitzung vertagt wurde, kamen die meisten Minister zu mir und sagten mir, wie begeistert sie von dem Vorschlag seien. Einige klopften mir auf den Rücken, andere umarmten mich, eine Ministerin versicherte, sie sei bewegt und inspiriert.

Fünf Monate später, nach meinem Rücktritt, kritisierte mich die Presse, weil ich ohne einen Plan B in harte Verhandlungen gegangen sei. Tagelang machten sich Politiker nicht nur der Opposition, sondern auch viele Syriza-Abgeordnete in den Medien über mich lustig, weil ich angeblich in die Höhle des Löwen marschiert sei, ohne einen Plan zu haben für den Fall, dass die Banken geschlossen würden. Ich wartete darauf, dass Alexis oder jemand anderes aus dem Kabinett aufstehen und die Sache klarstellen würde. Aber keiner tat das. In einer Telefonkonferenz unter der Leitung von David March vom Official Monetary and Financial Institutions Forum machte ich daher in meiner Antwort auf die Frage, was bei den Verhandlungen der griechischen Regierung mit der EU und dem IWF schiefgegangen war, meine Pläne für ein paralleles Zahlungssystem öffentlich.

Die Diskussion wurde vermeintlich nach der Chatham-House-Regel geführt: Danach dürfen Teilnehmer zitieren, was gesagt wurde, aber ohne den jeweiligen Sprecher zu identifizieren. Doch diese Regel wurde missachtet. Umgehend wurden Aufzeichnungen meiner gesamten Präsentation publik. Und sofort warfen mir dieselben Journalisten und Politiker, die mich lächerlich gemacht hatten, weil ich angeblich keinen Plan B hatte, das genaue Gegenteil vor: »Varourakis’ geheimer Grexitplan« war eine typische Schlagzeile, die suggerierte, ich hätte hinter dem Rücken von Alexis einen teuflischen Plan ausgeheckt, um Griechenland aus dem Euro zu führen. Rufe, mich anzuklagen und vor Gericht zu stellen, wurden lauter. Während ich diese Zeilen schreibe, schwebt tatsächlich eine Anklage wegen Hochverrats im griechischen Parlament über mir, weil ich angeblich Ministerpräsident Tsipras mit einer »Verschwörung« in den Rücken gefallen sei.

Es ist für mich eine Quelle des Stolzes und der Freude, dass glühende Anhänger der Troika in Griechenland jede Gelegenheit nutzen, um mich fertigzumachen. Ich betrachte ihre Angriffe als einen Orden, der mir dafür verliehen wurde, dass ich es gewagt hatte, ihre Forderungen in der Eurogruppe abzulehnen. Aber es erfüllt mich mit Traurigkeit, dass einstige Kabinettskollegen, Menschen, die zu mir kamen, um meinen Vorschlag für ein Zahlungssystem zu loben, entweder so tun, als hätten sie nie davon gehört, oder in solche Verleumdungen mit einstimmen.

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