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Die Problematik des Epochenbegriffs

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Wer literarische Texte verstehen und interpretieren will, muss sich mit ihren jeweiligen Entstehungszusammenhängen vertraut machen. Denn Literatur ist immer auch Ausdruck der Zeit, in der sie geschrieben wird. Folgerichtig verweisen literarische Werke inhaltlich häufig auf bedeutende historische Ereignisse und spiegeln soziale, gesellschaftspolitische, weltanschauliche und kulturelle Verhältnisse wider, die ihren Entstehungskontext prägen. Eine wichtige Rolle spielen auch poetologische bzw. ästhetische Programme, d. h. Regelwerke oder Erörterungen, in denen jeweils bestimmt wird, was ›gute‹ Literatur ausmacht. Sie beeinflussen die Konzeption von Literatur und bestimmen den literarischen Geschmack ihrer Zeit.

Wissenschaftler erfassen und beschreiben diese historischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen in literaturgeschichtlichen Abhandlungen. Wie jede Geschichtsschreibung wird auch die deutschsprachige Literaturgeschichte in Epochen eingeteilt. Der Begriff »Epoche« stammt vom griechischen epoché und bedeutet ›Einschnitt‹. Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet dieser Begriff einen Teilabschnitt der Literaturgeschichte, dessen Literatur sich aufgrund spezifischer Merkmale (Epochenmerkmale) von der Literatur angrenzender Epochen unterscheidet.

Epochenbegriffe werden in der Regel im Nachhinein, d. h. erst im späteren Rückblick, vergeben oder geprägt; gleichwohl bilden sie unverzichtbare terminologische Hilfskonstruktionen für die Darstellung der komplexen Geschichte der deutschen Literatur. Jeder Epochenbegriff zeigt einschneidende geistes- und kulturgeschichtliche sowie literaturhistorische Veränderungen an, die auch in der jeweiligen Literatur Niederschlag gefunden haben. Vergleichbar mit Schubladen stehen die tradierten Epochenbegriffe für ein bewährtes Ordnungsschema, das zeitgeschichtliche Entstehungsbedingungen und gemeinsame Merkmale von Textgruppen im jeweiligen historischen Kontext zusammenfasst. Durch die chronologische Gliederung des historischen Kontextwissens wird die lange Geschichte der deutschen Literatur als eine Abfolge von einander ablösenden und daher voneinander abgrenzbaren Zeiträumen (Epochen) mit jeweils einer charakteristischen Literaturproduktion strukturiert. Damit stellen Epochenbegriffe ein wichtiges Orientierungswissen zur Verfügung, das die Masse der überlieferten Texte nach epochenspezifischen Kriterien ordnet und überschaubar hält.

All das ist allerdings nicht ganz unproblematisch. Denn weder Epochenbezeichnungen noch die Kriterien, nach denen Literaturepochen und Strömungen definiert und voneinander abgegrenzt werden, sind einheitlich. So wird beispielsweise die Literaturepoche ›Weimarer Klassik‹ oft auch als ›Kunstepoche‹ bzw. als ›Goethezeit‹, die Literaturepoche zwischen 1848 und 1890 als ›bürgerlicher‹ oder ›poetischer‹ Realismus bezeichnet. Auch hinsichtlich der Zeitspanne der einzelnen Literaturepochen gibt es keinen allgemeinen Konsens. Unterschiedliche Epochenbezeichnungen, -einteilungen und -datierungen sind daher die Folge, was mitunter Irritationen hervorruft. So steht zum Beispiel nicht eindeutig fest, wann die Weimarer Klassik endet – bereits mit Schillers Tod 1805 oder doch erst mit Goethes Tod im Jahr 1832? Wann beginnt der ›Vormärz‹? Unmittelbar nach den Karlsbader Beschlüssen (1819) oder erst nach der Julirevolution von 1830? Und bis zu welchem Zeitpunkt kann man von der ›Nachkriegsliteratur‹ sprechen? Wie weit reicht eigentlich der Begriff der ›Gegenwartsliteratur‹ zurück? Und so weiter.

Neben diesen und weiteren offenen Fragen muss betont werden, dass sich zwischen Literaturepochen keine klaren Grenzen ziehen lassen. Epochenwechsel und -umbrüche bilden in der Regel keine Einschnitte. Sie vollziehen sich nicht schlagartig, sondern vielmehr allmählich. Daher sind Epochengrenzen meist fließend. Manche können sogar aufgrund von poetologischen, stilistischen oder thematischen Kontinuitäten als ›Epochenschwellen‹, d. h. als längere Übergangszeiträume, angesehen werden. Das gilt beispielsweise für den Epochenumbruch um 1900 bzw. für die Literatur der Jahrhundertwende. Die Tatsache, dass sich manche Epochen wie z. B. Aufklärung, Klassik und Romantik teilweise sowohl zeitlich als auch inhaltlich überschneiden oder Strömungen des Frührealismus wie z. B. Biedermeier und Junges Deutschland sogar parallel zueinander laufen, macht scharfe Abgrenzungen generell schwierig. Die Jahreszahlen bei den literarischen Epochen sind daher immer als ungefähre Angaben zu verstehen.

Literaturepochen bilden trotz übergreifender Ziele keine homogenen Einheiten. Sie zeichnen sich in der Regel durch ein vielfältiges und daher differenziertes literarisches Leben aus. So besteht beispielsweise die Epoche der Aufklärung aus zwei Phasen: der Frühaufklärung (Verstandesdichtung) und Spätaufklärung (Empfindsamkeit), die von den sehr unterschiedlichen Literaturauffassungen Gottscheds und Lessings geprägt sind. Die Romantik lässt sich in drei einander abgrenzbare Phasen gliedern: Frühromantik, Hochromantik, Spätromantik. Auch hier liegt jeder dieser Phasen ein anderes ästhetisches Programm zugrunde. Folgerichtig können sich Texte aus solchen großen Epochen sowohl thematisch und konzeptionell als auch sprachlich stark voneinander unterscheiden.

Problematisch ist nicht zuletzt die Frage, welcher Autor und welches Werk in welche Epoche eingeordnet werden soll. Goethes und Schillers Werke beispielsweise entsprechen weitgehend den literarischen Konventionen des Sturm und Drang bzw. später der Weimarer Klassik. Sie werden daher zu Recht als ›repräsentativ‹ für diese Epochen charakterisiert – aber beide für zwei verschiedene Epochen. Werke anderer wichtiger Autoren wie Jean Paul, Hölderlin, Kleist und Kafka lassen sich dagegen in keine bestimmte Epochenschublade einsortieren: Sie fallen aus dem literarischen Programm ihrer Zeit heraus. Oft handelt es sich dabei um Werke des Übergangs zwischen zwei Epochen bzw. Strömungen, die sich folgerichtig einer festen Zuordnung entziehen.

Aber selbst dort, wo die literaturgeschichtliche Einordnung eines Textes eindeutig zu sein scheint, gilt es zu bedenken: Literarische Werke erschöpfen sich nicht in ihrer Epochenspezifik. Sie können – wie z. B. die Dramen Nathan der Weise (1799) von Gotthold Ephraim Lessing und Faust (1808) von Johann Wolfgang Goethe – ihren jeweiligen historischen Entstehungskontext überdauern und auch in späteren Epochen ihre Bedeutung weiter entfalten.

Bei den folgenden Epochendarstellungen ist also immer mitzuberücksichtigen, dass es sich nicht (nur) um reines Faktenwissen handelt, sondern Entscheidungen getroffen, Schwerpunkte gesetzt, Eindeutigkeiten hergestellt wurden, um den Stoff ›handhabbar‹ zu machen. Der Band bietet Orientierungswissen als Ausgangspunkt für den eigenen vertieften und differenzierten Umgang mit Literatur in ihrer Zeit.

Epochen der deutschsprachigen Literatur

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