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IX

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Das Unglück Andreas Pums hatte noch einem anderen wohlgetan: dem Herrn Arnold nämlich. Sein Zorn war verraucht. Den unangenehmen Luigi Bernotat versuchte er zu vergessen. Morgen wollte er zum Rechtsanwalt gehen. Er küßte seine Frau und seine blühenden Kinder. Er sprach wieder freundlich mit dem Dienstmädchen. Und obwohl ein strenger Ernst über seinem Wesen und seinen Bewegungen und seinen Worten lag, atmete seine Umgebung dennoch auf. Er warf einen freundlichen Schatten auf seine Familie.

Andreas Pum aber ging in den Stall. Da stand Muli und hauchte Wärme aus. Eine Fledermaus hing im Winterschlaf zwischen zwei Pfosten, die im Winkel ein Dreieck bildeten. Das feuchte Stroh stank und war in der Nähe der Tür gefroren. Der Wind blies durch ihre Fugen. Andreas sah ein paar Sterne des nächtlichen Winterhimmels durch eine Ritze. Er spielte mit einem Strohhalm. Er flocht einen Ring aus drei Halmen und schob ihn auf das Ohr Mulis. Das Tier war gut und ließ sich liebkosen. Es hob mit freundlicher Langsamkeit einen Hinterfuß, und das sah aus, als hätte es den ungelenken Versuch gemacht, Andreas zu streicheln. Es war hell genug, daß man seine Augen sehen konnte. Sie waren groß in der Dunkelheit und bernsteingrün. Sie waren feucht, als stünden sie voller Tränen und schämten sich doch zu weinen.

Je weiter die Nacht fortschritt, desto kälter wurde es. Andreas hätte am liebsten gewimmert, wenn er sich nicht vor dem Tier geschämt hätte. Sein fehlendes Bein schmerzte wieder, nach langer Zeit. Er schnallte die Krücke ab und betastete seinen Stumpf. Er hatte die Form eines abgeflachten Kegels. Dünne Rillen und Vertiefungen zogen sich kreuz und quer über das Fleisch hin. Wenn Andreas seine Hand darauf legte, milderte sich der Schmerz. Aber der andere, der in seinem Innern wütete, hörte nicht auf.

Die Nacht war still und hell. Die Hunde bellten. Ferne Türen gingen. Der Schnee knisterte, obwohl ihn niemand betrat, und nur, weil der Wind über ihn hinstrich. Draußen schien sich die Welt zu weiten. Man sah durch die Ritze ein schmales Stückchen Himmel. Aber es gab eine deutliche Vorstellung von seiner Unendlichkeit.

Wohnte Gott hinter den Sternen? Sah er den Jammer eines Menschen und rührte sich nicht? Was ging hinter dem eisigen Blau vor? Thronte ein Tyrann über der Welt, und seine Ungerechtigkeit war unermeßlich wie sein Himmel?

Weshalb straft er uns mit plötzlicher Ungnade? Wir haben nichts verbrochen und nicht einmal in Gedanken gesündigt. Im Gegenteil: wir waren immer fromm und ihm ergeben, den wir gar nicht kannten, und priesen ihn unsere Lippen auch nicht alle Tage, so lebten wir doch zufrieden und ohne frevelhafte Empörung in der Brust als bescheidene Glieder der Weltordnung, die er geschaffen. Gaben wir ihm Anlaß, sich an uns zu rächen? Die ganze Welt so zu verändern, daß alles, was uns gut in ihr erschienen, plötzlich schlecht ward? Vielleicht wußte er von einer verborgenen Sünde in uns, die uns selbst nicht bewußt war?

Und Andreas begann mit der Hast eines Menschen, der in seinen Taschen nach einer vermißten Uhr sucht, nach verborgenen Sünden in seiner armen Seele zu forschen. Aber er fand keine. War es etwa eine Sünde, daß er die Witwe Blumich genommen hatte, und rächte sich jetzt ihr toter Mann? Ach! lebten die Toten? Hatte er sich je an Muli, dem Esel, versündigt? War das etwa ein Unrecht, daß er das Tier, als es einmal unterwegs stehenblieb und etwas Unerklärliches auf dem Boden suchte, mit einem sanften Schlag weitertrieb? Ach, war der Schlag auch sanft gewesen? War es nicht vielmehr ein harter, ein schmerzlicher, ein unbarmherziger? »Muli, mein Esel!« flüsterte Andreas und legte seine Wange an die Stelle, die er geschlagen hatte.

Gegen Morgen schlief Andreas ein. In seinen ersten Schlaf rauschte schon der frühe Lärm der Straßen. Das Tier blieb unbeweglich. Es ließ ein leises Grunzen hören und näßte das Stroh, das sofort gefror. Sein Urin roch schwer und betäubend.

Am nächsten Tag kam Andreas grußlos in die Stube. Er entnahm selbst Brot und Margarine dem Schrank. Die kleine Anna kam aus der Schule. Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn versöhnen. »Spiel ein bißchen!« bat sie. Und Andreas spielte auf seinem Leierkasten die wehmütigsten Lieder, mit denen der Fabrikant das Instrument ausstaffiert hatte. »An der Quelle saß der Knabe« und die »Lorelei«. Und die Melodien erinnerten ihn an jenen glücklichen Sommertag, an dem er zum erstenmal in den Hof dieses Hauses gekommen war.

Oh, wunderbar war der Sommer, eine kostbare Schnur glücklicher Tage, Tage der Sonne und der Freiheit, der alten Lindenbäume in den gastfreundlichen Höfen. Die Fenster in allen Stockwerken flogen auf, rundliche rote Freudengesichter steckten die Mädchen wie festliche Lampions zu den Küchen hinaus, und der Duft guter Speisen sättigte die Nase. Lachende Kinder tanzten um die Musik, das Kreuz blinkte in der Sonne, die Uniform, heute von Stroh und Unrat beschmutzt, wie sauber und ehrfurchterregend war sie damals!

Katharina kam. Mit sachlichen, knappen Bewegungen hantierte sie im Hause. Sie schien ihren Mann gar nicht mehr zu sehn. Sie stellte wortlos und mit einem heftigen Ruck eine irdene Schüssel auf seinen Platz. Er kannte diese kleine Schüssel mit der schadhaften Glasur. Manchmal bekamen ein alter Bettler, eine verirrte Katze, ein zugelaufener Hund aus ihr zu essen. Katharina selbst schlürfte die Suppe aus einem rotgeränderten Porzellanteller. Auch hatte sie den Kohl von den Kartoffeln gesondert vor sich aufgestellt. Aber in der kleinen Schüssel Andreas’ mischte sich alles, und ein großer Knochen ragte zwischen dem Mischmasch wie ein Dachtrümmerstück im Schutt eines zerfallenen Hauses.

Was sollte er tun? Er aß und wurde demütig und richtete von Zeit zu Zeit sein Auge auf Katharina. Sie hatte ein rotes Gesicht und war sehr sorgfältig onduliert, mit vielen kleinen Wellchen, die bis zu den Augen reichten, und in der Mitte trug sie ein paar kurzgeschnittene und in die Stirn gekämmte, am Ende mit einem scharfen Lineal abgeschnittene Härchen, die wie Fransen eines Schals aussahen. Sie duftete wie ein Friseurladen nach allerlei Gerüchen, Patschuli mischte sich mit Haaröl und dieses mit Kölnischem Wasser. Ein anderer hätte sofort erkannt, daß Katharina einen ganzen Vormittag im Damenfrisiersalon zugebracht hatte. Andreas aber merkte nichts.

Ihn beschäftigte nur das Rätsel der plötzlichen Veränderungen, die sich um ihn vollzogen hatten. Es war wie eine Verzauberung. Er versuchte, sich den Vorfall in der Straßenbahn klar ins Gedächtnis zu rufen. Er sah wieder den Herrn, der ihn angegriffen hatte. War es nicht umgekehrt gewesen? Was hatte der Herr nur gesagt? Daß die Invaliden simulierten! Und es stimmte. Wie oft hatte Andreas selbst Simulanten gesehen. Woraus entnahm er eigentlich, daß der Herr ihn persönlich gemeint hatte? Er sprach ganz allgemein. Er ärgerte sich mit Recht über die Versammlung. Waren es doch Tagediebe, Rebellen, Gottlose, sie wollten die Regierung stürzen, und sie verdienten ihr Schicksal.

Es war eben eine Ausnahme, daß Andreas das Pech hatte, mit einem unfreundlichen Schaffner, mit einem verständnislosen Polizisten zusammenzustoßen. Sie sollen ihn nur vor Gericht bringen. Hier wird er kategorische Bestrafung der untergeordneten Organe verlangen. Hier wird er seinen Lebenslauf erzählen, seine Kriegsteilnahme, seine Begeisterung für das Vaterland. Er wird die Lizenz wiederbekommen. Er wird Katharinas Achtung aufs neue erringen. Er wird Herr im Hause sein. Der Mann seiner Frau. Sie stand auf. Ihre breiten, in ein Mieder gepreßten Hüften bewegten sich selbständig, und die strotzende Fülle ihrer Brüste zappelte, wenn sie einen Schritt machte. Andreas erinnerte sich an ihre gemeinsamen Liebesfeste, an den Druck ihrer nachgiebigen und dennoch muskulösen Oberschenkel, und er höhlte die Hand und glaubte wieder die breite, weiche, schwellende Endlosigkeit ihrer Brust zu fühlen.

Ach! laßt uns nur vor Gericht kommen. Dort sitzen keine ungebildeten Polizisten und keine rohen Schaffner. Die Gerechtigkeit leuchtet über den Sälen der Gerichtshöfe. Weise, noble Männer in Talaren sehen mit klugem Blick in das Innere des Menschen und sondern mit bedächtigen Händen die Spreu vom Weizen.

Hätte Andreas eine Ahnung von der Jurisprudenz gehabt, so hätte er gewußt, daß die Gerichte sich bereits mit ihm beschäftigten. Denn sein Fall gehörte zu jenen sogenannten »eiligen Fällen«, die nach einem Erlaß des modernen Justizministers sofort in Behandlung genommen wurden und zur Erledigung kamen. Schon hatten die großen, rollenden Räder des Staates den Bürger Andreas Pum in die Arbeit genommen, und ohne daß er es noch wußte, wurde er langsam und gründlich zermahlen.

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke

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