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Die koranische rationale Theologie von Ibn Taymiyya und seine Kritik der Mutakallimun
2.1 Vorbemerkung
Dieser Text ist eine referierende Zusammenfassung des Artikels The Quranic Rational Theology of Ibn Taymiyya and his Criticism of the Mutakallimun von M. Sait Özervarli.1 Der vollständige Titel lautet ins Deutsche übertragen: Die koranische rationale Theologie von Ibn Taymiyya und seine Kritik der Mutakallimun. Dieser Artikel ist in dem Ibn Taymiyya gewidmeten Sammelband Ibn Taymiyya and His Times (Ibn Taymiyya und seine Zeit) mit weiteren interessanten Beiträgen erschienen.2
2.2 Einführung: Vernunft und Offenbarung
M. Sait Özervarli stellt seiner Untersuchung der »koranischen rationalen Theologie von Ibn Taymiyya« als Motto voran:
Vernunft mit Glauben und dem
Koran ist wie Augen mit Licht und der Sonne.3
Darin kommt schon deutlich das Anliegen von Ibn Taymiyya (1263-1328) zum Ausdruck, nämlich Vernunft und Offenbarung in ihrem Einklang aufzuzeigen. Dieser koranische Rationalismus sollte zugleich eine Alternative zum Kalam (kalām; oftmals etwas unzutreffend mit »islamische Theologie« übersetzt4) bieten, der sich allzu einseitig auf eine noch dazu falsch verstandene Vernunft stützt. Denn Ibn Taymiyya erkannte eine Verbindung zwischen der geistigen Krise seiner Zeit und dem Denken, das im Kalam Gestalt annahm.
Die Wurzeln dieser Krise verortete er nicht so sehr auf der rechtlichen Oberfläche des fiqh (Recht/Moral), als vielmehr in den philosophischen Tiefen des islamischen Denkens. Die Ursachen für die Schwäche und Zerrüttung der islamischen Gemeinschaft (umma) glaubte er daher in einer kritischen Untersuchung der Entwicklung des islamischen Denkens aufsuchen zu müssen. Durch die Kritik der vorherrschenden Denkschulen und die Überwindung ihrer Unzulänglichkeiten wollte er das islamische Denken beleben und zur Einigung der Umma beitragen.
Dafür war eine Doppelbewegung erforderlich: eine Besinnung auf die Grundlagen des Islam, auf Koran und Sunna, in Verbindung mit einer Anknüpfung an den aktuellen Stand des islamischen Denkens, an das es kritisch anzuschließen galt, ohne der Illusion zu verfallen, die geschehene Entwicklung einfach rückgängig machen zu können. Sollte die islamische Tradition wiederbelebt werden, so nicht in abstrakter, rückwärtsgewandter Gestalt, sondern konkret vermittelt mit dem zeitgenössischen Denken.
Dieses Denken war zutiefst geprägt nicht nur vom Kalam, sondern allgemeiner von allerlei philosophischen Einflüssen. Diese Einflüsse waren so stark, dass es sich als unvermeidlich erwies, eine wiederum philosophische Interpretation und Verteidigung der islamischen Tradition selbst vorzunehmen. Dies tat Ibn Taymiyya auf bislang nicht dagewesene Weise. Er konnte dabei auf keinesfalls oberflächliche, sondern erstaunlich breite und tiefe Kenntnisse der Philosophie zurückgreifen. Aus diesem Spannungsfeld heraus entwickelte er ein Denken, das durch eine Kritik der Philosophie vermittelt das islamische Denken wahrhaft erneuerte. Dieses Denken ist bis heute nicht wirklich verstanden worden, obgleich es mit seiner Verbindung von Vernunft und Offenbarung auch für unsere Gegenwart Maßstäbe setzen könnte und mithin äußerst lehrreich zu sein verspricht.
Statt den eigentlichen Gehalt von Ibn Taymiyyas Denken in seinem Verständnis einer für die Offenbarung geöffneten Rationalität zu suchen, werden in der heutigen Öffentlichkeit die kritischen und rationalen Aspekte nahezu vollständig ausgeblendet und ganz andere in den Vordergrund gerückt, wenn nicht hinzugedichtet. In endlosen Schleifen wird Ibn Taymiyya als Verfechter eines blinden Traditionalismus präsentiert, der durch seinen Einfluss auf den zeitgenössischen »Salafismus« als Ursprung aller Übel des »islamischen Extremismus« oder »Fundamentalismus« erscheint. Diese ideologische Verzerrung wird dem Denken Ibn Taymiyyas mit seiner Umsicht, Ausgewogenheit, Tiefe und Vernünftigkeit nicht im geringsten gerecht.
So stellt Özervarli ganz zu Recht fest:
Als Wiederbeleber der traditionalistischen Schule (ashāb al-hadīth) und Kritiker von al-Ghazālī (gest. 505/1111), Ibn al-ʿArabī (gest. 638/1240) und Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 606/1209) hat das Kraftfeld von Ibn Taymiyyas rationalistischem Projekt mehr Aufmerksamkeit verdient. Die Anerkennung der Komplexität seiner Kritik und insbesondere seiner Ansicht über die Übereinstimmung von Vernunft und Offenbarung steht noch ganz am Anfang. (78)5
An dieser Stelle verweist Özervarli auf eine Reihe von Arbeiten, auch von orientalistischer Seite, die in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind und das wachsende Interesse, auch der westlichen Wissenschaft, am hinter dem Schleier der ideologischen Inanspruchnahme und Verleumdung verborgenen »echten« Ibn Taymiyya bezeugen, und fährt dann fort:
Neben anderen originellen Beiträgen ist es in erster Linie seine Verteidigung dessen, was »koranische rationale Theologie« genannt werden mag, womit er einen besonderen Platz in der islamischen Geistesgeschichte verdient. (78)
Özervarli setzt es sich daher in diesem Aufsatz zur Aufgabe, die Grundlagen und Methoden von Ibn Taymiyyas philosophischem und »theologischem« Denken zu untersuchen, wobei er seine Kritik des Kalam in den Mittelpunkt stellt. Dem wollen wir nun näher nachgehen.
2.3 Historischer Hintergrund: Entwicklung des Kalam
Die Anfänge der Debatte über den Gebrauch der Vernunft für das Verstehen des Koran gehen auf das 8. und 9. Jahrhundert zurück, als sich das muʿtazilitische Denken herauszubilden begann, das sich auf Begriffe und Methoden stützte, die aus der griechischen Philosophie stammten und als »rational« angesehen wurden.
Dies stieß auf die Kritik der traditionalistischen Schule, für die insbesondere der Name Ahmad ibn Hanbal (gest. 241/855) steht. Gegen den übermäßigen Gebrauch der Vernunft betonte diese Schule, dass Fragen der Religion nur auf der Grundlage von Koran und Hadith entschieden werden konnten.
Im Rahmen dieser Debatte entwickelte sich eine neue Schule, die von dem ehemaligen Muʿtaziliten Abū al-Hasan al-Aschʿarī ins Leben gerufen wurde und auf einen Ausgleich setzte. Diese Synthese rückte näher an die traditionalistische Anschauung heran, behielt jedoch zugleich den philosophischen Ansatz in veränderter Form bei. Sie wurde daher von traditionalistischen Gelehrten dafür kritisiert, dass sie vorgefasste theologische Ansichten und neue Begriffe in die Glaubenslehre (ʿaqīda) des Islam einführte.
Der aschʿaritische Kalam hat zwar viele Elemente aus der Philosophie übernommen, verfiel aber aufgrund seines Zwittercharakters auf der anderen Seite auch der Kritik von Verfechtern der aristotelischen Philosophie wie beispielsweise Ibn Ruschd. Dadurch wurde die Tendenz, philosophische Elemente in den Kalam aufzunehmen, noch weiter verstärkt, so dass eine zunehmend ununterscheidbare Mischung entstand.
Ibn Taymiyyas Denken muss vor diesem Hintergrund der Herausbildung eines stark philosophisch geprägten Kalam verstanden werden. Mit seiner Kritik an den mutakallimūn (Kalam-Gelehrten) einerseits wie auch an den falāsifa (Philosophen) andererseits verfolgte er das Anliegen, traditionalistische Anschauungen im neuen Gewand eines selbst rationalistischen und durch die Schule der Philosophie gegangenen Denkens wiederzubeleben.
Ibn Taymiyya, der selbst aus der hanbalitischen Schule hervorgegangen ist und ihr zeitlebens mehr oder weniger verhaftet blieb, hatte einen sehr weiten geistigen Horizont, so dass er mit allen wichtigen Strömungen des islamischen Denkens vertraut war. Dazu gehören sicherlich auch die jeweiligen wechselseitigen Kritiken, die beispielsweise al-Aschʿarī an den Muʿtaziliten, al-Ghazālī an den falāsifa und Ibn Ruschd an den Aschʿariten samt al-Ghazālī geübt haben.
Die Beschäftigung mit philosophischen Kontroversen weckte bei Ibn Taymiyya auch eine kritischere Haltung gegenüber der traditionalistischen Schule selbst. Überdies wurde er das Ziel der Kritik dieser Schule, die ihm wiederum eine Verstrickung in Kalam und Philosophie zum Vorwurf machte.
Der vernunftbasierte Ansatz und seine kritische Haltung gegenüber blinder Tradition zeigte sich auch in seinem Rechtsdenken, im fiqh, in dem er sich zuweilen gegen die herrschenden Meinungen der hanbalitischen Rechtsschule (madhhab) wandte und seiner eigenen Urteilsfindung (idschtihād) folgte. Ibn Taymiyyas Offenheit erweist sich auch daran, dass seine Schüler Anhänger verschiedener Rechtsschulen waren.
2.4 Infragestellung der Legitimität des Kalam: Was sind die usūl ad-dīn?
Özervarli macht darauf aufmerksam, welche zentrale Rolle in Ibn Taymiyyas Denken sein Verständnis des Begriffs usūl addīn (etwa: Grundlagen der Religion) spielt. Die Mutakallimun verwandten diesen Ausdruck, um den Gegenstand ihrer Wissenschaft des Kalam zu bezeichnen. Ibn Taymiyya war jedoch der Auffassung, dass die wahren usūl ad-dīn sich davon grundsätzlich unterscheiden. Denn richtig verstanden kommen die usūl ad-dīn von Allah und beinhalten alle notwendigen Grundlagen, auch die rationalen. Sonst hätte die Offenbarung wesentliche Aspekte des Islam vermissen lassen, was seinem Verständnis des Islam zufolge unmöglich ist.
Der Koran und die Sunna bieten rationale Beweise, die den philosophischen Beweisen überlegen sind und diese überflüssig machen. Die im Kalam als usūl ad-dīn beispielsweise vorgebrachten Erklärungen der Attribute Gottes oder der kosmologische Gottesbeweis haben hingegen keine Grundlage in der Offenbarung und können daher nicht als usūl ad-dīn gelten. Der Kalam stützt sich nicht auf die koranische Methode und führt zudem Begriffe der aristotelischen Philosophie wie Körper (dschism), Substanz (dschawhar), Akzidens (ʿaradh) und Attribut (sifa) ein, deren Vereinbarkeit mit der Offenbarung höchst zweifelhaft ist.
Ibn Taymiyya führt dazu aus:
Diese [Grundlagen], die sie usūl ad-dīn nennen, sind in Wirklichkeit nicht Teil der usūl ad-dīn, die Allah Seinen Dienern vorgeschrieben hat […] Wenn verstanden wird, dass das, was usūl ad-dīn im Gebrauch derjenigen, die diesen Ausdruck verwenden, genannt wird, in Unbestimmtheit und Ambiguität besteht, die durch äquivoke Setzung und technische Begriffe verursacht wird, (limā fīhi min al-ischtirāk bihasab al-awdhāʿ wa al-istilāhāt) wird offenkundig, dass die von Allah, Seinem Gesandten und Seinen Gläubigen anerkannten usūl ad-dīn das sind, was vom Propheten überliefert wurde.
Für jeden, der eine Religion ohne die Erlaubnis Allahs stiftet, gilt, dass die erforderlichen usūl ad-dīn nicht vom Propheten überliefert werden konnten. Denn eine solche Religion ist ungültig, [die] von ihr erforderten [Grundlagen] sind ebenfalls ungültig. (81; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 41)6
Ibn Taymiyya kritisiert auch die Überdehnung der Bedeutung von Begriffen, die wie beispielsweise hudūth (Entstehen) oder tawhīd (Einzigkeit Gottes) dem Kontext der Offenbarung entnommen werden, um sodann jedoch mit philosophischen Bedeutungen aufgeladen zu werden. Ibn Taymiyya weist diese Bedeutungsverschiebungen, die vom ursprünglichen Sinn wegführen, in vielen Fällen nach.
Die Offenbarung verwendet diese Worte in Übereinstimmung mit der Weise, in der sie von den Arabern verstanden wurden, an die sie in der Absicht, eine klare Botschaft zu vermitteln, gerichtet waren. Die in Kalam und Philosophie begrifflich zugerichteten Ausdrücke unterscheiden sich so grundsätzlich vom koranischen Sprachgebrauch, dass sie nicht als Teil der wahren usūl ad-dīn angesehen werden können.
Darüber hinaus stellt Ibn Taymiyya fest, dass die Methoden des Kalam zu allerlei Verwirrung führen, da jede Kalam-Schule oder sogar jeder einzelne Mutakallim verschiedene Themen und Begriffe in die usūl ad-dīn eingeführt hat und zu jeweils einander widersprechenden Schlussfolgerungen gelangt ist, was zu endlosen Debatten führte. Angesichts der Vielzahl konkurrierender und sich gegenseitig ausschließender Anschauungen erscheint der Anspruch der Mutakallimun auf Gewissheit in ihrer Erkenntnis in einem eigentümlichen Licht.
Ibn Taymiyya bemerkt dazu:
Einige Mutakallimun behaupten, dass alle Fragen der Überlieferung (al-masāʾil al-khabariyya), die sie Fragen der Grundlagen [der Religion] nennen mögen, mit Gewissheit bewiesen werden müssen. Sie behaupten daher, dass es nicht erlaubt ist, in diesen Fragen ohne einen Beweis, der Gewissheit bringt, Überlegungen anzustellen. Und sie verlangen von jedem, in allen diesen Fragen Gewissheit zu erlangen. Aber was sie in solchen unbeschränkten und umfassenden Begriffen sagen, ist falsch, steht im Gegensatz zu Buch, Sunna und Konsens der Salaf und Imame. Zudem sind sie selbst am weitesten von dem entfernt, was sie verlangen, da die Beweise, die viele von ihnen für gewiss halten, falsch sind oder auf Vermutungen beruhen. (82; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 52)
Wenn ihre Ansichten dem Koran widersprechen, so fährt Ibn Taymiyya fort, bezeichnen sie die betreffenden Verse als mehrdeutig oder ambig (mudschmal oder mutaschābih) und interpretieren sie gemäß ihren vorgefassten Theorien. Da auf diese Weise den eigentlichen usūl ad-dīn etwas hinzugefügt oder diese abgeändert werden, greift Ibn Taymiyya zu einer sehr harten Verurteilung, indem er von usūl dīn asch-schaytān (Grundlagen der Religion des Satans) spricht. Damit will er zum Ausdruck bringen, dass es sich somit um eine andere Religion als den Islam handelt.
Zu den Widersprüchen, in denen sich die Mutakallimun verfangen, rechnet Ibn Taymiyya auch ihre Praxis, ihren jeweiligen Rivalen mit dem Vorwurf des kufr (takfīr; Nicht-Islam) zu begegnen. Obgleich sie davon ausgehen, dass sie sich auf ein rein rationales Verfahren stützen, gebrauchen die Mutakallimun den Ausdruck takfīr, der in den Bereich der Offenbarung und des religiösen Rechts gehört. Zudem geschieht dies im Kontext einer Debatte über Einzelheiten der rationalen Beweisführung, auf den die Bezichtigung des kufr ohnehin keine Anwendung finden sollte.
Dazu legt Ibn Taymiyya dar:
Es ist erstaunlich, dass die Mutakallimun sagen, dass die usūl ad-dīn, deren Leugnung kufr impliziert, allein auf der Basis der Vernunft zu erkennen sind, während sie all das, was nicht durch die Vernunft allein erkannt wird, als Belange der Offenbarung (asch-scharʿiyyāt) betrachten. Das ist die Methode der Muʿtziliten, Dschahmiten und derjenigen, die ihnen folgen, wie die Schüler des Autors von al-Irschād [al-Dschuwaynī].
Es sollte zu ihnen gesagt werden, dass dieses Argument aus zwei Teilen besteht: Erstens, usūl ad-dīn werden durch die Vernunft allein erkannt, nicht Belange der Offenbarung; zweitens, jeder, der diese Grundlagen leugnet, ist ein kāfir [Nicht-Muslim]. Diese Prämissen, die schon an sich ungültig sind, sind auch noch widersprüchlich. Wenn etwas durch die Vernunft allein erkannt wird, bedeutet dessen Leugnung nicht kufr im religiösen Sinn. Denn es gibt nichts in den Belangen der Offenbarung, das bestimmt, dass die Verwerfung von etwas, das allein durch die Vernunft erkannt wird, kufr gleichkommt. Die einzige Ursache für kufr ist eine Leugnung dessen, was vom Propheten überliefert wurde, oder eine Weigerung, ihm zu folgen, während seine Wahrhaftigkeit bekannt ist. (83; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 242)
2.5 Die Vermeidung des Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung
Eines der wichtigsten Anliegen von Ibn Taymiyya war die Vermeidung des Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung. So lautet auch der Titel eines seiner bedeutendsten Werke: Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Offenbarung).
Darin wird die Position der Mutakallimun zu dieser Frage unter dem Stichwort al-qānūn al-kullī (allgemeine Regel) oder qānūn at-ta’wīl (Regel der Interpretation) behandelt. Die Mutakallimun gehen davon aus, dass das, was durch die Überlieferung erkannt wird, nicht im Einzelnen durch die Vernunft bestätigt werden kann. Daher muss die Gültigkeit der Offenbarung als Ganzes durch die Vernunft erwiesen werden. Der Inhalt der Offenbarung einerseits und die Wahrhaftigkeit des Propheten und seiner Botschaft andererseits sind zwei strikt voneinander getrennte Dinge. Die Gültigkeit der Offenbarung hängt daher davon ab, dass mit Gewissheit bewiesen wird, dass der Prophet tatsächlich von Gott gesandt wurde und dass der Prophet selbst sowie das von ihm übermittelte Wissen als Ganzes wahrhaftig sind.
Um den Mutakallimun zufolge die Offenbarung als Quelle des Wissens zu bestätigen, bedarf es somit einer Begründung durch die Vernunft. Da rationale Beweise mithin als notwendige Voraussetzung für die Anerkennung der Autorität der Offenbarung gelten, folgt daraus die Priorität der Vernunft. Dadurch werden die möglichen Bedeutungen des Inhalts der Offenbarung eingeschränkt. Und wenn es zu einem Widerspruch zwischen dem überlieferten Text der Offenbarung (naql) und den Geboten der Vernunft (ʿaql) kommt, muss der Vernunft der Vorrang eingeräumt und der betreffende Text entsprechend interpretiert werden (ta’wil). Das kann beispielsweise durch eine allegorische Auslegung erfolgen.
Der qānūn at-taʾwīl kommt den Mutakallimun zufolge also im Falle eines Konflikts von Vernunft und Offenbarung zum Einsatz, wenn es ein rationales Gegenargument (muʿāridh ʿaqlī) gibt, das der wörtlichen oder äußeren Bedeutung des offenbarten Textes widerspricht. Da die Gültigkeit der Offenbarung als von einem rationalen Beweis abhängig erachtet wird, muss der Beleg der Offenbarung hinter diesen Beweis zurücktreten. Denn sonst würde die rationale Grundlage für die Gültigkeit der Offenbarung insgesamt erschüttert. Das ist die Position der Mutakallimun.
Ibn Taymiyya hingegen bestreitet schon die Möglichkeit eines Konfliktes zwischen Vernunft und Offenbarung, da seiner Ansicht nach menschliches Wissen nicht in Widerspruch zur Wahrheit der Offenbarung treten kann. Sein Projekt sieht daher eine auf Offenbarung gestützte Rationalität vor.
Er unterscheidet Beweise oder Belege (adilla; Sing. dalīl) dabei auf andere Weise, als dies im Kalam mit der Klassifizierung in die beiden übergeordneten Kategorien von aqlī (vernünftig) und naqlī (überliefert, offenbart) geschieht. An die oberste Stelle treten die Kategorien von der Offenbarung entsprechenden gültigen Belegen (al-adilla asch-scharʿiyya) im Gegensatz zu neuernden bzw. unzulässige Neuerungen einführenden Belegen (al-adilla al-bidʿiyya). Die gültigen Belege können sodann rational (aqlī), überliefert (naqlī) oder beides zugleich sein.
Die unterschiedlichen Weisen der Klassifizierung eines Belegs (dalīl) durch die Mutakallimun und Ibn Taymiyya veranschaulicht Özervarli in folgendem Diagramm:
Schaubild 1: Özervarli, S. 85.
Als Beispiel für einen gültigen Beleg, der zugleich rational wie auch überliefert ist, nennt Ibn Taymiyya eine āya (Vers) aus dem Koran (41: 53), die auf »Zeichen an den Horizonten und in ihnen selbst« verweist, also auf Belege, die der Betrachtung des Universums und der menschlichen Natur selbst entnommen sind. Für Ibn Taymiyya besteht kein Zweifel daran, dass diese Belege, die von der Beobachtung der Schöpfung abgeleitet sind, rational sind.
Der genannte Koranvers lautet vollständig in Muhammad Asads Übertragung in Die Botschaft des Koran7:
Beizeiten werden Wir sie Unsere Botschaften voll verstehen lassen (durch das, was sie wahrnehmen) an den äußersten Horizonten (des Universums) und in sich selbst, so daß es ihnen klar werden wird, daß diese (Offenbarung) fürwahr die Wahrheit ist. (Dennoch,) genügt es nicht (daß sie wissen), daß dein Erhalter über alles Zeuge ist? (Koran, 41: 53)
In Ibn Taymiyyas Klassifikation gibt es keine scharfe Trennung von rationalen und überlieferten Beweisen. Sie bestehen vielmehr nebeneinander und ergänzen sich gegenseitig. Sie sind komplementäre Bestandteile des Wissens.
Vernunft kann nach Ibn Taymiyya der Offenbarung nicht widersprechen. Denn durch den Nachweis der Wahrhaftigkeit des Propheten bestätigt die Vernunft die Gewissheit der Offenbarung. Wenn also die Vernunft mit offenbartem Wissen in Konflikt geriete, würde die Vernunft ihre eigenen Schlussfolgerungen, nämlich die Wahrhaftigkeit der Offenbarung, negieren. Zu behaupten, dass die Vernunft die Gültigkeit der Offenbarung bestätigen und zugleich bestimmten Teilen von ihr widersprechen kann, führt zu einem logischen Widerspruch. Dadurch würde der Status der Vernunft als Quelle des Wissens für ungültig erklärt und damit einhergehend das Vertrauen in die Offenbarung erschüttert werden.
Überdies ist das Negieren irgendeines Teiles des Inhalts der Offenbarung auch eine indirekte Verwerfung der Autorität der Vernunft, da viele klare und gewisse rationale Belege wiederum diesen Inhalt beweisen.
Ibn Taymiyya stellt auch die vorgebliche Sicherheit der rationalen Beweise und der Vernunft im allgemeinen, wie sie im Kalam verstanden werden, in Frage. Einer der Gründe dafür ist die unübersehbare Vielfalt gegensätzlicher, ja widersprüchlicher Auffassungen, zu denen die Anwendung der vermeintlich rationalen Methoden der Mutakallimun geführt haben, z.B. hinsichtlich der Attribute Gottes.
Nach Ibn Taymiyya sollte nicht die Rationalität allein der Maßstab sein, sondern an erster Stelle die Gewissheit stehen. Demjenigen Beweis sollte der Vorrang gegeben werden, der gewiss (qatʿī) ist. Wenn sich zwei Beweise widersprechen, sollte derjenige mit einem höheren Grad an Gewissheit vorgezogen werden, unabhängig davon, ob er rational oder überliefert ist.
Ibn Taymiyya führt dazu aus:
Es wird gesagt, dass es, wenn zwei Beweise einander widersprechen, seien sie offenbart oder rational, oder einer offenbart und der andere rational, dann sein muss, dass entweder beide gewiss oder beide konjektural sind oder einer gewiss ist und der andere konjektural. Wenn beide gewiss sind, seien sie rational oder offenbart, oder einer rational und der andere offenbart, ist es nicht [logisch] möglich, dass sie einander widersprechen. Darin sind sich alle Leute der Vernunft einig, weil ein gewisser Beweis die Gültigkeit dessen aufzeigt, worauf er verweist, und seine Ungültigkeit unmöglich macht. Wenn daher zwei gewisse Beweise einander widersprechen würden, und einer dem widersprechen würde, was der andere aufzeigt, so würde dies die Verbindung zweier Gegensätze verlangen, was [logisch] unmöglich ist. Wann immer man einen scheinbaren Widerspruch zwischen zwei Beweisen findet, die als gewiss gelten, dann folgt notwendig daraus, dass beide Beweise oder mindestens einer von ihnen nicht gewiss ist; oder dass die beiden Gegenstände, die aufgezeigt werden, einander nicht widersprechen. […] Wenn jedoch [nur] einer der widersprüchlichen Beweise Gewissheit liefert, dann ist gemäß dem Konsens der Leute der Vernunft seine Priorität notwendig ungeachtet dessen, ob der Beweis offenbart oder rational ist, da Vermutung Gewissheit nicht überwiegt. (86-87; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿarudh, 1: 79)
Die Inhalte der Offenbarung ermangeln nicht einer rationalen Grundlage. Widersprüche treten dann auf, wenn das rationale Argument nicht stimmig oder wenn eine Überlieferung unsicher und zweifelhaft ist. Dies kann im Falle des Koran und der authentischen Sunna nicht eintreten, da ihr Status gesichert ist, wohingegen rationale Argumente überprüft werden müssen.
Ibn Taymiyya kritisiert auch den Einsatz der (Re-)Interpretation (taʾwīl) durch die Mutakallimun. Deren Definition von taʾwīl als »die Verwendung einer sekundären Bedeutung für ein besseres Verstehen des Textes« stimmt nicht mit dessen ursprünglicher Bedeutung überein. Die frühen Koranausleger und Salaf hatten unter taʾwīl nur das Erklären des Textes und die Klärung seiner Bedeutung (tafsīr al-kalām wa bayān maʾāhu) verstanden, was unproblematisch ist, da es nur auf ein besseres Verstehen des Textes abzielt.
Demgegenüber verstehen die Mutakallimun unter taʾwīl die Ersetzung der gebräuchlicheren oder wahrscheinlicheren Bedeutung eines Wortes durch eine weniger gebräuchliche oder wahrscheinliche (sarf al-lafz min al-ihtimāl al-rādschih ilā alihtimāl al-mardschūh), wenn die primäre Bedeutung Schwierigkeiten bereitet. Für Ibn Taymiyya entspricht dieses Verfahren, das sich von der allgemein üblichen Bedeutung entfernt, nicht der wahren Bedeutung von taʾwīl.
Ibn Taymiyya erkennt an, dass taʾwīl auch den Verweis auf eine Wahrheit (al-haqīqa allati yuʾawwal al-kalām ilayhā) bezeichnen kann. Dieser Sinn bezieht sich auf koranische Beschreibungen des jenseitigen Lebens, wobei der taʾwīl nur Allah und denjenigen, die Er darüber in Kenntnis setzte, bekannt ist. Es steht aber nicht den Mutakallimun zu, die Erkenntnis der verborgenen Bedeutung zu beanspruchen. Sie schreiben dem Text vielmehr Bedeutungen zu, die möglicherweise nicht der Intention Allahs entsprechen, was einer Abänderung (tahrīf) gleichkommt.
Die im Koran genannten Attribute Allahs sollten überhaupt nicht interpretiert werden, auch wenn sie gewisse Ähnlichkeiten mit menschlichen Eigenschaften aufweisen. Denn die Attribute Allahs unterscheiden sich völlig von menschlichen Eigenschaften, so dass der Gebrauch dieser Ausdrücke zur Beschreibung Allahs, der durch die Beschränktheit der menschlichen Sprache erforderlich ist, nicht anthropomorph ist. Von der metaphysischen (verborgenen) Welt mittels der Sprache dieser Welt zu sprechen, bedeutet nicht, eine Ähnlichkeit zwischen den beiden zu unterstellen. Alle Attribute Allahs sollten daher nicht interpretiert werden, im Gegensatz zur Praxis der Mutakallimun, die manche interpretieren und andere nicht.
Ibn Taymiyya verwirft allerdings Interpretation (taʾwīl) nicht völlig, sondern bezieht sie auf die in āya 3: 7 beschriebenen Verse, die mehrdeutig, dunkel oder äquivok (mutaschābihāt) sind.8 Es sollte dabei nicht angenommen werden, dass die Kenntnis der Bedeutung dieser Verse einzig Allah zukommt (tafwīd). Denn der Koran wurde von Allah herabgesandt, um verstanden und befolgt zu werden. Daher muss sein Inhalt erkennbar sein, mit Ausnahme der mehrdeutigen Verse, die ein höheres Maß an Wissen und Gelehrsamkeit voraussetzen. Ibn Taymiyya empfiehlt deshalb, sich um das Verstehen und Erklären des Koran zu bemühen, solange gewährleistet ist, dass die Bedeutungen nicht abgeändert werden.
2.6 Systematisierung einer koranischen Theologie: Rationalität innerhalb der Tradition
Ibn Taymiyya setzte sich durch seine Kritik vom Kalam ab und strebte danach, eine alternative rationale Theologie zu entwickeln, die auf der Offenbarung und den Traditionen der Salaf gründet. Während der Koran und die Sunna zu einer Einheit von Wissen und Handeln führen, ist das Ergebnis des Kalam bloß abstraktes Wissen. Die offenbarte Botschaft steht zudem in Einklang mit der menschlichen Natur und bietet daher eine direkte Beweismethode, die den auf Deduktion oder Analogie beruhenden Methoden des Kalam überlegen ist.
Ibn Taymiyya führt aus:
Der Unterschied zwischen den Methoden des Koran und des Kalam besteht darin, dass Allah gebietet, Ihm zu dienen, ein Dienst, der die Vervollkommnung der Seele, ihr Wohlergehen und ihr höchstes Ziel ist. Er beschränkte ihn nicht auf die bloße Affirmation [Bestätigung; tasdīq] von Ihm, worauf die Kalam-Methode abzielt. Diese beiden (Methoden) stimmen nicht überein, weder in den Methoden noch in den Zielen. Die koranische Methode ist, wie gesagt, intuitiv und direkt (fitriyya qarība), indem sie zum Wesen des Ziels führt, (wohingegen) die andere analogisch und umwegig (qīyasiyya baʿīda) ist, indem sie nur zu (einer Kenntnis) der Form des Ziels und nicht seines Wesens führt.
Was die Ziele betrifft, so übermittelt der Koran Wissen von Ihm und Dienst an Ihm. Er verbindet somit die beiden menschlichen Vermögen des Wissens und Handelns; oder Empfindung und Bewegung; oder perzeptiven Willen [perceptive volition] und Tätigkeit; oder Verbales und Praktisches. Wie Allah sagt: »Diene deinem Herrn«. Dienst beinhaltet notwendig Wissen von Ihm, Buße und Demut vor Ihm und Bedürfnis nach Ihm. Das ist das Ziel. Die Kalam-Methode gewährleistet nur den Nutzen der Affirmation und Anerkenntnis der Existenz Allahs. (89; Ibn Taymiyya, Madschmūʿ fatāwā, 2: 12)
Die Offenbarung selbst verfügt über rationale Grundlagen, die dem Gehalt ihrer Botschaft angemessen sind und Menschen mit unterschiedlicher Bildung zufriedenstellen können. Sie beinhaltet auch die erforderlichen Belege für die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) und bedarf daher keiner weiteren Theorien theologischer oder philosophischer Art.
Rationale Beweise für die Existenz Gottes und die Auferstehung, die auf der Betrachtung der natürlichen Welt basieren, finden sich beispielsweise in einer Reihe von Koranversen. Die Mutakallimun gebrauchen abstrakte Methoden, um zu den gleichen Schlussfolgerungen zu gelangen, welche die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft übersteigen. Dazu gehört etwa das kosmologische Argument (dalīl al-hudūth), das, grob gesagt, auf der Annahme basiert, dass die Kette von Ursachen und Wirkungen nicht endlos zurückgehen kann und somit einen Anfang erfordert, der mit Gott als erster Ursache oder Schöpfer gleichgesetzt wird. Dieser Beweis führt allerdings die Schwierigkeit mit sich, einerseits Gottes Ewigkeit und Unveränderlichkeit und andererseits Gottes Verursachen oder Erschaffen der Welt in der Zeit miteinander in Einklang zu bringen. Die muslimischen Philosophen in der aristotelischen Tradition versuchten beispielsweise das Problem dadurch zu lösen, dass sie die Ewigkeit der Welt annahmen.
Ibn Taymiyya lehnt die Ewigkeit der Welt ab, wie schon al-Ghazālī vor ihm in seinem philosophiekritischen Werk Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen). Darin stimmt er mit den Mutakallimun überein, welche die von den Philosophen vertretene These von der Ewigkeit der Welt ebenso verwerfen. Seine Kritik richtet sich allerdings auch gegen die Mutakallimun, da diese jede Ursache und jeden Zweck in der Schöpfung bestreiten.
Ibn Taymiyya versucht diese beiden Ansätze miteinander zu verbinden, indem er annimmt, dass Gott die Geschöpfe durchaus mit Absicht und Zweck ins Dasein bringt, und zwar durch Seinen unbegrenzten Willen und Macht. Während Ibn Taymiyya die Ewigkeit für jedes erschaffene Wesen ablehnt, erkennt er aber die Ewigkeit der Schöpfung selbst an, nicht im Sinne einer Ursache, sondern der fortgesetzten Schöpfungstätigkeit Gottes.
Der kosmologische Beweis zeigt bestenfalls die Notwendigkeit einer ersten Ursache (bzw. eines Schöpfers) auf, deren weitere Eigenschaften aber unbestimmt bleiben, so dass in Wirklichkeit kaum von einem Beweis der Existenz Allahs die Rede sein kann. Im Koran hingegen ist die Existenz Allahs in der Erschaffung der konkreten und wahrnehmbaren Entitäten (aʿyān) durch Allah fest gegründet. Ibn Taymiyya betont die Bedeutung der Zeichen (āyāt) Allahs in der Schöpfung. Diese Zeichen können überall in der Natur und im Menschen selbst von jedem ohne große Mühe gefunden, betrachtet und verstanden werden. Im Vergleich dazu ist, so Ibn Taymiyya, der Kalam-Beweis hingegen wie ein mageres Häuflein von Kamelfleisch jenseits eines Berges, der Berg unerreichbar, das Fleisch nicht der Mühe wert (siehe Madschmūʿ fatāwā, 2: 22).
Das Wissen von der Existenz Allahs stammt Ibn Taymiyya zufolge überdies aus der inneren Natur und Veranlagung des Menschen (fitra). Dieses Wissen macht die Kalam-Beweise überflüssig. Diese können gar nicht wirklich als Beweise für das Dasein Allahs verstanden werden, wenn nicht ein vorausgehendes Wissen um und Glauben an Allah vorausgesetzt wird. Nach Ibn Taymiyya ist die Erkenntnis und Anerkennung Allahs in die Herzen aller Menschen gelegt worden.
Der Begriff der fitra bezieht sich auf den Koranvers 30: 30, in dem es heißt: »in Übereinstimmung mit der natürlichen Veranlagung (fitra), die Gott den Menschen eingegeben hat (fatara)«. fitra bezeichnet die reine und ursprüngliche Natur und Veranlagung des Menschen. Dazu gibt es auch einen bekannten Hadith, der besagt: »Jedes Kind wird in seiner natürlichen Veranlagung (fitra) geboren; es sind nur seine Eltern, die es später zu einem ›Juden‹ oder ›Christen‹ oder ›Magier‹ machen.« Diese ursprüngliche Veranlagung birgt die intuitive Erkenntnis Allahs und führt somit zum Islam, kann aber auch durch äußere Einflüsse entstellt werden. Einige Denker wie z.B. al-Ghazālī hatten der fitra bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt, aber erst Ibn Taymiyya maß ihr eine wirklich zentrale Bedeutung bei.
Ibn Taymiyya hat im Gegensatz zum Kalam stets die enge Beziehung von Glauben und Handeln betont, die eine Verbindung zwischen der wahrnehmbaren und der verborgenen Welt herstellt. Es ist kein Zufall, dass die Propheten ihren Ruf zur Religion mit dem Dienst an und der Liebe zu Allah begannen und eben nicht mit »rationalen Beweisen«. Die Wurzeln des Glaubens liegen in der Anerkennung der Grundlagen der Religion, die einhergeht mit der Verpflichtung zur Befolgung der sich daraus ergebenden Gebote in allen Belangen des täglichen Lebens.
Ein weiteres Beispiel für den Unterschied zwischen der koranischen und der Kalam-Methode ist die Behandlung der leiblichen Auferstehung. Während die Mutakallimun die theoretische Möglichkeit der Auferstehung zu beweisen versuchen, vergleicht der Koran sie mit dem Schöpfungsakt, um so an ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit keinen Zweifel zu lassen.
Ibn Taymiyya übt auch Kritik an der Position des Aschʿarismus hinsichtlich der Handlungen Gottes, der es vermeidet, diese, wie etwa das Erschaffen (khalq) oder das Gewähren von Versorgung (tawdhīh ar-rizq), mit einem höheren Grund (ʿilla), Zweck oder Weisheit (hikma) zu verbinden. Die Aschʿariten befürchteten dadurch den Willen und die Macht Gottes unzulässig einzuschränken. Sie nahmen außerdem an, dass eine erschaffene Ursache zu einem infiniten Regress (tasalsul) führen müsse. Im Gegensatz dazu gingen wiederum die muslimischen Philosophen davon aus, dass Gott als erste Ursache die Kette von sekundären Ursachen anstößt, die sodann ihren determinierten und notwendigen Verlauf nehmen.
Nach Ibn Taymiyya ist hingegen das Handeln Allahs durch Weisheit bestimmt und steht im Einklang mit Seinen Zielen und Zwecken, wodurch Sein Willen und Seine Macht keineswegs eingeschränkt werden. Ibn Taymiyya strebt danach, ein alternatives Modell zum Okkasionalismus der Aschʿariten wie auch zum Determinismus der falāsifa zu entwickeln.
Darüber hinaus kritisiert Ibn Taymiyya die aschʿaritische Theorie des menschlichen Handelns, nach der Gott die menschlichen Handlungen erschafft, wobei der Mensch seine Handlungen lediglich erwirbt (kasb), was Ibn Taymiyya gleichwohl als – wenn auch modifizierten – Determinismus erachtet. So stimmen die beiden scheinbar gegensätzlichen Positionen der Aschʿariten und falāsifa doch letztlich in der Frage des Determinismus und der Verwerfung der menschlichen Handlungsfreiheit überein.
Für Ibn Taymiyya hingegen sind die Menschen die wirklichen Täter ihrer Handlungen im vollen Sinne, ausgestattet mit Willens- und Handlungsfreiheit. Der wichtigste Grund für diese Konzeption, der von Ibn Taymiyya immer wieder betont wird, ist darin zu finden, dass sonst die Offenbarung samt ihrer Gebote und Verheißungen witzlos wäre. Darauf geht Özervarli aber nicht mehr näher ein.
Özervarlis Schlussbemerkung bringt keine wesentlichen neuen Punkte. Es sei nur noch darauf hingewiesen, in welchen Denkern er Nachfolger von Ibn Taymiyya sieht: Ibn Qayyim al-Dschawziyya (gest. 751/1350), Ibn al-Wazīr (gest. 840/1436, Jemen) Muhammad asch-Schawkānī (1760-1834, Jemen), Muhammad Iqbal (1876-1938, Indien). Und vor allem sieht er unter modernen muslimischen Denkern den wahren Erben von Ibn Taymiyyas traditionalistischem Rationalismus in Musa Dscharullah Bigiev (1875-1949, Kazan).
Die zuletzt angerissenen Themen können als Ausblicke verstanden werden, die einer näheren und ausführlichen Behandlung bedürfen. Özervarli selbst ist in einem Aufsatz der Frage der fitra nachgegangen, in dessen Titel das Thema folgendermaßen bezeichnet wird: Göttliche Weisheit, menschliches Handeln und die fitra in Ibn Taymiyyas Denken.9
1 M. Sait Özervarli, The Qur’anic Rational Theology of Ibn Taymiyya and his Criticism of the Mutakallimun, in: Yossef Rapoport and Shahab Ahmed (Hg.), Ibn Taymiyya and His Times, Oxford: OUP, 2011, S. 78-100.
2 Siehe Yossef Rapoport and Shahab Ahmed (Hg.), Ibn Taymiyya and His Times, Oxford: OUP, 2011.
3 Siehe Ibn Taymiyya, Madschmūʿ fatāwa schaykh al-islām Ahmad ibn Taymiyya, Hg. ʿAbd ar-Rahman b. Muhammad b. Qasim und Muhammad b. ʿAbd ar-Rahman b. Muhammad, Beirut: Dar ʿAlam al-Kutub, 1983, 3: 339.
4 M. Sait Özervarli problematisiert den Begriff der Theologie nicht, daher sei hier ebenfalls davon abgesehen.
5 Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: M. Sait Özervarli, The Qur’anic Rational Theology of Ibn Taymiyya and his Criticism of the Mutakallimun, in: Yossef Rapoport and Shahab Ahmed (Hg.), Ibn Taymiyya and His Times, Oxford 2011 (OUP), S. 78-100.
6 Ibn Taymiyya, Darʾ taʿaruḍ al-ʿaql wa-n-naql aw muwāfaqat ṣaḥīḥ al-manqūl li-ṣarīḥ al-maʿqūl, Hg. M. R. Sālim, 11 Bände, Riyadh: Dār al-Kunūz al-Adabiyya, 1979.
7 Siehe Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Aus dem Englischen übersetzt von Ahmad von Denffer und Yusuf Kuhn, Düsseldorf, 2009.
8 Siehe Koran 3: 7 in der Übersetzung von Muhammad Asad: »Er ist es, der dir von droben diese göttliche Schrift erteilt hat, Botschaften enthaltend, die klar in und durch sich selbst sind, – und diese sind die Essenz der göttlichen Schrift – wie auch andere, die allegorisch sind. Nun gehen jene, deren Herzen zum Abweichen von der Wahrheit geneigt sind, demjenigen Teil der göttlichen Schrift nach, der in allegorischer Weise ausgedrückt worden ist, suchen aus (was bestimmt) Verwirrung (erzeugt) und suchen seine endgültige Bedeutung (auf willkürliche Weise zu erlangen); aber keiner außer Gott kennt seine endgültige Bedeutung. Darum sagen jene, die tief im Wissen verwurzelt sind: "Wir glauben daran; das Ganze (der göttlichen Schrift) ist von unserem Erhalter – wiewohl sich dies keiner zu Herzen nimmt außer jenen, die mit Einsicht versehen sind.« (Siehe Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Aus dem Englischen übersetzt von Ahmad von Denffer und Yusuf Kuhn, Düsseldorf, 2009, S. 106-107.)
9 Siehe M. Sait Özervarli, Divine Wisdom, Human Agency and the fiţra in Ibn Taymiyya’s Thought, in: Birgit Krawietz and Georges Tamer (Hg.), Islamic Theology, Philosophy and Law. Debating Ibn Taymiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya, Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2013, S. 37-60.