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Versöhnung von Vernunft und Offenbarung in den Schriften von Ibn Taymiyya

1.1 Vorbemerkung

Der folgende Text behandelt die Frage des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung anhand eines Werkes von Ibn Taymiyya, nämlich des Darʾ taʿārudh al-aql wa an-naql (Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Offenbarung). Er basiert auf einem Vortrag von Yasir Qadhi, der ziemlich nahe am Original wiedergegeben wird. Darin wird nicht nur ein Einblick in eines der größten und bedeutendsten Werke von Ibn Taymiyya geboten, sondern zugleich eine Einführung in einige grundlegende Fragen des islamischen Denkens. Nicht zuletzt wird es dabei auch immer wieder um Ibn Taymiyyas Kritik der Philosophie gehen.

Der Vortrag von Yasir Qadhi kann als Einstieg in diese Thematik gute Dienste leisten, da er wichtiges Hintergrundwissen bereitstellt, einige Positionen von muslimischen Denkern darlegt und philosophische Themen von größter Bedeutung anspricht. Dabei sollte von diesem kleinen Text nicht zu viel erwartet werden. Er bietet nicht so sehr Antworten, sondern wirft vielmehr Fragen auf, die von so grundlegender Bedeutung sind, dass sie eine stete und unerlässliche Befassung mit ihnen erfordern werden. Als Beispiel mag etwa dienen die Frage nach dem Begriff der Vernunft, die Ibn Taymiyya durch seine radikale Infragestellung des Vernunftbegriffs der philosophischen Tradition in großer Schärfe aufwirft. Oder auch die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, die durch das Einreißen von deren dichotomischer Abgrenzung in neuem Licht erscheint. Dazu gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Koran und Wissenschaft, zu der durchaus problematische Positionen vertreten werden, die nichtsdestotrotz - oder gerade deswegen - Anlass zu vertiefenden Nachfragen bieten.

Dieser Text verspricht also in erster Linie eine Einführung in den Themenkomplex des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung und das Aufwerfen von Fragen, denen es in der Folge im Rahmen einer näheren Untersuchung nachzugehen gilt. Er hat dabei den Vorzug, uns mitten in die Problematik zu versetzen und doch zugleich in gewissem Sinne übersichtlich zu bleiben.


Yasir Qadhi wurde vom International Institute of Islamic Thought (IIIT)18 zu einem Vortrag eingeladen, um seine Dissertation, die er soeben abgeschlossen hatte, vorzustellen. Das Thema der Dissertation ist das 11-bändige Werk von Ibn Taymiyya Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Offenbarung).19

Der folgende Text ist eine Übersetzung und zusammenfassende Paraphrase mit unwesentlichen Kürzungen des Vortrags von Yasir Qadhi, wobei die Nähe zum gesprochenen Wort durchaus gewahrt bleibt.

Die Aufnahme des Vortrags wurde als Video unter folgendem Titel veröffentlicht:

Yasir Qadhi - Reconciling Reason and Revelation in the Writings of Ibn Taymiyya (Versöhnung von Vernunft und Offenbarung in den Schriften von Ibn Taymiyya).20

1.2 Einführung

1.2.1 Ibn Taymiyyas Darʾ taʿārudh als Antwort auf ar-Rāzīs Asās at-taqdīs

Ibn Taymiyyas Werk Darʾ taʿārudh21 kann nur aus seinem historischen Kontext heraus verstanden werden. Ibn Taymiyya verfasste dieses Buch als Antwort auf den berühmtesten aschʿa-ritischen Theologen (mutakallim) und Philosophen seiner Zeit, nämlich Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī. Dieser hatte im Jahr 1200 ein Buch mit dem Titel Asās at-taqdīs (Grundlagen der Heiligkeit) geschrieben. Es ist ein kleines Buch von etwa 100 Seiten. Ibn Taymiyyas Antwort darauf nahm hingegen gewaltigen Umfang an, nämlich mehrere tausend Seiten in elf Bänden.

Die Kontroversen der damaligen Zeit unterscheiden sich stark von heutigen. Sie können manchen daher als irrelevant erscheinen, was sie in Wirklichkeit nicht sind. Das zeigt sich sogleich, wenn man die Oberfläche verlässt und sich mit den zugrundeliegenden Konzepten befasst, die auch in unserer Gegenwart keineswegs ihre Bedeutung verloren haben.

Die islamischen Denker debattierten damals beispielsweise über die sogenannten Attribute Allahs, Vorherbestimmung und Kosmologie. Zu diesen Fragen hatten sich verschiedene Schulen herausgebildet. Die wichtigsten sind: muʿtazila, aschʿarī, atharī.

Ibn Taymiyya gehört zur atharī-Schule (athara = überliefern, berichten; athar = Tradition, Überlieferung). Ibn Taymiyya erörtert die Positionen der verschiedenen Schulen insbesondere in bezug auf die Frage der Namen und Attribute Allahs.

Was hat das mit ʿaql (Vernunft) und naql (Überlieferung, Offenbarung) zu tun? Diese Frage führt zurück zu ar-Rāzī und dessen Asās.

1.2.2 ar-Rāzī über die Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl)

ar-Rāzī stellt zunächst einige Prämissen auf, z.B. folgende These: Allah kann nicht Raum einnehmen (tahayyuz) oder ein Körper sein (dschism).

Diese Annahmen beweist er sodann mit rationalen Argumenten, aber unter Umständen sogar auch auf der Grundlage der Offenbarung.

Dann zieht er die Schlussfolgerung daraus: Immer wenn die Offenbarung sagt, dass Allah Raum einnimmt oder ein Körper ist, kann die Vernunft dies nicht wörtlich nehmen.

Der Großteil des Buches von ar-Rāzī ist eine detaillierte Analyse von āyāt (Koranversen) und ahādīth (prophetischen Überlieferungen), die von Namen und Attributen handeln, die nicht wörtlich genommen werden können und daher reinterpretiert werden müssen.

Nehmen wir als Beispiel eine Aussage aus einem von Bukhari überlieferten hadīth (Hadith, prophetische Überlieferung): Allah lacht über jemanden, der etwas tut.

ar-Rāzī stellt demgegenüber die These auf, dass es unmöglich ist, Allah Lachen zuzuschreiben, und begründet diese These, indem er die sprachlichen Bedeutungen von »lachen« anführt und auf deren Unvereinbarkeit mit dem Wesen Allahs hinweist, um daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, dass eine Umdeutung der betreffenden Stelle erforderlich ist.

Der Titel des Kapitels, in dem ar-Rāzī dieses Thema behandelt, lautet:

Wenn rationale Beweise (dalāʾil ʿaqliyya) in Widerspruch zu textlichen Beweisen (dalāʾil naqliyya) stehen, was muss dann getan werden?

ar-Rāzī stellt darin fest:

Wisse, dass, wenn unbezweifelbare rationale Beweise (ʿilm yaqīnī) uns dazu führen, etwas festzustellen, und wir dann textliche Belege finden, die mit unseren rationalen Beweisen in Konflikt zu stehen scheinen, es dann vier mögliche Szenarien gibt.

Nämlich:

1. Rationale und textliche Beweise werden geglaubt. Das ist aber widersprüchlich, also logisch unmöglich.

2. Die äußere Bedeutung der textlichen Belege wird abgelehnt, aber die rationalen Beweise werden angenommen. Also naql wird abgelehnt und ʿaql angenommen. ar-Rāzī kommentiert dies nicht weiter.

3. ʿaql und naql werden abgelehnt. Dies ist aber logisch unmöglich.

4. Die Schrift (naql) wird geglaubt, aber die Vernunft (ʿaql) abgelehnt.

Das sind die vier logischen Möglichkeiten: ʿaql und naql annehmen; einen von beiden ablehnen, beide ablehnen.

ar-Rāzī fährt daraufhin fort, indem er die vierte Möglichkeit erörtert:

Wenn wir die Bedeutung der Schrift annehmen und unsere Vernunft negieren, dann ist dies auch eine Negierung der Schrift.

Er begründet dies so: Wir erkennen die Wahrheit der Schrift (naql) durch unsere Vernunft (ʿaql); wenn wir folglich ʿaql ablehnen und naql annehmen, dann ist dies gleichbedeutend damit, beide abzulehnen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt für ar-Rāzī.

Wir erkennen, dass der Koran das Wort Allahs (kalām Allāh) ist, mittels unserer Vernunft (ʿaql). Wenn wir also unserem ʿaql folgen und sagen, dass der Koran kalām Allāh ist und dem Gesandten Allahs, rasūl Allāh, (hadīth) glauben, und dann feststellen, dass Koran und Hadith unserem ʿaql widersprechen, also sagen, dass wir naql annehmen und ʿaql daher nicht gültig sein kann, dann haben wir, indem wir ʿaql in diesem Fall ablehnen, die Reputation von ʿaql bei der vorausgehenden Annahme von naql beschädigt.

Das Vermögen der Vernunft wurde geschmälert und sein Wert ruiniert.

Woher wissen wir denn, dass naql wahr ist, wenn wir ʿaql hinsichtlich etwas anderem bezweifeln?

Die erste und dritte Alternative sind für ar-Rāzī logisch unmöglich. Die vierte wurde soeben widerlegt. Die zweite Alternative kommentiert er nicht näher, aber es ist klar, dass sie keine echte Möglichkeit darstellt, denn die Ablehnung der Offenbarung (naql) ist offensichtlich kufr, also gleichbedeutend mit der Ablehnung des Islam.

ar-Rāzī kommt angesichts der Unmöglichkeit der vier Alternativen zu dem Schluss, dass eine fünfte Alternative gefunden werden muss. Und diese lautet so:

Wir bestätigen ʿaql und glauben sodann, dass naql etwas anderes bedeutet, als es sagt, was es bedeutet, also als seine äußere Bedeutung.

Wir lehnen naql nicht ab, sondern nehmen es an und bringen es in Einklang mit ʿaql: Die Bedeutung von naql muss reinterpretiert werden in Übereinstimmung mit dem, was ʿaql sagt.

Wir können dies auf zwei Weisen tun:

1. Wir kümmern uns nicht um die tatsächliche Bedeutung und machen, was die Gelehrten tafwīdh nennen; tafwīdh bedeutet: Allah weiß, was dies bedeutet, aber wir wissen es nicht (z.B. alif lam mim etc.). Welche Bedeutung es auch immer haben mag, jedenfalls nicht seine wörtliche Bedeutung, um die wir uns nicht kümmern müssen (z.B. Allahs Namen und Attribute: istawā (Sitzen), dhahika (Lachen) etc.).

2. Wir nehmen eine Reinterpretation vor: taʾwīl; z.B. istawā (sitzen) wird umgedeutet. An die Stelle der äußeren Bedeutung »Allah sitzt auf dem Thron« tritt mittels Umdeutung (taʾwīl) die allegorische Bedeutung: Allah hat die Herrschaft über Himmel und Erde (d.h. die gesamte Schöpfung) inne (istawā wird damit gleichgesetzt mit istawla).

ar-Rāzī beschließt das Buch Asās mit den Worten:

Das ist al-qānūn al-kullī, die universelle Regel, die in allen unklaren Fällen bei einem Konflikt von ʿaql und naql angewendet wird.

ar-Rāzī propagiert diese Interpretationsregel, die er al-qānūn al-kullī nennt. Sie ist aber nicht seine Idee, sondern stammt ursprünglich von al-Ghazālī. ar-Rāzī hat sie neben etlichen anderen Dingen von al-Ghazālī übernommen.

al-Ghazālī hat ein Buch darüber geschrieben: al-Qānūn al-kullī fi at-taʾwīl. ar-Rāzī übernimmt daraus ganze Abschnitte.

al-Ghazālī stellt darin fest:

Wisse, dass, wenn ein rationaler Beweis etwas feststellt und ein textlicher Beweis in Widerspruch dazu steht, wir dem rationalen Beweis den Vorrang über den textlichen Beweis geben müssen.

Dieses Konzept einer Regel der Reinterpretation, des qānūn at-taʾwīl hat al-Ghazālī entwickelt und ar-Rāzī in seinem Asās von ihm übernommen. Die Abhandlung von al-Ghazālī ist nicht sehr bekannt, wohingegen Asās von ar-Rāzī überaus berühmt ist.

Das ist also der Grund oder Anlass, weshalb Ibn Taymiyya seinen Darʾ ta ʿārudh geschrieben hat.

1.2.3 Über Ibn Taymiyya und die atharitische Schule

Ibn Taymiyya stammt aus einer Familie hanbalitischer Gelehrter. Er wurde in der Stadt Harran (in der heutigen Türkei) geboren. Durch die Invasion der Mongolen waren seine Eltern zur Flucht gezwungen. Sie brachten Ibn Taymiyya daher nach Damaskus - einem der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt.

Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und er übernahm von seinem Vater den Lehrstuhl in der Moschee im Alter von 18 oder 19 Jahren. Ibn Taymiyya wurde Lehrer der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Er war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.

Ibn Taymiyya unterscheidet sich allerdings in entscheidender Hinsicht von allen früheren Hanbaliten. Denn er tat, was frühere Hanbaliten oder Atharis nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner.

Die früheren hanbalitischen Gelehrten waren in dieser Hinsicht sehr engstirnig. Sie weigerten sich, die Bücher der Philosophen, Griechen oder mutakallimūn zu lesen, da sie diese für unvereinbar mit ihrem Verständnis des Islam hielten und jeden Einfluss auf ihr Denken von vornherein vermeiden wollten.

Wenn man atharitische Bücher vor Ibn Taymiyya liest, stellt man fest, dass sie sich von seinen Büchern grundlegend unterscheiden. Sie sind sehr simplistisch. Sie bestehen größtenteils aus einer Aneinanderreihung von Zitaten aus Koran und Hadith. Es werden kaum Gedanken entwickelt. Man beschränkt sich auf die Feststellung: »Das ist, was Koran und Hadith sagen; das musst du glauben!«

Ibn Taymiyya widersetzte sich diesem Trend. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: tasawwuf (Sufismus), Philosophie, griechische Logik, Werke von Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat und sogar nach ihm nicht mehr geben sollte.

Selbst diejenigen, die behaupten, Ibn Taymiyya zu folgen, folgen ihm in Wirklichkeit nicht. Viele davon haben seinen Geist nicht verstanden. Sie glauben ihn zu imitieren, können aber nicht einmal in seine Fußstapfen treten.

Ibn Taymiyya stellte sich in die atharitische Tradition und griff deren Anliegen auf, allerdings in einer noch nie dagewesenen Art und Weise, da er sein Denken den in seiner Umgebung kursierenden Gedanken aussetzte und begann, die atharitische Glaubenslehre (ʿaqīda) und die atharitische Methodologie zu verteidigen, und zwar in einer Weise, die einmalig ist.

Ibn Taymiyya war zweifellos ein harter Polemiker. Er kannte keine Nachsicht mit irgendeiner anderen Gruppe. Er glaubte wahrhaftig, dass es einen Islam gibt, einen korrekten Islam. Und jede andere Ideologie, Theologie und Methodologie wurde auf der Waage von Koran und Sunnah gewogen, so wie sie von den früheren Generationen des Islam verstanden wurden: der atharitischen Glaubenslehre, wie er es nannte.

Seine härteste Kritik richtete sich gegen die falāsifa (Philosophen) wie Ibn Sīnā und die extremen mutasawwifa (Sufis) wie Ibn ʿArabī und Hallādsch. Sie genossen sehr wenig Sympathien bei Ibn Taymiyya – wie übrigens auch bei al-Ghazālī.

Aber der bloßen Quantität nach betrachtet, richtete sich der weitaus größte Teil seiner Kritik vor allem gegen die sunnitische – wie er selbst – Schule der Aschʿariten. Warum konzentriert er sich auf die ʿaqīda, die ihm am nächsten ist und die er selbst als sunnī anerkennt? Die Aschʿariten gehören ja schließlich zur allgemeinen sunnitischen Strömung.

1.2.4 Die Entwicklung des Aschʿarismus

Der Grund dafür liegt in der Geschichte der letzten 150 Jahren, die vor Ibn Taymiyya vergingen. Die aschʿaritische Schule entwickelte sich aus einem sehr kleinen Kern in Nischapur im Laufe von 150 Jahren zur vorherrschenden Strömung des sunnitischen Islam. Noch 300 Jahre vor Ibn Taymiyya war die atharitische Schule die größte Vertretung des sunnitischen Islam. Sie war in Bagdad vorherrschend. Selbst der Kalif war ein Anhänger dieser Schule. Es gibt Glaubenslehren (ʿaqīda), die dies belegen.

Als die aschʿaritische ʿaqida in Bagdad eingeführt wurde, kam es zu großen Unruhen, zur Fitna von Quschairi. Es dauerte 150 Jahre, bis diese ʿaqīda die Vorherrschaft über die atharitische ʿaqīda gewonnen hat. Zu der Zeit von Ibn Taymiyya war seine ʿaqīda schon in einer schwachen Position, in der Minderheit. Er erkannte daher die Notwendigkeit, sie gegen seinen hauptsächlichen Konkurrenten zu verteidigen. Und der war nicht der Schiismus oder Sufismus, sondern der Aschʿarismus. Das erklärt seine Motivation, sich auf dessen Anspruch auf Vorherrschaft zu konzentrieren.

1.3 Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql

Gehen wir nun über zu Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql.

1.3.1 Zum Titel

Darʾ taʿārudh ist eines der umfangreichsten Bücher, die Ibn Taymiyya geschrieben hat. Ibn Taymiyya hat viele Abhandlungen und fatāwā (Fatwas) verfasst. Sie füllen in modernem Druck 7-8 Regale. Darʾ taʿārudh allein umfasst dabei ca. 10-11 Bände.

Der Titel stammt von Ibn Taymiyya selbst: Darʾ taʿārudh al- ʿaql wa an-naql - Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Schrift.

In einem anderen Text nennt er es: muwāfaqa an-naql as-sarīh wa al-ʿaql as-sahīh - Versöhnung der expliziten Schrift mit dem korrekten Intellekt (oder mit anderen Worten: Übereinstimmung der klaren Offenbarung und der richtigen Vernunft).

Daraus ersieht man sogleich, dass Ibn Taymiyya eine ganz andere Philosophie entwickelt als ar-Rāzī, der von einem Konflikt von ʿaql und naql ausgeht.

1.3.2 Darstellung des Inhalts

Ich werde Darʾ taʿārudh in einer knappen Zusammenfassung referieren. In meiner Dissertation habe ich den Inhalt weit ausführlicher dargelegt, indem ich hundert Seiten auf seine Zusammenfassung verwandt habe. Hier möchte ich einige der wichtigsten Punkte umreißen.

1.3.2.1 Die Interpretationsregel al-qānūn al-kullī

Ibn Taymiyya zitiert auf der ersten Seite wörtlich den letzten Absatz des Asās von ar-Rāzī, in dem dieser al-qānūn al-kullī (die allgemeine Regel) darstellt. Er bringt mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass es ihm um eine Widerlegung von al-qānūn al-kullī geht.

Den wesentlichen Gehalt der Interpretationsregel namens al-qānūn al-kullī gibt Ibn Taymiyya folgendermaßen an:

Wenn ʿaql und naql in einem Widerspruch stehen, müssen wir ʿaql gegenüber naql vorziehen und naql gemäß ʿaql interpretieren.

Dann kommentiert Ibn Taymiyya:

Diese Angelegenheit der Interpretation von naql mit ʿaql ist der Eckstein (die Hauptstütze) aller Häresie (ilhād) und Abweichung. Das ist die Prämisse, von der ausgehend allerlei Gruppen Unordnung schaffen. Das ist die Quelle, der die Häresie entspringt.

1.3.2.2 … und ihre Widerlegung

Diese These kann auf zweierlei Weise widerlegt werden: allgemein und spezifisch.

1.3.2.2.1 Abänderung der Religion

Die Widerlegung auf allgemeine Weise besagt, dass dies schlicht nicht ist, worum es im Islam geht.

Ibn Taymiyya bezieht sich auf eine detaillierte Analyse des Christentums. Er war ein Kenner der christlichen Polemik. Eines seiner umfangreichsten Bücher ist eine Widerlegung des Christentums: al-Dschawāb as-sahīh li-man baddala dīn al-masīh (Die richtige Antwort an den, der die Religion des Messias abändert).

Ibn Taymiyya sagt, dass die Umdeutung durch die Anwendung der Interpretationsregel eben genau das ist, was die Christen mit ihrer Religion getan haben. Die Christen haben ihre Doktrinen mittels ihrer Konzile abgefasst (z.B. Konzil von Nicäa usw.). Dann nahmen sie diese Doktrinen als ihr asl (Grundlage). Und daraufhin betrachteten sie ihren naql im Lichte dieses asl. Dadurch sind sie dazu gelangt, Trinität, Erlösung und Erbsünde in die Offenbarung hineinzulesen, obgleich ihre Schrift zu diesen Fragen entweder ganz schweigt oder ambig (mehrdeutig) ist.

Ibn Taymiyya unternimmt sodann eine spezifische Widerlegung, die in die Einzelheiten geht. 44 Punkte werden in zehn Bänden abgehandelt. Wir werden etwa zehn davon behandeln. Und dann werde ich alle 44 Punkte knapp zusammenfassen und unter bestimmte Titel gruppieren.

1.3.2.2.2 Unterscheidung der Belege: ʿaqlī-naqlī oder yaqīnī?

Ibn Taymiyya stellt diese 44 Punkte überblickend ganz allgemein fest:

Die binäre Unterscheidung der Belege in entweder rational (ʿaqlī) oder textlich (naqlī) ist falsch.

Das ist eine inkorrekte Weise, die Welt zu betrachten. Denn dadurch wird ein Konflikt erzeugt.

Belege sollten stattdessen hinsichtlich ihrer Unbezweifelbarkeit, also ihres yaqīn-Status (Status der Gewissheit) betrachtet und gewertet werden.

Damit ist gemeint: Wenn ʿaql yaqīn ist, geben wir ʿaql den Vorrang, nicht weil es ʿaql ist, sondern weil es yaqīn ist. Und wenn naql yaqīn ist, geben wir naql den Vorrang, nicht weil es naql ist, sondern weil es yaqīn ist.

Wir sollten den Wert der Belege nicht danach bemessen, ob es ʿaql oder naql ist, sondern gemäß ihres Grades der Evidenz.

Die Aufstellung dieser binären Demarkation (Abgrenzung) ist an sich schon falsch.

Die Behauptung, dass ʿaql die Grundlage für die Annahme von naql ist, lässt sich besser verstehen, wenn man den Aschʿarismus kurz näher betrachtet.

1.3.2.2.3 Aschʿarismus: naql gründet im ʿaql

Die aschʿaritische Theologie (kalām) behandelt die ʿaqīda (Glaubenslehre) auf eine strikt festgelegte Weise, mit einer ganz bestimmten Methode.

An den Beginn der Argumentation wird eine tabula rasa (leere Tafel) gesetzt: Der Geist ist leer. Daher ist es notwendig, rational zu beweisen, dass Gott existiert. Und im nächsten Schritt muss rational bewiesen werden, dass Gott Propheten sendet; und dann, dass der Prophet Wunder bringen muss; und dann, dass Muhammad (sas) ein wahrer Prophet ist. Daraufhin nimmt man den Glauben an. Denn die Aschʿariten wollten keinen blinden Glauben, al-imān al-muqallid. Blinder Glaube wird von ihnen missbilligt, womöglich sogar nicht einmal anerkannt.

Den Aschʿariten zufolge besteht die erste Pflicht des verantwortlichen Menschen mit gesundem Verstand (mukallaf) darin, seinen Glauben zu durchdenken, d. h. rational zu durchdringen und zu begründen.

ar-Rāzī bezieht in diesem Sinne Position: ʿaql kommt vor naql, denn ʿaql führt uns zu naql. Wenn wir einen Widerspruch finden und deshalb ʿaql verwerfen, verwerfen wir daher auch naql.

1.3.2.2.4 Ibn Taymiyyas Erwiderung: naql von ʿaql unabhängig

Ibn Taymiyya hingegen sagt: Deine Behauptung, dass ʿaql den Vorrang vor naql hat, ist nicht richtig, denn was naql feststellt, ist unabhängig von ʿaql. Was Allah und Sein Gesandter sagen, ist wahr ungeachtet dessen, ob du es weißt oder nicht oder ob dein ʿaql es versteht oder nicht.

Was die aschʿaritischen Gelehrten sagen, ist in Wirklichkeit, dass die Wahrheit der Schrift für sie von ihrem ʿaql abhängig ist, nicht die Wahrheit der Schrift an sich.

Das ist ein sehr tiefgründiger und bedeutungsvoller Punkt. Die Wahrheit der Schrift kann nicht von meinem oder deinem Geist abhängig sein. Denn sie ist kalām Allāh, das Wort Allahs.

Ob jemand den Koran als kalām Allāh annimmt, fügt diesem nichts hinzu, ändert nichts an der Tatsache, dass er kalām Allāh ist. kalām Allāh ist völlig unabhängig davon, ob jemand ihn annimmt oder nicht. schaitān (Satan) lehnt ihn ab – was ändert das? Das ändert die Eigenschaften des Koran nicht.

Sie müssen vielmehr verstehen, dass die Wahrheit von naql von ihrem ʿaql abhängig ist. Das ist wahr, aber nicht, dass die Wahrheit von naql unbedingt von ihrem ʿaql abhängig ist.

1.3.2.2.5 Was meinst du mit ʿaql (Vernunft)?

Ibn Taymiyya fährt fort – und das ist einer der wichtigsten Punkte in Darʾ -, indem er eine Frage aufwirft:

Was genau meinst du mit ʿaql?

Wenn du mit ʿaql den inneren Instinkt (gharīza) meinst, den die Menschen als natürliche Veranlagung besitzen, dann ist diese Annahme völlig falsch. Denn dieser innere Instinkt ist gar nicht fähig, der Schrift zu widersprechen.

Wenn du mit ʿaql das erworbene Wissen (z.B. Physik, Mathematik, Biologie) meinst, dann ist dies in diesem Fall auch nicht richtig, und zwar aus folgenden Gründen (Ibn Taymiyya bringt hier viele Einzelheiten):

1. Erworbenes Wissen unterscheidet sich von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort, von Person zu Person. Was jemand heute für Vernunft hält, von dem wird er selbst morgen entdecken, dass es nicht Vernunft ist. Und was in einer Gesellschaft heute als Vernunft gilt, dazu wird eine andere Gesellschaft morgen sagen, dass es nicht Vernunft ist. Historisch gesehen, sind solide erscheinende rationale Beweise, insbesondere ethischer und metaphysischer Art, die von ʿaql abgeleitet sind, wandelbar. Sie verändern sich in der Geschichte. Das kann man nicht bestreiten.

2. Eine andere Annahme von ar-Rāzī und der aschʾaritischen Schule ist die Einheit der Vernunft: Sie machen ʿaql zu einer einzigen großen und unteilbaren Entität. Das ist aber falsch. Was die Wahrheit von naql bewiesen hat, ist ein Teil von all dem, was man hat, ein Teil von deinem ʿaql. Dieser Teil hat bewiesen, dass Muhammad (sas) ein Prophet ist. Was nun vom Propheten kommt, könnte einem anderen Teil deines ʿaql widersprechen.

Er teilt ʿaql in viele Teile auf. Und er sagt, dass der Teil, der bewiesen hat, dass er ein Prophet ist, nichts zu tun hat mit Allahs Namen und Attributen oder irgendeinem anderen Teil. Es gibt also keinen Konflikt zwischen ʿaql und naql, sondern zwischen einem Teil von ʿaql mit einem anderen Teil von ʿaql, der unabhängig von naql ist.

3. Das ist ein Widerspruch im Denken. Denn du weißt entweder, dass der Prophet (sas) ein wahrer Prophet ist, oder nicht. Wenn er ein wahrer Prophet ist, dann verlangt ʿaql, dass du ihn annimmst. Wenn er kein wahrer Prophet ist, gibt es ohnehin keinen Konflikt. Du widersprichst dir sonst selbst. Es ist, als ob du zu dir selbst sagen würdest: Glaube nicht, wovon du weißt, dass es wahr sein muss, weil es in Widerspruch zur Wahrhaftigkeit der Person steht, die spricht.

Mit anderen Worten: Du kommst dahin, den Propheten abzulehnen, weil du ihn nicht ablehnen wolltest. Warum hast du diesen Hadith abgelehnt? Weil den Hadith anzunehmen, bedeuten würde, ihn als Propheten abzulehnen.

ar-Rāzīs Hauptpunkt besagt: Wenn ich etwas annehme, dessen Annahme intellektuell (oder rational) für mich unmöglich ist, dann ziehe ich meinen Intellekt (oder meine Vernunft) in Zweifel, wenn er (oder sie) mir sagt, dass dieser Mann ein Prophet von Allah ist.

Wenn mein Intellekt (oder Vernunft) sich hinsichtlich dieses bestimmten hadīth oder āya (Koranvers) irrt, dann irrt er (oder sie) sich vielleicht auch darüber, dass er ein Prophet ist oder dass dies ein Buch von Gott ist. Um also den Propheten (sas) nicht abzulehnen, muss ich den Propheten (sas) ablehnen. Um den Propheten (sas) nicht abzulehnen, muss ich diesen Hadith ablehnen. Und du kommst schließlich dahin, genau das zu tun, was du ursprünglich eben nicht tun wolltest. Das ist offensichtlich ein logischer Fehlschluss (Fehler, Irrtum).

1.3.2.2.6 al-qānūn al-kullī und sein Gegenteil

Ibn Taymiyya stellt im 6. Punkt fest:

Würde man das Gegenteil behaupten, so wäre es der Wahrheit näher als al-qānūn al-kullī.

Was ist das Gegenteil?

Wenn ʿaql und naql sich widersprechen, sollten wir naql den Vorrang geben.

Wenn man das sagen würde – Ibn Taymiyya sagt es nicht-, so würde es logisch und rational mehr Sinn machen. Denn ʿaql beweist, dass naql als Ganzes wahr und gültig ist. Wenn es eine bestimmte Frage gibt, die ʿaql nicht versteht, macht es Sinn, diese Sache einfach anzunehmen und die Grenzen von ʿaql anzuerkennen. Denn ʿaql hat die Gültigkeit von naql im allgemeinen bestätigt. Aber naql hat nicht die Gültigkeit von jedem ʿaql bestätigt. Diese Beziehung ist also nur in eine Richtung gültig.

Wir wissen, dass der Koran kalām Allāh (Wort Allahs) ist. Wenn wir auf eine āya stoßen, die wir nicht verstehen, sagt uns ʿaql unter der Voraussetzung, dass wir wissen, dass der Koran kalām Allāh ist: das genügt, wir nehmen es an. Unser ʿaql sollte uns dies sagen.

Dafür gibt Ibn Taymiyya ein schönes Beispiel:

Stell dir vor, ein Fremder kommt in eine Stadt und hat eine Frage zum fiqh (Recht/Moral). Er möchte daher einen Mufti fragen. Da findet er jemanden in der Moschee und fragt ihn, wo der Mufti ist. Er antwortet: »Ich bringe dich zu unserem großen Mufti, den besten Mufti der Stadt.« Er nimmt ihn bei der Hand und bringt ihn zum Mufti. Der Fremde stellt dem Mufti eine Frage. Der Mufti erteilt seine fatwā (Fatwa). Auf dem Rückweg sagt sein Führer: »Nein, nein, weißt du, der Mufti liegt falsch. Tut mir leid, ich kann dem Mufti nicht zustimmen. Er hat Unrecht.« Der Fremde sagt: »Aber du hast mir doch gesagt, dass er der Mufti ist.« »Ja, aber das macht keinen Sinn, du musst meiner Meinung folgen.« Der Mann sagt – und nun spricht Ibn Taymiyya: »Nein, die Tatsache, dass du bezeugt hast, dass er der Mufti ist und der beste Mufti der Stadt, bedeutet, dass dies die Person ist, deren fatwā ich annehmen muss. Und die Tatsache, dass du mit einer fatwā von ihm nicht einverstanden bist, macht deine frühere Bezeugung, dass er der große Mufti der Stadt ist, nicht zunichte.«

Und eben dies kennzeichnet die Rolle von ʿaql und naql für Ibn Taymiyya: ʿaql sagt, dass naql kalām Allāh ist. Wenn nun eine bestimmte āya nicht verstanden wird, so macht es nicht die Bezeugung zunichte, dass naql kalām Allāh ist. Das ist ein interessanter Punkt.

1.3.2.2.7 Konflikte zwischen ʿaql und naql sind nie rein rational

Ibn Taymiyya vertritt auch folgende Auffassung:

Wenn es Konflikte zwischen ʿaql und naql gibt, so treten diese Konflikte immer in Bereichen auf, die nicht rein intellektuell (oder auf Vernunft basierend) sind. Nie tritt ein Konflikt in einem Bereich auf, der rein mathematisch oder wissenschaftlich ist, sondern in der Ethik, bei Gottes Attributen, in philosophischen Fragen.

Die klarste ʿaqlī-Wissenschaft (Vernunftwissenschaft) ist Mathematik. Wenn Mathematik und Wissenschaft nie im Widerspruch zum Koran stehen können, erwartest du dann, dass es einen Konflikt auf dem Gebiet der Ethik oder anderen feineren (weniger harten) Bereichen geben soll? Das macht keinen Sinn.

1.3.2.2.8 Das Schleusentor-Argument

Ibn Taymiyya bringt noch ein weiteres Argument:

Wer immer diese Tür für eine Sache, die potentiell problematisch für etwas ʿaqlī (Vernunftbasiertes) ist, öffnet, öffnet die Tür für jede Sache, die problematisch für etwas ʿaqlī ist.

Gemeint ist damit folgendes:

Die Aschʿariten finden Gottes Attribute im Koran problematisch. Deshalb reinterpretieren sie alle sifāt (Attribute), wie es ihnen nötig erscheint. Was hält dann andere davon ab, eine andere Sache problematisch zu finden, die heute nicht problematisch ist, wenn ʿaql etwas Neues findet oder entdeckt?

Denn ʿaql ändert sich ständig, erweitert stets seine Horizonte. Wenn man also diese Tür öffnet, wird man sie nicht mehr schließen können. Das ist das Schleusentor-Argument.

1.3.2.2.9 Doppelstandard bei der Anwendung des qānūn

Ibn Taymiyya legt dann dar – und das ist ein sehr tiefgründiger Punkt:

Es ist widersprüchlich, diese Regel in einem Bereich zu verwenden, aber nicht in einem anderem. Die Aschʿariten (ar-Rāzī und al-Ghazālī) wenden diese Regel auf die Attribute Allahs an, aber wenn die falāsifa (Philosophen) dies hinsichtlich dschanna (Paradies) und nār (Feuer, Hölle) tun, sagen sie, letztere seien kāfir (Nicht-Muslime).

So vertritt beispielsweise al-Ghazālī im Tahāfut folgende Auffassung:

Da Ibn Sīnā dschanna und nār sowie die leibliche Auferstehung verwirft und taʾwīl darauf anwendet, ist er kein Muslim. Ibn Taymiyya stimmt darin al-Ghazālī zu.

Ibn Taymiyya sagt dazu:

Ihr (Aschʿariten) tut in einem bestimmten Bereich genau das, was sie (falāsifa) in einem anderen tun, nämlich aufgrund einer intellektuellen (vernunftbasierten) Prämisse Hunderte von āyāt und ahādīth zu reinterpretieren. Das ist ein Doppelstandard: Das Ergebnis ist nur davon abhängig, um welches Thema es sich handelt. Bei qiyāma (Auferstehung) z.B. – da darüber allgemeiner Konsens herrscht – wird dies nicht angewendet, bei anderen Themen aber schon – wo doch die āyāt zu den Attributen Allahs zahlreicher sind als zu dschanna und nār. Ihr (Aschʿariten) macht das mit mehr āyāt als sie (falāsifa) und glaubt, das sei erlaubt. Hier liegt offensichtlich ein Problem vor.

1.3.2.2.10 Welche Vernunft? Wessen Vernunft?

Ibn Taymiyya stellt folgende Frage:

Auf welchen ʿaql bezieht ihr euch? Auf den ʿaql welcher Gruppe?

Daraufhin macht er eine sarkastische Bemerkung: Wenn man die Muʿtaziliten und Aschʿariten betrachtet, so haben sie dank Allah so viel ʿaql – und doch stimmen sie miteinander nicht überein.

Ibn Taymiyya bringt eine Liste von ca. 50 Gelehrten und zeigt, dass sie sich alle gegenseitig widerlegt haben – aufgrund von ʿaqlī-Beweisen (vernunftbasierten Beweisen).

Welchen ʿaql unter diesen ganzen ʿuqūl (Plural von ʿaql) soll ich also wählen, um Koran und Sunna zu beurteilen?

Er macht sie zum Gespött: Ihr haltet euch für Leute des Intellekts (der Vernunft). Wenn ʿaql eine einheitliche Sache wäre, müsste man doch erwarten, dass alle diese vernünftigen Gelehrten sich auf etwas einigen könnten. Aber in Wirklichkeit unterscheidet sich jede Gruppe von ihnen von jeder anderen, so dass alle unterschiedliche Auffassungen davon haben, was rational oder intellektuell möglich ist. Und innerhalb jeder Gruppe gibt es wieder ein ganzes Spektrum. Und es gibt nichts, was diese Gruppen oder Gelehrten intellektuell (oder vernünftig) nennen und sie verbindet.

So wird das Intellektuelle (oder Vernünftige) das, was du für die Wahrheit hältst. Du nennst es einfach ʿaqlī. Denn es gibt keine übereinstimmend anerkannte Art von ʿaql, auf die sich alle einigen könnten.

1.3.2.2.11 Der bereuende Philosoph oder mutakallim

Ein Motiv, das bei Ibn Taymiyya besonders beliebt ist und in vielen Büchern wiederkehrt, ist das des bereuenden Philosophen oder mutakallim.

Die Mehrheit der Philosophen und mutakillimūn, die sich durch Aufrichtigkeit ausgezeichnet haben, sind gegen Ende ihres Lebens von Reue befallen worden. Sie haben schließlich erkannt, dass sie nicht richtig vorgegangen waren, denn sie haben etwas getan, was sogar mehr Zweifel und Verwirrung hervorgerufen hat. Ganz besonders gerne zitierte er al-Aschʿarī selbst, der mehrere Phasen durchgemacht und gegen Ende seines Lebens al-Ibāna geschrieben hat, sowie al-Ghazālī, der im Sterben liegend den Sahīh al-Bukhārī (Hadithsammlung) in Händen gehalten und gesagt hat: »Das ist meine ʿaqīda hier in diesem Buch Sahīh al-Bukhārī.« Und Gleiches gilt für al-Dschuwaynī, der seine Studenten unterwies: »Geht nicht in diesen philosophischen kalām, in den ich gegangen bin, denn das hat mich zerstört.«

ar-Rāzī hat am Ende seines Lebens eine wasiyya (Testament) geschrieben, die erhalten ist. Sie hat drei Seiten. Man findet sie in den Biographien von ar-Rāzī. An ihr Ende setzte er ein Gedicht, das besagt:

Das Endergebnis des ʿilm al-kalām (Wissenschaft des kalām), dieses intellektuelle … [unverständlich] hat mich behindert. Alles, was es uns gebracht hat, ist, dass der eine dies sagt und der andere jenes. … Ich habe den Koran gelesen, und nichts war klar in der Theologie außer dem Koran. Lies Allahs Attribute, wenn Er behauptet, so und so zu sein (z.B. istawā). Und lies die Negation: »Nichts ist Ihm gleich« (Koran 112: 4). Das ist so einfach, belasse es dabei.

Das ist ar-Rāzīs wasiyya. Sie ist gültig. Er hat sie selbst geschrieben. Er bringt damit letztlich folgendes zum Ausdruck: Ich habe mein ganzes Leben vergeudet; nichts ist besser und einfacher als der Koran.

Und Ibn Taymiyya schließt an:

Sie alle haben am Ende ihres Lebens bereut und dies gesagt; warum folgst du denn nicht ihrer Reue?

1.3.2.2.12 Vernunft und Gewissheit

Ibn Taymiyya hält seinen Gegnern zudem vor:

Vieles von dem, wovon ihr behauptet, dass es intellektuell (vernunftbasiert) sei, ist nicht intellektuell (vernunftbasiert, ʿaqlī), sondern dhannī (mutmaßend, ungewiss). Es ist nicht auf Vernunft gegründetes sicheres Wissen, sondern basiert bloß auf Vermutung.

Ihr habt diese Konzepte absichtlich mit schwieriger Sprache verdunkelt, mit einer Art des Schreibens und der Rhetorik, die für den durchschnittlichen Leser schwierig ist. Und wenn euch jemand mit etwas herausfordert, was trivial und grundlegend (basal) ist, dann verwerft ihr dies einfach, indem ihr sagt: Das hast du nicht richtig verstanden, das ist zu kompliziert für dich.

Wenn ein einfacher Student kommt und die Falschheit des Ganzen durch einfache Fragen aufzeigt, dann wird er abgewiesen. Und da es jetzt eine Gilde gibt, muss er, wenn er dazugehören will, die Anerkennung dieser Gilde finden, indem er sich anpasst und einfügt.

1.3.2.3 Kategorisierung der Kritikpunkte

Die 44 Punkte, die im Darʾ behandelt werden, lassen sich in breitere Motive zusammenfassen. Eine Kategorisierung in sechs Gruppen bietet sich an:

1.3.2.3.1 Glaubensgestützte Argumente

Es folgt eine Reihe von glaubensgestützten Argumenten. Sie betreffen 17 von 44 Punkten.

Der Koran oder der Prophet Muhammad (sas) wird in das Argument einbezogen, wie im folgenden Beispiel:

Wenn der Prophet definitiv gesprochen hat, dann kann ihm nichts widersprechen, denn dies würde die Wahrheit seines Prophetentums untergraben. Wenn er wirklich als rasūl Allāh (Gesandter Allahs) spricht, dann spricht er die Wahrheit.

Das Wesen des Islam ist istislām, Unterwerfung unter Allah und Seinen Propheten. Daher ist ein bedingter Glaube an den Propheten kein Glaube an den Propheten. Glaube ist also nicht: Ich glaube so lange an ihn, als mein ʿaql damit übereinstimmt.

Dazu lässt sich eine Geschichte erzählen:

Ein Beduine kam zum Propheten und sagte zu ihm: »Ich glaube an dich, wenn du mich zum König nach dir machst.« Dieser Glaube als bedingter wird nicht anerkannt.

Die Absicht des Propheten war, genau die theologischen Fragen zu erklären, welche die Philosophen und mutakallimūn problematisch finden. Seine Rolle bestand darin, ʿilm al-ghayb (Wissen des Verborgenen) in dem höchstmöglichen Maße zu erklären, in dem wir es wissen müssen. Und seine eigentliche Rolle würde dadurch geschmälert, wenn wir sagten, dass er in dieser Rolle nicht anerkannt werden könnte.

Der Koran beschreibt sich selbst als Quelle der Rechtleitung, Licht, Barmherzigkeit, in klarem Arabisch, leicht zu verstehen. Aber ihr behauptet, dass der Koran widersprüchlich und ein Buch von Symbolen und Interpretationen sei. Doch der Koran beschreibt sich selbst nie auf diese Weise.

Der Koran selbst kritisiert die Leute, die meinen, dass seine Botschaft irregeleitet sei. Er kritisiert die Leute des Buches (ahl al-kitāb), weil sie mit ihrem Buch tun, was die Leute mittels al-qānūn al-kullī mit dem Koran machen: etwas ändern, hinzufügen, weglassen. Wenn man davon ausgeht, dass es einen Konflikt zwischen ʿaql und naql gibt, so muss man mit dem Koran machen, was jene Leute mit ihrem Buch getan haben.

Das waren glaubensgestützte Argumente, die im Kern etwa besagen:

Der Glaube an den qānūn macht den Glauben an Koran und Sunna sinnlos. Zu sagen, dass ʿaql über naql steht, macht naql nutzlos.

1.3.2.3.2 Kritik der Prämissen und der Struktur des qānūn

Ibn Taymiyya greift die Prämissen des qānūn und die Struktur seiner Formulierung an, wie beispielsweise die binäre Unterscheidung von ʿaql und naql, die er für falsch erachtet.

Die apriorische Annahme der mutakallimūn, dass der Koran nicht richtig verstanden werden könne, weil er symbolisch und schwer verständlich sei, ist ebenfalls falsch. Denn der Koran ist in klarem Arabisch. Der Koran selbst sagt, dass er verständlich ist.

1.3.2.3.3 Was ist ʿaql? Was ist Vernunft?

Mindestens acht Punkte beziehen sich auf die Frage nach der Definition von ʿaql, von Rationalität:

Was ist ʿaql? Was ist Vernunft?

ʿaql ist nicht eine einzige unteilbare Entität. Jede Gruppe hat ein anderes Verständnis davon, was ʿaql ist.

Zudem sind ʿaqlī-Aussagen nicht absolut, sondern relativ. Was für einen ʿaqlī ist, muss es nicht für einen anderen sein; ʿaql ist relativ in Bezug Zeit und Kontext.

Es ist vielmehr die Offenbarung, die unveränderlich ist. ʿaql jedoch ändert sich fortwährend.

Vieles von dem, was als ʿaqlī gilt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als dhannī (mutmaßend, ungewiss) heraus. Es ist einfach hawā, Wunsch, in pseudo-intellektuelle Sprache gehüllt, aber nicht wirklich wissenschaftlich. Es kann sogar gezeigt werden, dass es irrational oder widersprüchlich ist.

1.3.2.4 Koran und Wissenschaft

Ibn Taymiyya erachtet folgendes Argument als noch überzeugender:

Die Leute, die dem Koran widersprechen, tun dies in Bereichen, die pseudo-wissenschaftlich sind, also in der Theologie, nicht in der Mathematik oder Astronomie. Der Koran kann nie der Wissenschaft widersprechen.

Das Verhältnis von Koran und Wissenschaft ist heute wegen der Evolutionstheorie ein großes Thema. Zu Ibn Taymiyyas Zeiten gab es nichts, was dem Koran wissenschaftlich widersprochen hat. In unserer Zeit stellt sich diese Frage aber wegen der Evolutionstheorie. Vor der Evolutionstheorie war es praktisch unmöglich, eine wissenschaftliche yaqīnī-Evidenz (sichere, gewisse Evidenz) zu finden, die im Widerspruch zu etwas klar Koranischem stand.

Die Evolutionstheorie wirft also zum ersten Mal in unserer Geschichte dieses Problem auf. Zuvor hat es nie etwas wissenschaftlich so Solides gegeben, was im Widerspruch zur expliziten Schrift zu stehen scheint.

Daher kann Ibn Taymiyya voller Überzeugung schreiben, dass die physikalischen Wissenschaften - Physik, Chemie, Biologie – nie im Widerspruch zu Koran und Sunna standen. Die Theologie hingegen ist nur Pseudo-Wissenschaft, eine philosophische Wissenschaft. Wer behauptet, dass es damit einen Konflikt gibt, darf nicht übersehen, dass allerdings die echten Wissenschaften nie mit Koran und Sunna konfligieren.

1.3.2.5 Wird die Offenbarung durch den qānūn überflüssig?

Der qānūn führt problematische und kritikwürdige Korollarien mit sich: die notwendigen Verifikationen des qānūn. Wenn jeder Text des Koran vom ʿaql her verifiziert werden muss, dann hat man die Integrität des ganzen Koran verletzt. Dadurch wird die Offenbarung des Koran überflüssig gemacht. Wenn ʿaql jede einzelne āya beurteilt, was ist dann der Sinn der Offenbarung des Koran?

Das würde dazu führen, dass jede einzelne Person ihren eigenen Islam hätte. Denn der ʿaql jeder Person ist unterschiedlich. Das Folgen des Propheten wäre überflüssig. Und wahy, Offenbarung wäre sinnlos.

Es gibt noch weitere Punkte, die hier nicht mehr angeführt werden können.

1.3.3 Denken geht vor Handeln

In Punkt 38 gibt es einen Absatz, der sehr bedeutungsvoll für den modernen Islam ist.

Es steht fest, dass al-masāʾil al-ʾilmiyya (Fragen des Wissens) wichtiger sind, größere Bedeutung besitzen als al-masāʾil al-ʾamaliyya (Fragen des Handelns). Theologie ist wichtiger als Recht. Jeder stimmt dem zu. Das ist eine gegebene Tatsache, eine Selbstverständlichkeit. Zu Ibn Taymiyyas Zeit war dies so.

Worüber argumentieren die Muʿtaziliten, Aschʿariten und Schiʿiten? Nicht über fiqh (Recht/Moral), ihr fiqh stimmt zu 99% überein. Das Trennende ist die ʿaqīda, die Theologie.

In unserer Gegenwart hat sich dieses Verhältnis, das vordem im Großteil der umma (muslimische Gemeinschaft) als fragloses Paradigma galt, umgekehrt. Theologie ist in den Hintergrund gerückt. Wir interessieren uns im Großen und Ganzen nicht so sehr dafür. Themen wie Imamat, Attribute Allahs, qadr (Bestimmung) gelten als Kontroversen der Vergangenheit.

Was sind die heißen Themen unserer Zeit? Sexualität, Rolle der Frau, fiqh-Fragen, Freiheit, Demokratie, Regierungsformen usw.

1.4 Beschluss: Über Vernunft und Offenbarung

Ibn Taymiyyas Konzepte mögen überholt sein, aber seine Argumente sind immer noch gültig. Jeder, der Veränderungen im islamischen Denken herbeiführen möchte, muss die Anziehungskraft von Denkern wie Ibn Taymiyya verstehen. Warum war er so populär?

Ibn Taymiyya hat den ʿaql bewahrt und zugleich den Vorrang des naql gewahrt. Er hat den ʿaql gepriesen, nicht verworfen, und zugleich gesagt: ʿaql gebietet uns, naql zu folgen.

Und in dem Prozess, in dem er beiden ihre gebührende Achtung und Wertschätzung erhielt, sagte er im Kern: So wie der Mensch seinen Höhepunkt erreicht, wenn er sich Allah unterwirft, so erreicht der ʿaql seinen Höhepunkt, wenn er seine Grenzen erkennt und sich dem Wort Allahs unterwirft.

Jeder, der eine radikale Veränderung in den nusūs (offenbarte Schriften, Texte) herbeiführen will, muss verstehen, dass er dem von Ibn Taymiyya kritisierten Weg folgt und letztlich die nusūs und die Offenbarung überflüssig macht.

Als aktuelles Beispiel dafür kann die Debatte um die HomoEhe gelten. Der Koran ist sehr klar. Aber es gibt viele Gruppen, die für eine koranische Akzeptanz argumentieren. Da wirft sich die Frage auf: Wenn euch das problematisch erscheint, werden dann nicht Leute andere Interpretationen von anderen nusūs problematisch finden?

Der einfache Muslim kann den Gott der Philosophen nicht akzeptieren – diesen Gott, der wechselweise als erster Beweger, unbewegter Beweger, aktiver Intellekt usw. beschrieben wird.

Ibn Taymiyya sagt zu ihnen, auch zu den Anhängern des Gottes der Philosophen, die er als Muslime anerkennt:

O ihr Muslime, seht ihr nicht, dass ihr etwas ganz Ähnliches tut in euren eigenen intellektuellen Spielen?

Unsere Religion ist ewig und unter allen Umständen gültig, aber wir müssen uns dieser harten Kritik von Ibn Taymiyya bewusst sein, wenn wir unseren Weg zu bahnen versuchen. Ja, wir müssen den Islam mit Zeit und Ort in Einklang bringen, aber meines Erachtens brauchen wir keine Überholung.

Ich glaube nicht, dass wir den Motor auswechseln müssen, dass wir Koran und Sunna noch einmal machen müssen. Eine vollständige Überholung zu fordern, würde Koran und Sunna überflüssig machen. Es wäre nicht nötig gewesen, dass Allah ein Buch oder einen Propheten sendet. Aber Allah hat ein Buch und einen Propheten gesandt, um die höchste und letztgültige Rechtleitung zu bieten. Und er hat dem Intellekt (oder der Vernunft) seinen Bereich zugewiesen. Wenn wir uns daran halten, so Ibn Taymiyya, dann ist das perfekt. Wenn der Intellekt (oder die Vernunft) aber seine Grenzen überschreitet und in Konflikt mit Koran und Sunna tritt, werden wir sowohl den Intellekt (oder die Vernunft) wie auch Koran und Sunna letztlich verlieren.

Und Allah weiß es am besten!

18 Website des IIIT: https://iiit.org

19 Siehe seine Dissertation: Yasir Qadhi, Reconciling Reason and Revelation in the Writings of Ibn Taymiyya (d. 728/1328). An Analytical Study of Ibn Taymiyya's Darʾ al-taʾāruḍ, Yale University: unveröffentlichte Dissertation, 2013 (eingereicht unter dem Namen Yasir Kazi); zum Herunterladen verfügbar unter: https://archive.org/details/YasirQadhiDissertation.

20 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=46EF-mpC25E

21 Ibn Taymiyya, Darʾ ta‘āruḍ al-‘aql wa-l-naql, Hg. Muhammad Rashād Sālim, Riyāḍ: Dschāmiʿat al-Imām Muḥammad Ibn Saʿūd al-Islāmīyya, 1979–1981.

Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken

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