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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

die in diesem Buch versammelten Texte sind Teil eines größeren Projektes, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels1 und eine knappe Vorstellung des Projektes2 finden sich auf der Website3 des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden.

Das vorliegende Buch ist der dritte Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Bisher erschienen sind Band 1 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken4 und Band 2 mit dem Titel Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat.5 Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.

Wie das Projekt als Ganzes so verstehen sich auch diese Texte als work in progress. Sie liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte sind eher als Materialien zu betrachten und könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.

Der vorliegende Band 3 trägt den Titel Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken, der offenkundig den Titel des ersten Bandes aufgreift. Diese Anknüpfung bringt die enge thematische Kontinuität zwischen den beiden Bänden zum Ausdruck. Ibn Taymiyya lebte ungefähr zweihundert Jahre nach al-Ghazālī, in einer Zeit also, in der sich mittlerweile vieles verändert hatte. Aber das geistige Spannungsfeld, in dem sich beide Denker bewegten, ist von mannigfaltigen Kontinuitätslinien durchzogen. Sie waren daher oftmals mit den gleichen Fragen und Problemstellungen konfrontiert, auch wenn sie bei der Suche nach Antworten und Lösungen keineswegs immer die gleiche Richtung einschlugen. Diese Spannung im Denken zwischen Stetigkeit, Bruch und Widerspruch aufzugreifen und sichtbar zu machen, ist eine der Aufgaben, die sich dieser dritte Band gesetzt hat.

Wie weit dabei die Gemeinsamkeiten mit al-Ghazālī, bei allen Unterschieden und Gegensätzen, reichen, lässt sich schon daran erkennen, dass wir folgende Charakterisierung al-Ghazālīs aus dem ihm gewidmeten ersten Band nahezu unverändert übernehmen und auf Ibn Taymiyya beziehen können.

Ibn Taymiyya (1263-1328) ist gewiss einer der größten Philosophen in der Geschichte der Philosophie, die zugleich eine grundsätzliche Kritik der Philosophie entwickelt haben. Sein ganzes Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Philosophie und deren selbstkritischer Reflexion. Im Rahmen des islamischen Denkens entwickelt er so sowohl eine Philosophie wie auch eine Kritik der Philosophie, indem er an die der Tradition der griechischen Philosophie entwachsene islamische Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den dritten Band dieser Reihe dem Denken Ibn Taymiyyas zu widmen. Ibn Taymiyya hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten.

Freilich ist dabei nicht zu vernachlässigen, dass die Kennzeichnung Ibn Taymiyyas als Philosoph einen weitaus paradoxaleren Einschlag hat als bei al-Ghazālī. Denn im Gegensatz zu al-Ghazālī, der etwa als philosophiekritischer Philosoph zu bezeichnen wäre, verdiente Ibn Taymiyya viel eher den Titel eines anti-philosophischen Philosophen oder gar eines philosophischen Anti-Philosophen. Die in diesem Paradoxon angelegten Spannungen gilt es auszuloten.

Ein weiterer großer Unterschied zu al-Ghazālī zeigt sich zudem darin, dass diese Beschreibung für al-Ghazālī heutzutage, trotz aller Wechselfälle in der Vergangenheit, als meistenteils anerkannt gelten kann, während ihre Übertragung auf Ibn Taymiyya – bei aller Tendenz zur Einsicht, die sich allmählich abzuzeichnen beginnt – nach wie vor als weithin höchst umstritten gelten muss und gar auf mancherlei Verwunderung stoßen dürfte. Dazu, dem Abhilfe zu schaffen, möchte dieser Band einen Beitrag leisten. Damit knüpft er an eine Sammlung von Texten Ibn Taymiyyas an, die wir vor einiger Zeit herausgebracht haben und aus deren Vorwort der folgende Abschnitt übernommen sei, der auch an dieser Stelle seine volle Berechtigung besitzt.

»Ibn Taymiyya – ein Name, der in aller Munde ist. An allen möglichen und unmöglichen Orten taucht er auf. Die einen rechtfertigen ihre Taten damit, während die anderen die Untaten derjenigen, die sie in seinem Namen begehen, erklären. Islamisten, Salafisten, Extremisten, Terroristen, Orientalisten, Islamexperten, Extremismusforscher und andere Terrorspezialisten – ein buntes Völkchen also bedient sich seiner und bestätigt sich gegenseitig. Dieser Diskurs erzeugt Heilige und Monster – oder besser: heilige Monster.

Was aber wissen sie wirklich über und von diesem großen Gelehrten und Denker, der Ibn Taymiyya ist? Welcher böse Traum gebiert diese Ungeheuer? Wer hat je etwas – mögen es auch nur kleine Texte sein, von einem Autor, der zehntausende Seiten und dutzende Bücher mit seiner Feder füllte – von ihm gelesen?

Wir wollen dem freilich keine Heiligenverehrung entgegensetzen, die Ibn Taymiyya selbst ohnehin verhasst gewesen wäre, der zweifelsohne sich und jeden anderen für fehlbar und nur allzumenschlich hielt. Nein, wir meinen nur, dass Urteile, positive wie negative, über einen Menschen und seine Gedanken nicht lediglich von Vorurteilen, sondern von einer gewissen Kenntnis getragen sein sollten. Dieser Aufgabe also soll unser bescheidener Beitrag einer kleinen Textsammlung dienen: Vorurteile abbauen und Kenntnisse vermitteln, um allererst sachgemäße und vernünftige Urteile zu ermöglichen, sowie den Diskurs versachlichen.

Damit soll kein Urteil vorgegeben oder gar aufgenötigt werden, sondern lediglich die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer selbständigen Urteilsbildung erst geschaffen werden. Wir wollen mit unserer Ansicht aber auch nicht hinter dem Berg halten. Freilich hätten wir dieses Projekt nicht in Angriff genommen, wären wir nicht davon überzeugt und hätte uns nicht die Lektüre der Texte selbst davon überzeugt, dass der allseits betriebene Diskurs, an dessen ungeheuerlichem Bilderstrom sich alle nähren, mehr auf Phantasmen, Gespenstern und Konstrukten basiert, denn auf Wissen, Einsicht und echter Wahrnehmung. Wie? Ibn Taymiyya kein heiliges Monster? Gar mit Vernunft begabt und dieser das Wort redend? Und gleichwohl einträchtig der Offenbarung folgend? Wie geht das zu? Möge in dieser Textsammlung – und das heißt: Ibn Taymiyyas Worte selbst – lesen, wer sich davon prüfend überzeugen oder zumindest ein redliches Urteil bilden möchte.

Dabei sollte sich von selbst verstehen: Diese Texte müssen unter Berücksichtigung ihres historischen und sozialen Kontextes gelesen und verstanden werden. Ibn Taymiyya selbst hätte sicherlich alle Versuche verwehrt, seine Überlegungen mit dem Glorienschein zeitloser Gültigkeit zu versehen. Denn es war ihm stets sehr daran gelegen, den jeweiligen konkreten Umständen und Bedingungen gerecht zu werden und die gebührende Beachtung widerfahren zu lassen. Diesem Verständnis liefe freilich eine umstandslose Übertragung auf anders geartete Gegebenheiten und Verhältnisse grundsätzlich zuwider.«6

Zu Leben und Person Ibn Taymiyyas müssen wir uns an dieser Stelle auf einige Andeutungen beschränken, die gleichfalls der eben erwähnten Textsammlung entnommen sind. Für weitere Einzelheiten sei auf die hervorragende Darstellung von Ibn Taymiyyas Leben in dem kürzlich erschienenen Buch Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes von Farid Suleiman verwiesen, das den aktuellen Kenntnisstand berücksichtigt und zudem zahlreiche weiterführende Literaturhinweise enthält.7

»Taqī ad-Dīn Ahmad Ibn Taymiyya wurde 1263 in eine hanbalitisch geprägte Gelehrtenfamilie geboren. Seine Geburtsstadt Harrān liegt im Südosten der heutigen Türkei und gehörte damals zum Mamlukenreich (1250–1517). Wegen der mongolischen Invasionen war seine Familie 1269 zur Flucht gezwungen. Sie ließ sich in Damaskus nieder, das eines der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt war. Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und Ibn Taymiyya übernahm im Alter von 18 oder 19 Jahren von seinem Vater den Lehrstuhl in der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Ibn Taymiyya war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.

Ibn Taymiyya unterscheidet sich in entscheidender Hinsicht von allen früheren hanbalitischen Gelehrten. Denn er tat, was diese nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: kalām (Theologie), tasawwuf (Sufismus), falsafa (Philosophie), griechische Logik, Werke des Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat. Und darauf gründete er sein originelles Denken mit seinem ganzen Reichtum und seiner tief verwobenen Vielschichtigkeit, das sich zugleich immer wieder auf die wahren Grundlagen des Islam – Koran und Sunna – besann. Von da aus unterzog er alle Denkweisen und Philosophien einer strengen, oftmals als polemisch empfundenen, aber meist argumentativen Kritik, die sich keineswegs Vernunft und Rationalität entzog oder widersetzte. Ganz im Gegenteil, denn es war ihm dabei stets und mit unermüdlicher Leidenschaft darum zu tun, den Einklang von Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken aufzuzeigen. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die falāsifa (Philosophen) wie Ibn Sīnā und die philosophierenden mutasawwifa (Sufis) wie Ibn al-ʿArabī, sparte aber keineswegs den aschʿaritischen kalām aus, denen er allesamt ein ungenügendes Verständnis der harmonischen Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung vorhielt, das zur einseitigen und mitunter extremen Betonung des einen oder anderen Pols führte.

Ibn Taymiyya war stets ein entschiedener Unterstützer des mamlukischen Sultanats in Ägypten und Syrien, insbesondere im Widerstand gegen die wiederholten Einfälle der Mongolen nach Syrien in den Jahren 1299-1303. Doch sein unabhängiges Denken und Wirken brachte indes zuweilen die etablierte Gemeinschaft der Gelehrten und die politischen Herrscher gegen ihn auf. Dies trug ihm mehrere öffentliche Prozesse, Gefängnisstrafen und ein siebenjähriges Exil in Ägypten (1306-1313) ein. Auch nach seiner Rückkehr nach Damaskus kam es aufgrund seiner Ansichten zu Fragen der Scheidung und der Heiligenverehrung wiederholt zu Konflikten mit den herrschenden Autoritäten. Infolgedessen wurde er 1326 in der Zitadelle von Damaskus in Haft genommen. Der Aufenthalt im Gefängnis hatte ihn nicht davon abgehalten, seiner Schreibtätigkeit unablässig nachzugehen. Doch nun verstarb er 1328 in der Zitadelle von Damaskus, nachdem man ihn, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte, seine Gedanken auf Abertausenden von Seiten zu Papier zu bringen, seiner Feder und anderer Schreibwerkzeuge beraubt hatte.

Ibn Taymiyya war einer der größten, scharfsinnigsten und produktivsten muslimischen Gelehrten in der Geschichte des islamischen Denkens. Seine Wirkung in all ihren Verästelungen ist so umfangreich und gewaltig, dass sie schier unermesslich erscheint und kaum zu überschätzen ist. Daran und an seiner unabgegoltenen Bedeutung und Aktualität ist nicht zu zweifeln. Bei allem Streit um Ibn Taymiyya sind sich darin wohl alle einig.«8

Farid Suleiman weist darauf hin, dass Ibn Taymiyyas Schriften allerdings zunächst »in den Jahrhunderten nach seinem Tod weitgehend unbeachtet« blieben und fährt fort:

Ihre Wiederentdeckung nahm im 11./17. Jahrhundert ihren Anfang und wurde von muslimischen Gelehrten verschiedenster Ausrichtung vorangetrieben. Das Ausmaß seiner Rezeption hat sich seitdem kontinuierlich gesteigert, sodass man von einer gefühlten Omnipräsenz Ibn Taymiyyas im jüngeren sunnitischen Denken sprechen kann. Zu Recht identifiziert ihn daher Lutz Berger in seinem Einführungswerk über die islamische Theologie als den »heute sicher einflussreichste[n] aller islamischen Theologen des Mittelalters«.9 Trotz dieses Umstands hat man sich in der europäischsprachigen Forschung noch bis vor einigen Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht eingehend mit dem Leben und Werk Ibn Taymiyyas beschäftigt. Zudem haben ihn die dortigen Forschungsbeiträge, wie Birgit Krawietz kritisch bemerkt, überwiegend »als Gegner religiöser Toleranz und spekulativen Denkens, Proto-Fundamentalisten bzw. den oder einen der ersten islamischen Fundamentalisten, als gewaltbereiten Aktivisten, Gegner von Volksreligion und Synkretismus, Sufi-Kritiker, radikalen Anthropomorphisten, wenn nicht gar als Streithansel jedweder Art«10 porträtiert. Obgleich in den letzten Jahren fundierte Forschungsbeiträge u. a. von Yahya Michot, Jon Hoover und Ovamir Anjum zu dezidiert gegenteiligen Einschätzungen gelangt sind,11 besteht dieses Bild hartnäckig fort.12

Farid Suleimans ausgezeichnete Studie selbst reiht sich in die Reihe der Arbeiten ein, die dieses entstellende und geradezu karikierende Bild durch ein getreueres zu ersetzen bestrebt sind. Sie nimmt dabei allerdings eine Sonderstellung ein, da sie in deutscher Sprache verfasst ist und daher der deutschsprachigen Leserschaft ganz besonders zur Lektüre empfohlen sei. Sie räumt nicht nur mit vielen Vorurteilen und falschen Vorstellungen auf, sondern bietet eine scharfsinnige und tiefschürfende Darstellung von Ibn Taymiyyas Denken, die weit über das durch den Titel bezeichnete Thema hinausreicht, nämlich Ibn Taymiyyas Attributenlehre, die hier erstmals einer tiefergehenden Analyse unterzogen wird. Sie ist zudem nicht nur von his - torischem und insbesondere theologie- und philosophiegeschichtlichem Interesse, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Wiederbelebung des islamischen Denkens, dem fürwahr eine zeitgemäße Anknüpfung an seine eigene Tradition angelegen sein muss.

In deutscher Sprache liegen bisher kaum Arbeiten über Ibn Taymiyyas Denken vor. Farid Suleiman listet die »wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichungen, die Aspekte von Ibn Taymiyyas Denken behandeln« in einer Anmerkung auf, auf die hiermit verwiesen sei.13 Neben den oben erwähnten Werken von Yahya Michot, Jon Hoover und Ovamir Anjum gibt es, außerhalb der deutschen Sprache, in europäischen Sprachen seit einigen Jahren freilich eine ganze Reihe von sehr wertvollen Untersuchungen zu Ibn Taymiyyas Denken. Farid Suleiman gibt auch hiervon eine nützliche Aufstellung in einer Anmerkung, die übernommen sei; und zwar »wurden die europäischsprachigen Forschungsbeiträge zu Ibn Taymiyya überwiegend auf Englisch und Französisch verfasst,14 […].«15 Diese in der Anmerkung angeführte Liste ist noch um die jüngst erschienene Monographie von Jon Hoover mit dem Titel Ibn Taymiyya - Makers of the Muslim World zu ergänzen.16

Im vorliegenden Band 3 haben wir uns zur Aufgabe gesetzt, eine Auswahl aus der jüngeren englischsprachigen Literatur, die uns besonders wertvoll und wichtig erscheint, der deutschsprachigen Leserschaft vorzustellen. Die inhaltlichen Schwerpunkte, die dieser Auswahl zugrunde liegen, sind dabei vor allem durch die Themen Vernunft und Offenbarung sowie Kritik der Philosophie bestimmt, die sich weithin überschneiden und gegenseitig durchdringen. Die Auswahl fiel dabei auf die bereits genannten Autoren Yasir Qadhi, Carl Sharif El-Tobgui, Wael Hallaq und Yahya Michot sowie M. Sait Özervarli.

Das erste Kapitel mit dem Titel Versöhnung von Vernunft und Offenbarung in den Schriften von Ibn Taymiyya stützt sich auf einen Vortrag von Yasir Qadhi, in dem seine umfängliche Studie zu Ibn Taymiyyas großem Werk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Offenbarung) in großen Zügen vorstellt wird. Der Vortrag bietet somit nicht nur einen Einblick in eines der größten und bedeutendsten Werke von Ibn Taymiyya, sondern zugleich eine Einführung in einige grundlegende Fragen des islamischen Denkens, die um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung kreisen. Nicht zuletzt wird es dabei auch immer wieder um Ibn Taymiyyas Kritik der Philosophie gehen. Dieser Text kann als knapper Einstieg in diese Thematik gute Dienste leisten, da er wichtiges Hintergrundwissen bereitstellt, einige Positionen von muslimischen Denkern darlegt und philosophische Themen von größter Bedeutung anspricht. Er hat dabei den Vorzug, uns mitten in die Problematik zu versetzen und doch zugleich in gewissem Sinne übersichtlich zu bleiben.

Das zweite Kapitel mit dem Titel Die koranische rationale Theologie von Ibn Taymiyya und seine Kritik der Mutakallimun beruht auf einem Artikel von M. Sait Özervarli, der sich nicht scheut, das Anliegen von Ibn Taymiyya, nämlich Vernunft und Offenbarung in ihrem Einklang aufzuzeigen, sogar mit der Überschrift des koranischen Rationalismus zu versehen. Dieser koranische Rationalismus sollte zugleich eine Alternative zum traditionellen kalām (islamische Theologie) bieten, der sich allzu einseitig auf eine noch dazu falsch verstandene Vernunft stützt. Denn Ibn Taymiyya erkannte eine Verbindung zwischen der geistigen Krise seiner Zeit und dem Denken, das im Kalam Gestalt annahm. Die Wurzeln dieser Krise verortete er in den philosophischen Tiefen des islamischen Denkens. Zur Überwindung dieser Krise, die eine Wiederbelebung des islamischen Denkens erforderte, war daher eine Doppelbewegung erforderlich: eine Besinnung auf die Grundlagen des Islam, auf Koran und Sunna, in Verbindung mit einer Anknüpfung an den aktuellen Stand des islamischen Denkens. Sollte die islamische Tradition wiederbelebt werden, so nicht in abstrakter, rückwärtsgewandter Gestalt, sondern konkret vermittelt mit dem zeitgenössischen Denken. Aus diesem Spannungsfeld heraus betrieb Ibn Taymiyya die Entwicklung eines Denkens, das, durch eine Kritik der Philosophie vermittelt, das islamische Denken wahrhaft erneuerte. Dieses Denken ist bis heute nicht wirklich verstanden worden, obgleich es mit seiner Verbindung von Vernunft und Offenbarung auch für unsere Gegenwart Maßstäbe setzen könnte und mithin äußerst lehrreich zu sein verspricht.

Das dritte Kapitel mit dem Titel Vernunft, Offenbarung und die Rekonstitution der Rationalität: Ibn Taymiyyas Darʾ taʿārudh ist nach den eher knappen ersten beiden Kapiteln, die als bündige Einführungen in die Thematik gelesen werden können, der mit Abstand längste Text des Bandes. Er stellt die ausführliche Untersuchung von Carl Sharif El-Tobgui vor, in der Ibn Taymiyyas vielbändiges Meisterwerk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql unter der als roter Faden dienenden Fragestellung nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung in vielen Einzelheiten dargestellt wird. Ibn Taymiyyas Projekt, den Widerstreit von Vernunft und Offenbarung, der das islamische Denken seiner Zeit – und freilich weit darüber hinaus – zutiefst prägte, einer harmonischen Auflösung zuzuführen, tritt dadurch in viel schärferen Konturen hervor. Ibn Taymiyya weist in seiner grundsätzlichen Kritik der falsafa (Philosophie) und des kalām (Theologie) deren Bestreben, den vermeintlichen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung durch eine Überordnung der Vernunft zu lösen, entschieden zurück, indem er die Wurzeln des diesem Vorhaben zugrundeliegenden Begriffs der Vernunft in der griechischen Philosophie aufsucht und einer gründlichen Untersuchung unterzieht. Statt dabei, wie oftmals unterstellt wird, einem blinden Irrationalismus zu verfallen, zeigt Ibn Taymiyya ganz im Gegenteil den Mangel an Vernünftigkeit dieser vermeintlich überlegenen Rationalität auf und schickt sich an, eine rekonstituierte Rationalität an deren Stelle zu setzen. Und sein Bestreben ist schließlich auf den Nachweis gerichtet, dass diese erneuerte und erweiterte Vernunft mit der wahrhaften Offenbarung und den tiefsten Aspirationen des menschlichen Lebens in harmonischem Einklang steht. El-Tobgui bemüht sich dabei zudem um den Nachweis, dass sich die verschiedenen Aspekte in Ibn Taymiyyas Verständnis von Ontologie, Epistemologie und Sprachtheorie in einer Synthese zusammenfügen, die zwar einen Bruch mit der philosophischen Tradition bedeutet, aber nichtsdestoweniger den Titel einer Philosophie verdient, die durch das Feuer der philosophischen Kritik und Selbstkritik hindurchgegangen ist. Freilich mag es dafür erforderlich sein, die Landkarte der Philosophie um die bislang unerkannte oder auch lediglich verleugnete Landschaft zu erweitern, die Ibn Taymiyyas Denken mit dieser umwälzenden Blickwende erschließt.

Das vierte Kapitel mit dem Titel Ibn Taymiyya über die Existenz Gottes ist ein Artikel von Wael B. Hallaq, der der Frage nachgeht, ob es in Ibn Taymiyyas Werken einen Beweis für die Existenz Gottes gibt. Wael Hallaq stellt zunächst fest, wie einfach Ibn Taymiyyas Rede über die Existenz Gottes ausfällt. Denn er geht davon aus, dass jeder Gläubige in gesunder Verfassung ohne jegliche Reflexion weiß, dass Gott existiert. In Ibn Taymiyyas Werken findet sich daher kein ausgeführter Beweis für Gottes Existenz. Hallaq bemüht sich gleichwohl, die relevanten Aussagen über Gott in Ibn Taymiyyas mannigfaltigen Abhandlungen, die Themenbereiche wie Logik, Recht, dialektische Theologie und Metaphysik behandeln, zusammenzustellen und nach einem Argument für die Existenz Gottes abzuklopfen. Voraussetzung dafür ist freilich, Ibn Taymiyyas Haltung gegenüber Metaphysik, Epistemologie und – nicht zuletzt – Logik, wie sie von vielen Philosophen und Theologen vertreten werden, sowie seine eigenen Positionen auf diesen Gebieten zu verstehen. So wird die Suche nach einem Gottesbeweis zu einer spannenden Reise durch eine Vielzahl von Landschaften im Denken Ibn Taymiyyas, die die Schwierigkeiten und Probleme einer solchen Bestrebung markant hervortreten lässt. Die Frage nach der Existenz eines Gottesbeweises bei Ibn Taymiyya, die keiner einfachen Lösung zugeführt werden kann, eröffnet zugleich einen Ausblick auf den weiten Horizont seines reichen, vielgestaltigen und eben auch philosophischen Denkens.

Das fünfte Kapitel mit dem Titel Ibn Taymiyyas Historiographie der falsafa lässt Ibn Taymiyya selbst ausführlich zu Wort kommen. Es besteht aus einigen Texten Ibn Taymiyyas, die Yahya Michot aus dem Arabischen übersetzt, kommentiert und erläutert hat. Ibn Taymiyya präsentiert sich darin in einem ungewohnten und für manche überraschenden Licht, nämlich als Philosophiehistoriker. Durch seine scharfsinnige Wahrnehmung der Gesellschaftsgeschichte erweist er sich geradezu als Vorläufer von Ibn Khaldūn. Er sieht, wie sich die Geschichte in den Gesellschaften um ihn herum entfaltet, und er möchte ihrer Vergangenheit Sinn abgewinnen, indem er sie kritisch untersucht, jenseits von Erdichtungen und Mythen. Ideen werden mithin für ihn zu Hauptakteuren auf der menschlichen Bühne, und es gelingt ihm, sie miteinander in Beziehung zu setzen und ihre legitimen wie illegitimen Abstammungslinien nachzuzeichnen, im Auf und Ab der Jahrhunderte, in Ost und West, unter Heiden und Gläubigen, Häretikern und Heiligen, Theologen, Mystikern und Philosophen. Die hier vorgestellten fünf Texte wurden ausgewählt aufgrund des Lichtes, das sie auf die historischen und ideologischen Kontexte der Übersetzungsbewegung sowie auf die Ursprünge, die Entwicklung und die mannigfaltigen Facetten von falsafa (Philosophie) und tafalsuf (Philosophieren) im Islam bis zum Ende des 7./13. Jahrhunderts zu werfen vermögen.

Das sechste Kapitel mit dem Titel Al-Ghazālīs Esoterik gemäß Ibn Taymiyyas Bughyat al-Murtād ist ein Artikel von Yahya Michot, der mehrere von ihm aus dem Arabischen übersetzte Texte Ibn Taymiyyas samt Erläuterungen und Kommentaren vorstellt. Sie können, wie die Texte im fünften Kapitel, als Beiträge zur Philosophiegeschichtsschreibung betrachtet werden, und darüber hinaus als kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten der Philosophie, die hier in der Gestalt der philosophischen Esoterik al-Ghazālīs behandelt wird. Ibn Taymiyya lässt dabei erkennen, dass er über ein erstaunlich breites Wissen über das Werk al-Ghazālīs verfügt. Seine Darstellung und Kritik des Denkens al-Ghazālīs ist daher sowohl von philologischem Interesse, da er lange Abschnitte aus al-Ghazālīs Werken anführt, als auch von philosophischem Interesse, da er es immer wieder versteht, ins – insbesondere esoterische – Herz dieses Denkens einzudringen und wichtige Erkenntnisse daraus zu gewinnen.

Die einzelnen Kapitel lassen sich unabhängig voneinander lesen. Einstieg und Abfolge der Lektüre mögen also Vorlieben und Interessen gemäß erfolgen. Das erste und das zweite Kapitel können gleichwohl als Einführungen und somit als Hinführungen zum dritten Kapitel gelesen werden, das die Thematik wesentlich ausführlicher und vertiefter behandelt. Die Texte für die verschiedenen Kapitel wurden im Laufe der letzten Jahre zu verschiedenen Anlässen und Zwecken verfasst. Die Spuren davon habe ich nicht zu beseitigen versucht, da es sonst nur darauf hätte hinauslaufen können, sie in erheblichem Maße umzuschreiben. Dieser Versuchung musste ich freilich im Interesse einer alsbaldigen Veröffentlichung widerstehen. Dadurch kommt es auch zu manchen Wiederholungen und Überschneidungen, die sich aufgrund der Unabhängigkeit der Texte nicht immer vermeiden ließen und sich hoffentlich als für das Verständnis eher zuträglich erweisen.


Mein Dank gilt all denen, die mich durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt, mitunter über viele Jahre, unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern des VDM17, die mir mit ihrer großmütigen Unterstützung in allerlei Gestalt stets tatkräftig zur Seite standen. Möge Allāh es ihnen allen reichlich lohnen und unser Projekt mit Seinem Beistand zum Gelingen führen!

April 2020 / Schaʿbān 1441

Yusuf Kuhn

1 https://alastu.net/ueber

2 https://alastu.net/node/29

3 https://alastu.net

4 Yusuf Kuhn, Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 1, Hamburg, 2018; https://alastu.net/node/109.

5 Yusuf Kuhn, Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 2, Hamburg 2019; https://alastu.net/node/113.

6 Ibn Taymiyya, Islam – Weg der Mitte. Texte von Ibn Taymiyya, Aus dem Arabischen übertragen, eingeführt und kommentiert von Yahya Michot. Aus dem Französischen und Englischen übertragen von Yusuf Kuhn, Zweite Auflage, Hamburg, 2019, S. 15-16.

7 Siehe Farid Suleiman, Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes, Berlin/Boston: De Gruyter, 2019, Kap. 2, Ibn Taymiyyas Leben, S. 24-39.

8 Ibn Taymiyya, Islam – Weg der Mitte. Texte von Ibn Taymiyya, Aus dem Arabischen übertragen, eingeführt und kommentiert von Yahya Michot. Aus dem Französischen und Englischen übertragen von Yusuf Kuhn, Zweite Auflage, Hamburg, 2019, S. 18-20.

9 Lutz Berger, Islamische Theologie, Wien: facultas.wuv [= UTB 3303], 2010, 107.

10 Birgit Krawietz, Ibn Taymiyya - Vater des islamischen Fundamentalismus? Zur westlichen Rezeption eines mittelalterlichen Schariatsgelehrten, in: Manuel Atienza u. a. (Hrsg.), Theorie des Rechts in der Gesellschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 2003, 39–62, hier 52f.

11 Siehe Yahya Michot, Muslims Under Non-Muslim Rule. Ibn Taymiyya, Oxford und London: Interface Publications, 2006; Jon Hoover, Ibn Taymiyya’s Theodicy of Perpetual Optimism, Leiden: Brill, 2007; sowie Ovamir Anjum, Politics, Law, and Community in Islamic Thought. The Taymiyyan Moment, New York: Cambridge University Press, 2012.

12 Farid Suleiman, Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes, Berlin/Boston: De Gruyter, 2019, S. 1-2.

13 Siehe Farid Suleiman, Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes, Berlin/Boston: De Gruyter, 2019, S. 4, Anm. 17.

14 Die wichtigste Sekundärliteratur bis 2011 verzeichnet und annotiert Jon Hoover, siehe Jon Hoover, Ibn Taymiyya, Oxford Bibliographies in Islamic Studies, 2012, url: http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780195390155/obo-9780195390155-0150.xml. Folgend eine Auswahl an Beiträgen, die nach 2011 veröffentlicht wurden: Anjum, Politics, Law, and Community; Yahya Michot, Ibn Taymiyya. Against Extremism, Paris: Albouraq, 2012; Birgit Krawietz/George Tamer (Hrsg.), Islamic Theology, Philosophy and Law. Debating Ibn Taymiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya, Berlin und Boston: De Gruyter, 2013; Yasir Qadhi, Reconciling Reason and Revelation in the Writings of Ibn Taymiyya (d. 728/1328). An Analytical Study of Ibn Taymiyya’s Darʾ al-taʿāruḍ, Yale University: unveröffentl. Dissertation, 2013, (unter dem Namen Kazi eingereicht). Carl El-Tobgui, Reason, Revelation, and the Reconstitution of Rationality. Taqī al-Dīn Ibn Taymiyya’s (d. 728/1328) Darʾ Taʿāruḍ al-ʿAql wa-l-Naql or ‘The Refutation of the Contradiction of Reason and Revelation’, McGill Universität: unveröffentl. Dissertation, 2013; Jörn Thielmann, Ibn Taimiyya. A Social Market Economist avant la lettre?, hrsg. von Stephan Conermann, Berlin: EB-Verlag, 2014; Jon Hoover, Ibn Taymiyya between Moderation and Radicalism, in: Reclaiming Islamic Tradition. Modern Interpretations of the Classical Heritage, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2016, 177–203; Sophia Vasalou, Ibn Taymiyya’s Theological Ethics, New York: Oxford University Press, 2016; Mohamed Moustafa, Upholding God’s Essence. Ibn Taymiyya on the Createdness of the Spirit, in: Nazariyat 3.2 (2017), 1–43; sowie Farid Suleiman, Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese, in: Abbas Poya (Hrsg.), Koranexegese als »Mix and Match«. Zur Diversität aktueller Diskurse in der tafsīr-Wissenschaft, Bielefeld: transcript, 2017, 15–43. […]

15 Farid Suleiman, Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes, Berlin/Boston: De Gruyter, 2019, S. 3-4, insbesondere Anm. 16.

16 Jon Hoover, Ibn Taymiyya - Makers of the Muslim World, London: One-world Academic, 2019.

17 Verein für denkende Menschen e.V., Website: vdmev.de

Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken

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