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Pfafferode, 4. Mai 2017

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Johanna sah zu ihrer Großmutter, die sich mit zittrigen Fingern an ihrem Gurt zu schaffen machte. »Oma, lass mich dir doch helfen!«

Verhalten sah die alte Dame, die vor wenigen Monaten ihren dreiundneunzigsten Geburtstag gefeiert hatte, auf. Ein Kranz von Fältchen umrandete ihre ernsthaft dreinblickenden Augen bei dem Versuch, die Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. »Danke, mein Kind. Ich bin wohl etwas nervös.«

Mit einem leisen Klacken gab das Gurtschloss den Sicherheitsgurt frei, der sogleich und beinahe lautlos in seine Halterung zurückgezogen wurde. Die junge Frau sah der Schlosszunge nach, bis sie bewegungslos in ihrer Position verharrte. Was sollte sie ihrer Großmutter antworten?

Oma Luise war doch weitaus aufgeregter, als Johanna erwartet hatte. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass sie ihrer Enkelin ein Geheimnis, das sie und Opa Ernst jahrzehntelang mit sich herumgetragen hatten, offenbahren wollte. Wahrscheinlich wäre es nie zur Sprache gekommen, hätte der alte Herr nicht auf dem Sterbebett etwas angesprochen, das Ewigkeiten in ihm geschlummert und uralte Wunden bei seiner Frau wieder aufgerissen hatte ...

Johannas Opa litt schon seit Jahren an einer Demenz, Alzheimer war die Erklärung der Ärzte. Hilflos musste die Familie mitansehen, wie die Erinnerungen dieses stolzen, humorvollen und gutherzigen Mannes in den Nebel der Vergessenheit eintauchten, um später für immer zu verschwinden. Übrig blieb eine Hülle von Mensch, gefangen im eigenen Körper, dem unaufhaltsamen Verfall preisgegeben. Zuletzt hatte ihren Großvater eine Lungenentzündung ans Bett gefesselt.

Johanna konnte sich noch genau an jedes Detail des Tages erinnern, an dem er starb. Großmutter, Onkel Albert, ihre Mutter und sie hatten sich um das Krankenlager versammelt, um in den letzten Stunden bei ihm zu sein und sich zu verabschieden. In einem scheinbar lichten Moment lächelte Opa Ernst seine Frau an und bat sie, nach den Kindern zu sehen. Charlotte würde doch gewiss vor dem Schlafengehen wieder eine Gute-Nacht-Geschichte einfordern. Beim Klang dieses Namens war sämtliches Blut aus dem Gesicht der alten Dame gewichen. Johanna sah das Bild vor sich, wie ihre Oma vor Schreck erstarrte. Sie zitterte wie Espenlaub, versprach ihm jedoch, sich gleich darum zu kümmern, was Opa Ernst ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen zauberte. Wenig später schloss er für immer die Augen.

Von diesem Moment an schien sich die Welt um Großmutter Luise langsamer zu drehen. Johanna und ihre Mutter hatten sie noch nie so verstört gesehen. Die Fassade, hinter der ein innerlicher Aufruhr tobte, begann zu bröckeln. Auf die Frage der Enkelin, wer denn diese Charlotte sei, von der Großvater gesprochen hatte, brach sie weinend zusammen.

Niemand fand einen Zugang zu der völlig erschütterten alten Dame, nicht einmal ihre eigene Tochter, Johannas Mutter Hildegard.

Der besorgniserregende Zustand Luises gipfelte in einem Notarzteinsatz am folgenden Tag. Entkräftet war sie zusammengebrochen und musste sogar in die Klinik gebracht werden. Als Johanna ihre Großmutter dort besuchte, quälte sie die Angst, dass sie nur zwei Tage nach ihrem Großvater nun auch ihre Oma würde begraben müssen. Gott sei Dank halfen die Infusionen, die Luise bekam, dabei, dass sie rasch wieder zu Kräften kam.

Die junge Frau nahm ihrer Großmutter das Versprechen ab, dass sie regelmäßig aß und trank, damit sie schnell mit nachhause kommen konnte. Im Gegenzug dafür musste Johanna der alten Dame versichern, dass sie nach ihrer Entlassung einen Kurztrip mit ihr unternehmen würde.

Neugierig, wo sie denn hinfahren wollten, bekam Johanna jedoch nur kryptische Antworten. »Du wirst es sehen, wenn wir da sind. Nur eines vorweg: Es geht um ein Geheimnis ... ein schreckliches Geheimnis, auf einer Reise in die Vergangenheit, mein Kind.«...


Johanna half ihrer Oma aus dem Auto, stieß die Tür des rostigen Käfers zu und hielt mit ihr auf das Pförtnerhäuschen zu, in dem eine nette junge Frau saß, die sie freundlich begrüßte. »Kann ich ihnen helfen?«

Abgelenkt vom bewegten Spiegelbild Luises im Fenster des Häuschens, in dem sie ihre weißen schütteren Haare, die sich aus dem Knoten am Hinterkopf gelöst hatten, wieder in Ordnung brachte, reagierte Johanna nicht sofort. Sie betrachtete ihre Großmutter einen Moment, bevor sie sich auf die Frage der Pförtnerin besann. »Oma, wo genau wollen wir hin?«

Die alte Dame trat an das geöffnete Fensterchen heran und musterte ihr brünettes Gegenüber. »Vielen Dank für die angebotene Hilfe, aber ich kenne mich hier aus.«

»Kein Problem. Sollten sie dennoch Fragen haben, wissen sie ja, wo sie mich finden.« Vom Klingeln an der Schranke zur Klinik unterbrochen, wandte sich die Pförtnerin wieder ihren Pflichten zu, während Luise sich bei ihrer Enkelin unterhakte und sie auf das Gelände des Krankenhauses führte.

Nach wenigen Schritten sah sie sich um und ließ ihren Blick über die riesige Parkanlage streifen. »Es hat sich doch einiges verändert. Die Bäume sind gewachsen.«

»Wohin gehen wir, Großmutter?«

Noch immer hatte Luise ihrer Enkelin nicht verraten, worum es eigentlich bei diesem Ausflug ging. »Hab etwas Geduld, meine Kleine. Lass uns noch ein Stück gehen.« Die alte Frau orientierte sich nach rechts und hielt auf ein Gebäude mit gläserner Front zu. Eine breite Treppe mit unzähligen Stufen führte dort hinauf. »Das ist ebenfalls neu. Dieser Bau hat zu meiner Zeit noch nicht hier gestanden. Aber das Haus ...« Sie deutete auf ein villenähnliches Bauwerk zur Linken der Fensterfront. »... und jenes ...« Sie zeigte auf eine weitere Villa zur Rechten. »... die hat es schon gegeben. Wie es scheint, hat man die beiden Villen durch diesen Anbau miteinander verbunden. Lass uns hinaufgehen.«

»Meinst du nicht, wir sollten die Auffahrt hinauf laufen? Es sind sehr viele Stufen und du bist nicht mehr ...«

»Vierzig? Sechzig? Achtzig?«

Das Lachen ihrer Großmutter war ansteckend. Johanna warf den Kopf in den Nacken und kicherte. »Ich wollte eigentlich sagen: ... nicht mehr ... ganz so gut zu Fuß.« Fragend sah die junge Frau zu ihrer Oma herunter, die einen Kopf kleiner war, als sie selbst.

»Wir laufen einfach langsam, dann schaffen wir schon die paar Stufen. Dort oben steht eine Bank. Da können wir uns ausruhen.« Luise stieg auf die erste Treppenstufe, sah sich kurz um, ob Johanna ihr folgte, und nahm eine weitere. Am Absatz vor dem Eingang zu dem Gebäude angekommen, setzten sich die beiden auf die Holzbank neben einem Blumencontainer. Die alte Dame heftete ihren Blick auf die Villa Linkerhand, an die sich nahtlos die Fensterfront des Neubaus anschloss.

»Das Haus ... da hat alles angefangen. Ich bin deinem Großvater dort das erste Mal begegnet. Das ist nun schon ... lass mich nachdenken ... beinahe fünfundsiebzig Jahre her, eine halbe Ewigkeit ...«

Am entrückten Blick ihrer Großmutter erkannte Johanna, dass diese ein gänzlich anderes Bild vor Augen haben musste, als sie selbst ...


Nr. 983

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