Читать книгу Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке - Захар Прилепин - Страница 2

Kapitel 1

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Sie wurden nicht auf die Tribüne gelassen.

Sascha[1] blickte zu Boden: Die Augen waren müde von den roten Fahnenbahnen und den grauen Militärmänteln.

In der Nähe blitzte es rot auf, berührte die Gesichter, manchmal wehte ein Geruch von altem Leinen daher.

Die Grauen standen hinter der Absperrung. Die Rekruten, alle gleich, mittlerer Größe und staubig, bogen lasch die langen Gummiknüppel. Die Milizionäre hatten feiste, vor Aufregung rot angelaufene Gesichter[2]. Und da war der unumgängliche Offizier, zackig, der kampfeslustig in die Menge schaute. Seine Hände lagen frech am oberen Rand der Absperrung, die die Demonstranten von den Ordnungshütern und der ganzen Stadt abtrennte.

Einige schnauzbärtige Oberleutnants, unter deren Jacken sich üppige Bäuche abzeichneten. Irgendwo musste auch der Oberst sein, der Wichtigste und Allergeschäftigste.

Sascha versuchte zu erraten, wer es diesmal sein würde – der oberste Aufsichtsbeamte über das Oppositionsmeeting, zuständig für die Ordnung. Manchmal war es ein trockener Mann mit asketischen Wangen, der die Leute aus dem Untergrund, die auch schon fett geworden waren, angewidert beobachtete. Manchmal war es einer, der selbst wie jemand aus dem Untergrund wirkte, nur noch sehr viel mehr Untergrund als jene, schwerfälliger, zugleich aber auch beweglicher, aufgeweckter, ständig ein Grinsen im Gesicht und mit kräftigen Zähnen. Noch ein dritter Typus war anzutreffen – ein ganz kleiner, der wie ein Pilz aussah, sich hinter den Reihen der Miliz auf flinken Beinen hin und her bewegte …

Sascha hatte bislang keinen einzigen Obristenstern bemerkt.

Ein wenig weiter, hinter der Absperrung, knirschten die Reifen langsam rollender Autos, die schweren Türen der Metro schwenkten endlos auf und zu; mit Staub bedeckte Obdachlose sammelten Flaschen auf und starrten gierig in die Hälse der Flaschen. Ein Kaukasier trank Limonade und verfolgte die Demonstration hinter dem Rücken der Milizionäre. Sascha fing zufällig seinen Blick auf. Der Kaukasier drehte sich um und ging weg.

Sascha fielen die knapp hinter der Absperrung stehenden Autobusse auf, sie trugen ein Wappen mit einer zähnefletschenden Bestie. Die Vorhänge in den Fenstern der Autobusse waren zugezogen, manchmal wurden diese Vorhänge bewegt. Es saß also jemand in den Bussen – wartete auf die Gelegenheit, auszusteigen, heranzustürmen, den kurzen Gummiknüppel in der festen Faust zusammengepresst, auf der Suche nach jemandem, den er zusammenschlagen könnte, mit voller Wucht und mit einem Hieb[3].

»Siehst du, ja?«, fragte der unausgeschlafene und verkaterte[4] Wenka, dessen Augen wie ein verkochter Pelmen* aufgequollenen waren[5].

Sascha nickte.

Die Hoffnung, dass bei dieser Demo keine Sondereinheit* auftauchen würde, war nicht sehr groß gewesen und bewahrheitete sich auch nicht.

Wenka grinste, als würden im passenden Moment nicht böse Geister in Tarnanzügen und mit schweren Helmen aus dem Autobus herausstürzen, sondern Clowns mit Luftballons.

Sascha bewegte sich ziellos durch die Menge, die hinter die Absperrung zusammengedrängt wurde.

»Wie Aussätzige zusammengetrieben[6] …«

Die Absperrung war aus jeweils zwei Meter langen Abschnitten zusammengesteckt, entlang derer Uniformierte in gleichmäßigem Abstand Stellung bezogen hatten.

Wenka ging hinter Sascha her. Ihre Kolonne befand sich auf der anderen Seite des Platzes, und es war schon Janas klare Stimme zu hören, die Jungs und Mädchen in Position brachte.

Viele von denen, die Sascha, sich vorwärts bewegend, anschaute und berührte, wirkten elend und armselig[7]. Fast alle waren aufgebracht und definitiv nicht sehr jung.

Ihr Verhalten hatte etwas von Todeskandidaten, als wären sie aus letzter Kraft hierher gekommen, um zu sterben. Die Portraits, die sie in Händen hielten, an die Brust drückten, stellten die Führer dar, wobei diese Führer ganz offensichtlich jünger als der Großteil der hier Versammelten waren. Lenins sanftmütig lächelndes Gesicht geisterte da herum, ein vergrößertes Bild, das Sascha noch aus dem Schulbuch kannte. Aus den zittrigen Händen der Alten erhob sich das ruhige Gesicht von Lenins Nachfolger*. Der Erbe trug eine Schirmmütze[8] und die Uniform des Generalissimus.

Dünne, auf grauem Papier gedruckte Zeitungen wurden angeboten, Sascha verzog den Mund und lehnte grob ab.

Alles, was hier vor sich ging, bewirkte nichts als Mitleid und Beklemmung.

Einige Hundert, oder vielleicht Tausend Menschen versammelten sich auf dem Platz in der unerklärlichen Überzeugung, ihre armseligen Zusammenkünfte könnten das Verschwinden der verhassten Macht bewirken.

In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz* vergangen waren[9], waren auch diese Demonstranten endgültig gealtert und niemand hatte mehr Angst vor ihnen.

Freilich[10], als Kostenko, ehemaliger Offizier und, so sonderbar das klingen mag[11], Philosoph, ein kluger Kopf[12] und eine höchst originelle Figur, vor vier Jahren begonnen hatte, diesen Haufen an verbiesterten jungen Menschen auf den Platz hinauszuführen, verstanden die nicht immer, was sie zwischen den roten Fahnen und alten Leuten eigentlich zu suchen hatten. Innerhalb weniger Jahre waren die Jungs erwachsen und wegen ihrer dreisten Aktionen und grölenden Schlägereien bekannt geworden. Mittlerweile fand sich in Kostenkos Partei derart viel und bunt zusammengewürfeltes Jungvieh[13] zusammen, dass man beschlossen hatte, das heutige Meeting mit einer eisernen Absperrung einzugrenzen. Damit es nicht ausbrach[14]

Bisweilen schauten diese kräftigen, abgeklärten Alten voller Interesse und Hoffnung, aber auch mit leichtem Zweifel zu Sascha und Wanja hin.

Der Abgeordnete der patriotischen Parlamentsfraktion trat auf der Tribüne gemessen von einem Fuß auf den anderen. Selbst aus der Entfernung war an seinem glatten, rosigen Gesicht zu erkennen, dass sich der Mann ausgezeichnet ernährte – das unterschied den Abgeordneten von allen neben ihm stehenden geschäftigen Graugesichtigen grundlegend.

Der Abgeordnete trug einen schwarzen, elegant geschnittenen Mantel. Er nahm die Lammfellmütze ab – und stand vor dem Volk mit entblößtem Haupt. Einer aus seinem Fußvolk, das sich hinter dem Abgeordneten drängte, hielt die Mütze in Händen.

Vor der Tribüne waren Transparente mit unsinnigen Sprüchen platziert, die niemanden je zu einer Tat inspirieren würden.

Sascha kniff die Lider zusammen und las.


Es wurde ihnen nicht gestattet, aufzutreten. Die Zeit reiche nicht, stattdessen wurden sie mit sanftem Nachdruck gebeten, nicht länger die Treppe zur Tribüne zu besetzen. Sascha, der auf der vorletzten Stufe stand, schaute von unten nach oben auf den Organisator, der sich erleichtert von Sascha wegdrehte. Der Organisator stellte äußerte Geschäftigkeit zur Schau: »Kommt, Jungs, alles klar. Ein andermal.«

»Was ist mit Kostenko los?«, hörte Sascha im Hinuntergehen die sonore und eindringliche Stimme des Abgeordneten. Der Abgeordnete bemerkte die rote Binde mit dem aggressiven Symbol* auf Saschas Arm und gab die Frage an den Organisator weiter, der sich erleichtert von Sascha abgewandt hatte.

»Er sitzt.« In der Antwort schwang ein bissiger Unterton mit, der allerdings gleich verschwand, als der Abgeordnete gereizt erwiderte: »Dass er sitzt, weiß ich.«

»Es heißt, er bekommt fünfzehn Jahre«, antwortete der Organisator rasch und plötzlich voller Ernst, schon jetzt mit einem gewissen Bedauern über Kostenkos Schicksal.

Während der kurzen Augenblicke, die das Gespräch dauerte, stand Sascha reglos auf der Treppe des engen Aufgangs, er hörte ganz offenbar zu. Eine Stufe weiter unten wartete eine alte Frau, um zur Tribüne heraufzusteigen.

»Also was ist, gehst du jetzt runter, oder nicht?«, fragte sie mürrisch.

Sascha sprang vom Aufgang auf die Straße hinunter.

»Ihr könnt auch unten schreien«, rief sie Sascha noch hinterher. »Für euch ist es auf der Tribüne noch zu früh …«

Wenka, der unten auf Sascha gewartet hatte, verstand ohnehin alles und fragte nichts. Es schien ihm egal zu sein, ob sie auf die Tribüne gelassen wurden oder nicht.

In der Tasche bewegte Wenja einige Dutzend Knallkörper [15]hin und her. Manchmal zog er sie einzeln heraus, drehte sie vor dem Gesicht, als würde er nicht verstehen, worum es sich dabei eigentlich handelte.

»Hast du nichts zu rauchen?«, fragte Saschka. »Ich hab dir doch gesagt …«

»Ja?« Wenja grinste verdutzt. »Und was hast du gesagt?«

Sie zwängten sich aus der Menge wieder heraus zu ihrer Kolonne, die schon angetreten war.

Jana, schwarzhaarig und in eleganter kurzer Jacke, deren Kapuze und Kragen mit Pelz eingefasst waren, ging die Reihen entlang und rief Kommandos. Sie trug blaue, unten leicht ausgestellte Jeans[16], und sie sah bezaubernd aus.

Sascha wusste, dass sie Kostenkos Geliebte war.

Kostenko, ja, der saß im Gefängnis, in Untersuchungshaft[17], er war wegen Waffenkauf verhaftet worden, nur ein paar Maschinenpistolen – doch sie, seine Meute, seine Herde, seine Bande, sie waren nervös in Formation angetreten[18], die Gesichter hinter schwarzen Tüchern, mit schwitzender Stirn und tierischem Blick.

Es waren schwer einzuordnende, merkwürdige junge Männer, einzeln aus dem ganzen Land zusammengeholt, durch etwas Unbekanntes miteinander verbunden, durch eine Markierung, ein Mal, das ihnen seit der Geburt anhaftete.

Irgendwo war da auch Matwej – er war derjenige, der in Kostenkos Abwesenheit die Partei leitete. Allerdings stand Matwej heute nicht in der Kolonne, er schaute von der Seite zu.

Jana hob das Megaphon vors Gesicht und holte mit den Armen aus. Ihre Stimme löste sich sofort in einem einheitlichen Schrei auf, zu hören war nur der erste, angestimmte, glockenhelle Buchstabe.

Sascha stand noch neben der ersten Formation, er konnte seinen Platz nicht finden, während sich seine junge Herde schon zum Schrei geöffnet hatte – am Rand seines Blickfeldes sah er verschreckt auffliegende Tauben, den nervös zusammenzuckenden Offizier, der bei der Absperrung der Rekruten stand, die schon die Schlagstöcke in ihre saftlosen Hände nahmen. Sascha brüllte gemeinsam mit allen anderen – seine Augen waren erfüllt mit jener Leere, die den Schrei ermöglicht und seit je[19] dem Angriff vorausgeht. Sie waren siebenhundert Menschen, und sie schrien das Wort »Revolution«.


»Tischin!«, winkten sie ihm. »Komm hierher!«

Er stand in der ersten Reihe, links außen, neben Wenja, dessen verkaterte Augen, die noch kürzlich verkochten Pelmeni geglichen hatten, jetzt rot und fast angebraten aussahen, als wären sie in eine glühend heiße Pfanne gelegt worden.

»Geh weg, Oma!«, lachte Wenja.

Neben der Kolonne stand eine Alte, und in dem Moment, als die Kolonne für einige Momente verstummte, hörte Sascha ihre Stimme, die offenbar nicht zum ersten Mal ein und dasselbe wiederholte: »Idioten! Ihr seid Provokateure! Euer Kostenko sitzt absichtlich im Gefängnis, um berühmt zu werden! Euch haben die Jidden hierher geschickt!«

Ohne die Alte zu beachten, schritt Jana vorbei, in aller Schwärze, mit einem grellen und bloßen Gesicht, wie eine offene Wunde.

»Gottlose!«[20], schrie ihr die Alte ins Gesicht, doch Jana war schon weg, es war ihr herzlich egal.

Die Großmutter inspizierte mit geschärften Äuglein die Kolonne und entdeckte Sascha.

»Die Juden haben sie geschickt«, wiederholte sie noch einmal. »Da, du bist ein Jud! Ein Jidd und ›SSler‹*

Sascha wurde von dem, der hinter ihm stand, angestoßen, die Kolonne setzte sich in Bewegung[21].

»Re-vo-lu-ti-on« wummerte und vibrierte es auf dem ganzen Platz; es überdeckte den Bass auf der Tribüne, die Gespräche der Miliz über Funk[22], die Stimmen der übrigen Demonstranten.

»Sojus Sosidajuschtschich!*«, »Jungs« – wurde ihnen von der Tribüne zugerufen. »Ihr seid nicht zum Schreien gekommen. Kommt schon, könnt ihr euch einmal auch normal benehmen …«

Die Kolonne, die ihre schwarz-roten Flaggen schwenkte, bewegte sich Richtung Absperrung, vorbei an der Tribüne. Kompaktes, die Ohren mit stumpfem Schmerz erfüllendes, unglaubliches Gebrüll stand in der Luft.

»Den Präsidenten!«, schrie Jana mit gellender Stimme.

»In der Wolga ertränken!«, antworteten im Echo siebenhundert Kehlen[23].

»Den Gouverneur!«

»In der Wolga ertränken!«

»Also, Herrschaften, tut denn niemand etwas …«, warf der Auftretende hilflos ein, und das hier unpassende »Herrschaften«[24] drang bis zu Sascha; es hätte ihn wohl dazu gebracht, zu grinsen, hätte er nicht selbst mit heiserer Stimme so sehr geschrien, dass schon seine Zähne kalt wurden: »Wir hassen die Regierung!«

Alles verfiel in den Rhythmus dieses Brüllens. Vom Schrei schwenkten die Türen der Metro auf und zu, imbTakt desbSchreies hetzten die grauen Jacken herum, zischten die Funkgeräte,bhupten die Autos.

»Liebe und Krieg! Liebe und Krieg!«

»Liebe und Liebe!«, wandelte es Sascha ab, der Jana noch einmalbsah, die sich plötzlich vor der Kolonnebumdrehte, ihre Kapuzebflog davon und fiel zu Boden.

»Wie süß duftet diese Kapuze, und drinnen ist … ihr Kopf«, fiel Sascha ein, und er vergaß diesen unvermittelt auf blitzenden Gedanken sogleich wieder. »Wie ein Honigkuchen aus Tula …« tauchte ein weiterer Gedanke auf, wobei Sascha nicht genau verstand, was er da eigentlich dachte und wozu.

»Ihr sprengt die Demonstration!«[25], schrie eine Frau, die offenbar von der Tribüne herab gelaufen kam und versuchte, Jana am Ärmel zu packen[26]. »Der Sojus!«, rief sie beschwörend zur ersten Reihe hin und versuchte, den Jungs in die Augen zu schauen. »Ihr nennt euch ›Sojus Sosidajuschtschich‹! Was schafft ihr denn? Ihr bringt nur Zwietracht hervor!«

»Zum Demonstrieren bist du hierher gekommen? In diesen Pferch?«, fragte Jana und schob das Megaphon brüsk vom Gesicht weg. »Dann demonstriert mal schön. Wir ziehen von hier ab.«

Sie standen schon direkt an der Absperrung – Sascha bemerkte die Augen der Milizionäre, die unruhig die Umgebung absuchten, sowie den Offizier, der etwas ins Funkgerät schrie.

»Ja!«, brüllte er. »Die Sondereinheit[27] soll kommen. Verdammte Scheiße, diese ›SSler‹ sind hier aufmarschiert.«

»Wir sind irr, wir machen euch platt!«[28], schrie die tobende Kolonne im Chor, stampfte auf und schwenkte dabei die Fahnen.

Wenka wandte sein Gesicht zur Kolonne, mit dem Rücken zu Polizei und Absperrung stehend gab er die Sprengkörper rasch an die nächste Reihe weiter: »Zünd sie an!«

Die Tribüne schwieg, alle schauten zu der wild brüllenden Formation.

Einige Knallkörper explodierten gleichzeitig, dann flog ein Kanonenschlag Richtung Miliz, es knallte neben dem vor Schreck zusammenzuckenden Offizier und begann heftig zu rauchen.

Sascha sah, wie ein Milizionär, der nicht ganz kapierte, was da vor sich ging, einfach umkehrte und die Straße davonlief, seine Kappe rollte zur Seite.

»Re-vo-lu-ti-on!«, wurde jetzt schon in unüberhörbarer Hysterie geschrien, die Gruppe mit Turnschuhen und zerfledderten Bomberstiefeln stampfte rhythmisch.

Über der Kolonne flammten bengalische Feuer auf.

Sascha hielt die Absperrung in Händen, zog sie zu sich. Von der anderen Seite klammerten sich die erschrockenen Milizionäre daran.

Über deren Rücken hinweg schwenkte ein Offizier seinen Schlagstock und versuchte Sascha am Kopf zu treffen. Sascha wich seinen Schlägen aus; er ließ die Absperrung mehrfach los, um dann wieder danach zu greifen, vorsichtig, als wäre sie brennend heiß.

Der Offizier nahm den Schlagstock in die andere Hand, wirbelte ihn herum, und versetzte Wenka seitlich einen Schlag, dessen Wange sofort grellrot anschwoll.

»Die Fahnenstange!«, schrie Wenja, der sich nach hinten drehte und dabei grundlos grinste. »Die Fahnenstange, hierher!«

Eine Fahne wurde ihm gereicht. Wenja riss mit einer Bewegung den ganzen Stoff ab, schwenkte die Fahnenstange wild durch die Gegend und ließ sie auf den Offizier niederdonnern[29]. Der drosch gerade voller Begeisterung mit dem gekrümmten Gummiknüppel irgendwem ins Gesicht und sah den Schlag nicht kommen.

Seine Kappe rutschte in den Nacken, sofort floss ein gleichmäßiger Blutstrom über die Stirn und verteilte sich an der Nasenwurzel wie Astwerk über Augenbrauen, Wangen und Augenhöhlen.

Der Offizier schaute nach oben, verdrehte seine blödsinnigen Augen, als versuchte er, die Verletzung zu sehen.

Auf Saschas Schulter lag, wie eine Kopie, noch eine weitere Fahnenstange, das Fahnentuch hing nach unten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er weitere Fahnen, die mit ihren Spitzen auf Milizionäre und Rekruten zielten, die ihrerseits die Absperrung festhielten.

Abermals wurde von hinten gegen Sascha gedrängt, so stark, dass er zu fallen drohte. Stürzend hielt er sich an der Brust eines Rekruten fest, der den Schlagstock vertikal in die Höhe hielt und vor Angst zu blinzeln begann – entweder weil er nicht richtig ausholen konnte, oder weil er Angst hatte, zuzuschlagen.

Sascha hielt sich gerade noch auf den Beinen, stieß den Rekruten weg, und hob den Teil der Absperrung, den er zu fassen bekommen hatte, hoch über den Kopf.

Die unablässig brüllende Meute preschte aus dem Pferch hinaus. Die Milizionäre zogen sich zurück und schauten den Laufenden absolut unentschlossen nach. Jemand brachte den am Kopf verletzten Offizier zu einem Polizeiauto.

»Jungs, ich flehe euch an!«, rief noch jemand auf der Tribüne.

Von irgendwo an der Seite liefen schon die Sondereinheitler heran, ein Dutzend Typen im Kampfanzug.

»Drei…«, zählte Sascha – »Vorerst nur drei.«

Sascha warf die Absperrung in ihre Richtung und renkte sich dabei fast seine Gelenke aus. Sie fiel laut scheppernd auf die Straße, flog nicht bis zu den Laufenden. Sascha sah, dass die innehaltenden Sondereinheitler[30] Flüche in seine Richtung ausstießen[31], verstand die Wörter allerdings nicht. Sie setzten sich abermals in seine Richtung in Bewegung, und Sascha griff sich einen weiteren Abschnitt.

Die geschleuderte Absperrung bedeckte einen Sondereinheitler, der unter dem auf ihn gestürzten Metallstück ganz verdreht dalag. Zwei andere versuchten ihn herauszuziehen.

»Bewahren wir Ruhe!«, wurde von der Tribüne gerufen. »Setzen wir das Meeting fort!«

Die Jungs stürzten vorwärts, den Prospekt entlang. Die Miliz stand machtlos da, wie eine Ehrenwache, und ließ die junge, vor Glück jaulende Bande in die Stadt.

Der ganze Platz strömte regelrecht in eine Fußgängerzone. Das Erste, worauf die in Freiheit Drängenden trafen, waren ein Taxistand an der Straße und Verkaufsstände für Blumen.

Die Verkäufer schnappten die Blumen bündelweise[32] und machten sich auf und davon. In der Eile warfen die Laufenden – zunächst ohne Absicht, aus Versehen – da eine Vase, dort einen Korb mit Rosen, Nelken und Tulpen um; sofort bekam man aber Lust auf mehr. Als Sascha zu den Verkaufsständen hetzte, war die ganze Straße schon rot, gelb, rosa und bordeaux übersät. Unzählige gebrochene Stängel knacksten unter seinen Schritten.

Sascha ergriff – warum auch immer – einige, etwa drei, vier Sträuße von den noch nicht umgeworfenen Blumenständern und lief eine Zeitlang mit ihnen in der Hand – bis er die Unsinnigkeit seiner Handlung begriff. Als er am Taxistandplatz vorbeirannte, sah er, dass ein verängstigter Taxifahrer aufs Gas stieg und einen Passagier, der sich an der Tür festhielt und sich noch nicht hatte setzen können, einige Meter mitschleifte – jener brüllte durchdringend. Andere Taxis, die ständig hupten, bremsten, fuhren eilig davon.

Sascha überschüttete eine auf dem Boden sitzende armselige Flüchtlingsfrau aus dem Süden samt obligatorischem Säugling im Arm mit den Blumen und wäre beinahe in Wenja hineingelaufen, der vor einem Schaufenster stehengeblieben war, offenbar auf der Suche nach einer geeigneten Waffe.

Wenja entdeckte eine Mülltonne und einen Augenblick später flog sie unter fürchterlichem Krachen in das Fenster.

An diesem Sonntagmorgen waren noch wenig Menschen auf der Straße. Vereinzelte Passanten verließen den Ort, eilig und ohne sich umzuschauen. Ein Mann in blauem Mantel lief aus einem Geschäft und trottete die Straße hinauf. Wenig später tauchte ein Wächter in schwarzer Jacke auf und verschwand sofort wieder hinter den Türen, während er in ein Handy schrie.

Auf der anderen Straßenseite stand ein schönes Auto einer ausländischen Marke – ohne Rücksicht auf die Fußgänger war es falsch geparkt worden. Die Alarmanlage des Fahrzeugs hatte schon eine Weile gequäkt, was vermutlich den Unmut der tobenden Menge hervorrief. Mit überraschender Leichtigkeit kippten einige Jugendliche das Auto zur Seite und dann aufs Dach.

Weiter oben an der Straße standen noch andere Autos – Jungen und Mädchen sprangen in wilder, fast tierischer, zugleich aber stummer Freude auf deren Dächern herum.

Sie waren auf der Suche nach etwas, das lautstark zertrümmert werden könnte, und zogen so, unter Krachen und Klirren, durch die Straßen, anfangs vereinzelt, Auge in Auge[33] mit der Stadt.

Die Jungs führten ihre Taten ohne jegliche Schreierei aus, mit bösem Ernst, beinahe ruhig.

Unter atemberaubendem metallenem Scheppern fielen einige im Freien stehende Spielautomaten zu Boden.

Irgendwer wackelte am Zaun eines Sommercafés, um ihn umzureißen; von der Abgrenzung wurde eine schöne schwarze Kette abmontiert, sie segelte[34] in die bunt angestrichenen Fenster des Cafés.

Einer hatte sich geschnitten und umwickelte die blutende Hand mit einem Stück Seidenvorhang, der samt Gardinenstange aus dem Café herausgeholt worden war.

Kostja Solowyj, ein großgewachsener, erstaunlicher Kerl von merkwürdiger Schönheit – weiße Jacke, weiße Hosen und spitze weiße Schuhe, die verblüffend gut zu seinen spitzen Vampirohren passten – ergriff die schwarze Kette, wirbelte sie fröhlich durch die Luft und ließ sie krachend gegen jede Straßenlaterne, an der er vorbeikam, donnern.

Niemand kam ihm in die Quere[35] – die Kette vollführte wunderbare, schwere Kreise, und wäre nicht dieser verrückte Wirbel ringsum gewesen, hätte man das leise Heulen, das die Kette durch die Kreisbewegung erzeugte, hören können.

In der Auslage des Kleidergeschäftes standen feingliedrige Puppen mit kleinen Köpfen – Schönheiten in Miniröcken und grellen Blusen.

Als das Schaufenster zertrümmert war, wurden die Schönen herausgeholt und in Einzelteile zerschlagen. Die zuletzt Davonlaufenden erschraken beim Anblick der am Boden herumliegenden verunstalteten, bein- und kopflosen Körper.

Trotz allem war es der Miliz offenbar gelungen, einen Teil der Kolonne des »Sojus« abzutrennen und hinter der Absperrung zu halten – Sascha sah, dass nur wenige der Jungs übriggeblieben waren, im Ganzen vielleicht zweihundert Mann. Viele verdünnisierten sich schon in die Höfe hinein, sie verstanden: Das Fest würde nicht mehr lange anhalten.

»Die Bullen!«[36], wurde irgendwo gebrüllt, die Meute drängte die Straße hinauf, schmiss Mülleimer um und warf Schaufenster ein.

Unablässig war das Klirren von zerschlagenem Glas zu hören. Die an diesem Morgen vermischten und fein zermahlenen Farben der Stadt wurden unverhofft grell.

Journalisten huschten durch die laufende Menge mit ihren Videokameras – höchst geschäftig, und, wie es schien, glücklich über das, was vorging.

»Hierher! Schneller!«, trieb ein Kameramann einen Menschen mit Mikrophon an.

Sascha ging mit klarem Kopf vor, andere Gefühle als den Wunsch, zu zerstören und möglichst viel zu zertrümmern, verdrängte er.

Auf der Straße sah er Plüschtiere herumliegen, die als Preis im zertrümmerten und umgeworfenen Spielautomaten aus Glas gedient hatten – rosa und gelb, erbärmlich, als wären sie verloren worden.

Irgendwoher kam ein kleiner Major, der schon im Pensionsalter war, den Jungs entgegengelaufen.

»Stehenbleiben!«, rief er, und schon seinem Schrei war anzumerken, dass er selbst absolut entsetzt war und eigentlich nicht wollte, dass irgendjemand auf ihn hörte.

Ihm entgegen rannte Wenja, der – ohne innezuhalten – in die Luft sprang und den Major gegen die Brust trat. Der fiel um und streckte die Arme von sich.

Sascha blieb abrupt neben dem alten Major stehen, unterdrückte sein Verlangen, ihn aufzurichten, ihm aufzuhelfen, sich sogar zu entschuldigen.

Mit krampfartiger Bewegung griff der Major an die Pistolentasche, nicht um die Pistole herauszuziehen, sondern aus Angst, die Waffe zu verlieren.

Er verfluchte Sascha und brüllte ihn an, und der überlegte es sich anders – anstatt dem Major zu helfen, sprang er auf dessen Mütze, die in einiger Entfernung lag.

»Was machst du da, du?«, fragte der Major, der sich aufsetzte. Er sah ziemlich blöde aus – wie er da auf dem Asphalt saß, ohne Kappe, wirkte wie ein alter Mensch.

»Ihr seid an allem selbst schuld!«, sagte Sascha voller Bosheit. Er wandte sich um, wollte weiterlaufen, wurde aber von Wenja am Ärmel gepackt, der ihn in die Gegenrichtung zog: »Dort sind die ›Kosmonauten‹*. Schnell, wir müssen irgendwo …«

Sie liefen an der Aufschrift »Gaben der Natur« vorbei, auf der – wie abgebrochene Beine – drei Buchstaben weggerissenen worden waren, neben einer in schönem Zickzack zerschlagenen Auslage, stürzten schließlich in einen verpissten Hof, und waren in der Falle.

»Scheiße, ich kenne diesen Bezirk nicht!«, sagte Wenja und grinste. Ohne Pause und nicht weniger fröhlich fügte er hinzu: »Die ›Kosmonauten‹ schlagen dort alles zu Matsch. Sie treten Allen die Scheiße raus. Die haben uns über die Parallelstraße umfahren, jetzt treiben sie alle von oben nach unten, zu den Bullen …«

Sascha suchte die Mauern ab, in der Hoffnung, einen Durchschlupf zu finden.

»Eine Treppe«, sagte Sascha.

Nach oben, auf ein vierstöckiges Haus führte eine Feuerleiter, zu ihr hinaufzuspringen, war allerdings nicht möglich – es war zu hoch.

»Komm, du steigst auf meine Schultern«, schlug Wenja vor.

Sascha blickte ihn an, grinste, fast zärtlich. Denn Wenja hatte nicht gesagt: »Los, ich steige auf deine Schultern.«

»Und du vergräbst dich hier im Sand«, antwortete Sascha.

»Ich werde mich blöd stellen[37]«, fuhr Wenja fort, und gackerte dämlich herum. »Oh, Tantchen!« Er unterbrach das Lachen schlagartig, bemerkte etwas.

Wenja lief zu einem Fenster im Erdgeschoss und trommelte gegen die Scheibe.

»Tantchen, geh nicht weg!«

Die Frau kehrte zum Fenster zurück, schüttelte den Kopf: »Was ist los?«

»Sie jagen uns! Dort! Sie schlagen und jagen uns! Öffnen Sie das Fenster! Sie jagen uns!« Wenja begann wie verrückt zu gestikulieren. Offenbar hatte er sich noch nicht entschieden, wen er vorspielen sollte: Den weibischen jungen Idioten samt »Tantchen, hab Mitleid«, oder den ernsthaften jungen Burschen, der ein Problem mit dem Gesetz hat: »Frau, helfen Sie! So etwas kann jedem passieren!« Schließlich wechselten sich diese beiden Masken in Wenjas Gesicht ohne jegliches System ab, was bei der am Fenster stehenden Frau nicht gerade Vertrauen erweckte.

»Mist, wenn sie wenigstens eine Oma wäre. Eine Oma hätte Mitleid«, schimpfte Wenja, als die Frau, die im Übrigen nichts antwortete, die Vorhänge zuzog, dann aber neben dem Fenster stehenblieb; man konnte deutlich ihren Umriss sehen.

»Vermutlich hat sie noch andere Fenster auf die Straße hinaus …«, sagte Sascha und unterbrach den Satz; es war sowieso klar, dass sie die Frau, sollte sie gesehen haben, was sie dort aufgeführt hatten, niemals hineinlassen würde.

»Wir haben höchstens noch zwei Minuten …«, überlegte Wenja schnell, der die Antwort offenbar überhört hatte. Er erinnerte sich – »Sanjok, lass es.« »Lass es« war seine Lieblingsformulierung, die viele Bedeutungen hatte; diesmal bedeutete sie: »Jetzt werde ich’s dir zeigen!« – »Dort lief vor uns ein Sportler, ein Läufer. Ein Leichtathlet, nicht wahr. Ein Lauf am Sonntagmorgen. Er lief als Erster in die Sondereinheit. In roten Hosen. Ach, sie haben ihn sofort verdroschen. Einfach Debile, Scheiße nochmal. Der Typ tat was für die Gesundheit.«

Schritte waren zu hören, und Wenja erstarrte mit einem Grinsen im Gesicht, Sascha wollte sich, warum auch immer, hinsetzen oder sogar hinlegen.

Ljoscha Rogow kam in den Hof gelaufen – ein Junge irgendwo aus dem Norden. Aus Sewerodwinsk oder so.

Sie kannten sich noch kaum, doch Sascha akzeptierte Ljoschka schon – er schätzte seine dezidierte, unerschütterliche Ruhe.

»Was steht ihr da rum?«, fragte Ljoscha mit ruhiger Stimme.

»Sind die Bullen schon da?«, beantwortete Sascha die Frage mit einer Gegenfrage.

»Es sind noch hundert Meter bis zu ihnen. Ist das eine Sackgasse[38]? Im Nachbarhof ist offenbar ein Durchgang. Ich bin gestern hier rumgelaufen.«

Die Straße versetzte sie mit all ihrem Chaos und ihrer Verwüstung noch immer in Erstaunen.

»Sie haben einen Wagen angezündet!«, freute sich Wenja.

Die Luft war erfüllt von Hundegekläff, Sirenen und Pfiffen.

Sascha bemerkte noch zwei weitere umgestürzte Autos, eines davon – siebzig Meter die Straße hinunter, brannte sogar. Alle hielten Abstand zu ihm. Vermutlich deshalb kam auch keine Polizei, man befürchtete eine Explosion.

Das zweite schaukelte zehn Meter entfernt von ihnen auf dem Dach liegend.

Daneben tanzte zur Alarmanlage, die immer wieder in Geheul überging, eine Pennerin – dreckiges Gesicht und feuchte Lippen, als wären ihre Wangen nach außen gekehrt. Das Weib grinste, öffnete den zahnlosen Mund.

Nicht weit entfernt stand ein junger Mann mit Aktenkoffer, der aus irgendeinem Grund Schlüssel in der Hand hielt.

»Es ist sein Auto«, erriet Sascha.

Wenja blieb einen Moment lang stehen: »Hör mal, Landsmann!«, rief er den jungen Menschen, der sein Gesicht nervös verzog. Er drehte sich um.

»Schalt die Sirene aus, das nervt«, bat Wenja, grinste und machte mit dem Daumen eine Geste, als würde er eine Alarmanlage ausschalten.

Sie stürzten in den Hof, rannten, über die Bänke springend, an Pavillons und Rutschen des Kinderspielplatzes vorbei. Fast im Flug streifte Sascha das rostige Skelett der Schaukel und hörte einige Sekunden lang hinter seinem Rücken deren rhythmisches Ächzen.

Hinter den Jungs liefen drei Milizionäre schweren Schritts und forderten sie drohend auf, stehenzubleiben. Sascha, der sich auf den Ruf hin umdrehte, sah, dass der erste von ihnen dem Schäferhund kaum nachkam, den er unter Mühen[39] an der Leine festhielt.

»Lassen sie den Hund von der Leine oder nicht?«, überlegte Sascha befremdet, als ginge es dabei nicht um ihn. Er entschied, sich nicht mehr umzudrehen.

Die Jungs liefen aus dem Hof zur Straßenbahnhaltestelle, an der nur ein paar Menschen standen – allzu gern hätten sie sich in der Menge verloren.

Von der Haltestelle fuhr eine Straßenbahn ab. Sie liefen ihr hinterher und holten sie nach dreißig Metern ein.

Wenja rannte als Erster und winkte freudig mit den Händen, er rief etwas Unverständliches und machte dabei wütende Zeichen Richtung Straßenbahnfahrerin, deren zufriedenes Gesicht im Rückspiegel aufblitzte.

Die Straßenbahn hielt an, die mittleren Türen des Waggons öffneten sich, die Jungs stürzten in die Tram, Ljoscha Rogow eilte sofort zur Kabine der Straßenbahnfahrerin. Sascha bemerkte, wie er zur Fahrerin etwas sagte, einen Geldschein hinschob, sich entschuldigte und die Tür schloss. Die Tram setzte sich in Bewegung.

Aus dem Hof kamen die Milizionäre gelaufen, an ihren Bewegungen sah man, dass sie sofort errieten, wohin die Flüchtenden verschwunden waren.

Wenja zeigte den wütend Gestikulierenden beide Mittelfinger – plötzlich hielt die Tram ruckartig an.

Die vordere Tür öffnete sich und es stiegen fünf oder sechs Männer der Sondereinheit ein.

Wenja drückte den Notfallknopf, die Tür öffnete sich langsam und mit unzufriedenem Knarren; die brutalen Monster waren schon da und begannen, Wenjas Kopf gegen die Haltestange zu schlagen.

Sascha hielt sofort die Hände über den Kopf. Mit kräftigen Fußtritten stießen sie Sascha auf die Straße.

Auf der Straße schlugen sie ihn – kraftvoll im Genick gepackt – mit dem Kopf gegen die Tram. In den Augen flogen leichte rote Funken. Es war zu ertragen …

Sie stellten die Jungs als »Wäschespinne« auf – zwangen sie, die Hände hinter den Kopf zu legen, die Stirn gegen das Metallgehäuse der Tram zu drücken, und die Beine maximal weit auseinander zu stellen. Damit es besonders weit war, schlugen sie ihnen auch einige Male gegen die Beine.

Die Sondereinheitler wollten natürlich mehr. Sie hatten die Fliehenden äußerst elegant eingefangen, jetzt kochte rohe Wut in jedem von ihnen[40] – eigentlich sollte jeder Gefangene sofort in Stücke gerissen werden. Nur die neugierigen Gesichter einiger Passagiere, die sich ans Fenster der Tram drückten, hinderten die Häscher daran, die Arme reihenweise auszurenken. Sie traten nervös von einem Bein aufs andere, drückten an den Gummiknüppeln herum, verzogen die Gesichter.

Den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, sah Sascha, dass Wenja und Rogow unweit von ihm standen – breitbeinig wie er selbst.

Der Motor sprang an, und der Bus, der die Gleise versperrte, setzte zurück.

»Na, was jetzt, alle einladen?«, war eine Stimme zu hören. »Eine Revolution, verdammte Scheiße, wir bringen euch schon bei, was das heißt.«

»Was, Hundesohn? Eine Revolution willst du?«, wurde irgendwo in Saschas Nähe gebrüllt, doch es galt nicht ihm, sondern – offenbar – Wenja. »In einer halben Stunde wirst du das rote Blut der Revolution pissen!«

Ein Schlag donnerte nieder, noch einer. Jemand konnte sich nicht gedulden, drehte durch.

Sascha drehte den Kopf Richtung Wenja und erhielt sofort einen heftigen Schlag ins Genick; es war, als stünde jemand hinter ihnen[41] und wartete nur auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.

»Hat man dir nicht gesagt, die Hände hinter den Kopf und nicht bewegen?«

Da kam noch ein weiterer Hund, samt ihm Milizionäre, deren Näherkommen schon aufgrund der immer lauter werdenden, unablässigen Mutterflüche zu erraten war.

Dem Kläffen und Herumgezerre nach zu schließen, konnten sie den Hund kaum zurückhalten. Völlig in sich zusammengesunken wartet Sascha jeden Moment darauf, dass ihm ein Stück vom Schenkel herausgebissen würde.

»Also, was diese Ratten da … aufführen!«, schimpfte einer der Milizionäre, schnaubend und nach Luft ringend. »Die ganze Straße haben sie verschissen … die Geschäfte … Autos … Die sind doch Ungeziefer … Man sollte diese Tiere gleich hier, auf der Stelle, erschießen! … Du, Dreckschwein, was machst du?«, wandte er sich an Wenja, der sich mit dem Kopf gegen die Tram stemmte. »Ha? Dich, du Rotznase, frage ich! Was du machst?«

»Ich stütze die Tram«, antwortete Wenja mit klarer und deshalb unglaublich frecher Stimme. Sascha grinste die rote Seitenwand der Tram an, die die verschwitzte Stirn angenehm kühlte.

»Ach, du …«, hörte Sascha die Stimme des Milizionärs, und da er verstand, dass Wenja jetzt geschlagen würde, schaute er abermals zur Seite. Ein Gummiknüppel, lang wie ein Schlauch, donnerte krachend auf den Rücken des Gefährten.

»Was?«, schrie der Milizionär, der noch immer schwer atmete. »Noch einmal? Was? Nein, antworte du! Nochmal?«

»Geil dich nur auf«[42], antworte Wenja laut, und das klang nicht wie »ja, noch einmal«, sondern wie »Na los, na los, die Zeit kommt schon noch, und dann werden wir schon sehen …«

Hier trat einer von den Teufeln im Kampfanzug hinzu: »Wie sprichst du denn mit dem Onkelchen Milizionär?«

Er trat – als würde er mit einer Sense ausholen – mit seinen riesigen Quadratlatschen in Militärstiefeln Wenja gegen das Knie, der schlagartig und vor Überraschung glucksend umfiel. Und sofort traten sie ihm mit dem Stiefel ins Gesicht.

»He, hört endlich auf!«, schrie Sascha, von sich selbst überrascht.

Offensichtlich hätte er auch etwas abgekriegt, aber die Straßenbahnfahrerin lenkte ab.

»Herrschaften! Bringt die jungen Leute von der Tram weg. Im Waggon sind Kinder. Wir müssen weiterfahren.«

»Semjonitsch, alle nun einladen oder nicht?«, fragte einer.

»Nein. Der Patrouillendienst bringt sie zur Sammelstelle. Wir ziehen noch durch die Höfe.«

Die Sondereinheit lud ein[43], und der Bus, der sich ruckartig von der Stelle bewegte, fuhr weg.

Sie packten Wenja am Kragen. Sascha und Ljoscha forderten sie auf, einen Schritt zurück zu machen. »Noch einen Schritt zurück«. Die Tram knarrte und setzte sich in Bewegung.

Sascha, der unter leichtem Schwindel zu blinzeln begann, schaute zum Himmel.

Wenja und Ljoschka wurden hinterm Rücken Handschellen angelegt …

»Hände zurück!«, wurde Sascha befohlen.

Etwas Kaltes drückte die Hände zusammen.

Sie gingen die Straße hinunter, angetrieben von den Flüchen der Milizionäre. Manchmal heulte ein Schäferhund bösartig auf.

Wenja hob immer wieder den Kopf und versuchte mit feuchtem Pfeifen durch die zerquetschte Nase die Luft einatmend das daraus fließende Blut zu stoppen.

Sascha betrachtete interessiert, was sie und ihre Freunde angerichtet hatten[44].

Sie hatten die Straße ordentlich aufgemischt – es sah aus wie eine umgeworfene Einkaufstüte.

Einige abgerissene und zertrampelte Trikoloren lagen auf dem Boden.

Die Straße war mit Glas übersät, Blumen lagen da, auch eine Menge Dreck, der aus den Mülltonnen herausgefetzt worden war – es sah so aus, als wäre auf der Straße ein Regen aus Glassplittern niedergegangen, aus Mist und Blütenblättern.

Irgendwo lagen Stühle herum, auch die Kette von der Absperrung fand sich.

Alle Straßenlaternen waren zerschlagen.

»Sie haben Jana erwischt«, erriet Sascha plötzlich, als er die pelzgefasste abgerissene Kapuze, von der Fäden herabhingen, am Boden liegen sah.

»Das ist Janas Kapuze. Sie haben sie an der Kapuze gefasst.«

Von Zeit zu Zeit kamen ihnen Leute entgegen, von denen manche mit Interesse, manche voller Schadenfreude die Festgenommenen anschauten.

»Gefangengenommen …«, dachte Sascha ironisch. »Ich bin in Gefangenschaft geraten … Und sie können mich einsperren[45]«, dachte er seinen Gedanken ganz ernst zu Ende.

Das brennende Auto war aus der Entfernung zu sehen. Rundherum hetzten Feuerwehrleute. Aus den Schläuchen kam Wasser, vom Auto stieg schwerer Rauch auf.

»Also, was für eine Scheiße habt ihr da angerichtet!«, konnte sich einer der Milizionäre nicht beruhigen, er war der dickste und sprach kurzatmig. »Für welche Scheiße soll das gut sein? So etwas anrichten, um alles hin zu machen?«

Niemand machte Anstalten, ihm zu antworten.

Ljoscha schaute ruhig geradeaus, und seinem Gesicht war anzumerken, dass er es nicht für notwendig hielt, mit dem Fragenden zu sprechen.

Sascha hätte antworten können, aber die zerschlagene Lippe brannte – und er leckte ununterbrochen Blut.

Wenja schien hingegen nicht einmal die gebrochene Nase aufzuregen, und glucksend fragte er: »Was wurde angerichtet?«

»Das alles, habt ihr das angerichtet?«

»Wer soll das denn angerichtet haben?«, fragte Wenja nach, als würde es ihn ernsthaft beschäftigen.

In diesem Moment schwenkte eine Kamera direkt auf Wenja, und der Milizionär drängte die Journalisten fluchend zur Seite.

»Hör mal, bind mich los, damit ich wenigstens das Blut abwischen kann«, nützte Wenja die Situation aus. »Sonst brummen sie euch Gewalt gegen einen Minderjährigen auf[46]. Meine Nase ist gebrochen. Ich werde Beschwerde gegen euch einreichen[47]

»Ich scheiß auf deine Beschwerde. Verstanden?«, brauste der Milizionär auf. »Schreib nur, das ist mir egal. Ich werde dir auf der Station noch den Arsch aufreißen.«

Wenja spuckte rot aus und verstummte.

Die Jungs des »Sojus Sosidajuschtschich« wurden aus dem Torweg abgeführt – manchmal drei, vier Leute, manchmal gleich zehn auf einmal.

Fast alle Verhafteten waren geprügelt worden, hatten rote, blutige Ergüsse, schwer verkrustete Augen, aufgeschwollene Nasen und zerschlagene Lippen.

Ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ganz blass war, mit zitternden Backenknochen, einknickenden Beinen und einem dicken, schmutzig-blutigen Klumpen im Genick bot einen schrecklichen Anblick. Er wurde am Arm gestützt.

Bei vielen war die Kleidung zerrissen. Man konnte die jugendlichen, dünnen Körper sehen.

Sascha kannte sie alle – wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen[48].

Irgendwer versuchte herumzualbern, aber die Milizionäre brüllten durchdringend, und befahlen, das Maul zu halten[49].

Kurz darauf wurde noch ein ganzer Haufen »in Gefangenschaft« genommen, sechzig, siebzig Personen. Der Großteil war ohne Handschellen.

»Los, unseren nehmen wir auch die Armbänder ab«, sagte der Milizionär mit Atemnot zu seinen Kollegen.

»Wozu?«, fragte einer der Untergebenen.

»Das müssen wir.«

Der Untergebene zuckte verständnislos mit den Schultern, und der Vorgesetze musste es erklären: »Verprügelt haben sie die ›Kosmonauten‹, aber wir müssen sie am Posten abliefern. Der da, bei dem ist vielleicht die Nase gebrochen, das müssen wir dann rechtfertigen. Diese Scheiße braucht keiner. Verstanden? Wir bringen sie zur Sammelstelle – und Tschüss.«

Sie holten Saschka, Ljoschka und Wenja aus der Menge, die sich gebildet hatte, um ihnen die Handschellen abzunehmen. Sie führten sie lange herum, fanden die Schlüssel nicht, und fluchten leise.

Sascha leckte seine Lippe ab. Wenja gelang es nicht, das Blut zu stoppen, es trocknete auf seinem Bart zu einer schwarzen Kruste. Ljoschka beobachtete alles aufmerksam und behinderte sie ganz offensichtlich beim Abnehmen der Handschellen, indem er hin und her ging und die Hände zurückzog.

»Arschloch, steh ruhig!«, schrien sie ihn an. Ljoschka erstarrte.

»Vorwärts, Laufschritt Marsch!«, befahlen sie ihnen.

Die Jungs trudelten im Laufschrit[50]t zu den ihrigen, die – in einer Entfernung von dreißig, vierzig Metern – vorweggingen. Die Festgenommenen wurden von Leuten in Armeemänteln und mit Kappen dicht umstellt.

»Wir müssen abhauen«[51], sagte Ljoschka leise, als sie sich von den Männern vom Patrouillendienst, die die Handschellen in ihre Gürteltaschen packten, entfernt hatten.

»Probieren wir’s«, antwortete Wenja.

»Los«, sagte Sanja, und sie tauchten – als könnte es gar nicht anders sein – leicht und frei – in die nächste Gasse ab, auf halber Strecke zu den Gefangenen, die schon in einer Kolonne zusammengetrieben waren.


Als sie an Geschwindigkeit gewonnen[52] hatten, hatte Sascha ein Gefühl, als würde er auf einer Schaukel immer höher und höher gezogen und schließlich losgelassen.

In der Nähe blitzte eine Rasenfläche auf (fast wäre er hingefallen, er stützte sich mit den Händen wie ein Affe ab, riss sich die Handfläche am Schotter auf, was für ein Schotter, woher?), ein Fenster, noch eins; ein Kinderwagen, eine Frau, die ihn schiebt (die vor Wenjas vertrocknet-blutiger Visage zurückschreckte) und um die Ecke bog, ein aus dem Hof fahrendes Patrouillenauto der Miliz (»… nicht bemerkt? Hätten ihnen direkt … in die Hände laufen können …«), eine Bank (warum auch immer quer über die Straße), ein Zaun (»Komm nicht drüber … zu hoch«).

Sekündlich schien ihm, die Bewegung der Schaukel müsse jetzt, gleich jetzt ihren Höhepunkt erreichen, und ihn jemand am Genick packen und zurückreißen, unaufhaltsam.

… Sascha sprang von der Mauer und fiel, überschlug sich.

»Wirklich, es ist sehr hoch, wie bin ich da hinauf …«

Daneben fiel – warum auch immer auf allen vieren – Wenja herunter, mit seinem schwarzen, struppigen und blutigen Bart.

Nur Rogow stand auf den Beinen, setzte sich und richtete sich sofort wieder auf.

Rogow fasste Wenja am Kragen, der stampfte mit den Beinen – stand auf und lief weiter.

Hustend und schnaubend – lange, zähe, süß-saure Speichelfäden hinter sich herziehend – stürmten sie durch die Höfe, bis sie keine Kraft mehr hatten und sich völlig erschöpft im Eingang einer »Chruschtschowka«* verstecken konnten.

Sie knieten auf allen vieren, mit trüben Augen, geschlossenen Mündern, versuchten vergeblich zu atmen. Aus dem Mund troff Speichel. Jemand betrat den Eingang, aber es war ihnen nicht peinlich …


»Sohn, du …warst in Moskau?« Mutters Stimme klang durch das Telefon verzweifelt und traurig.

Sascha hätte am liebsten sein Gesicht zerkratzt, als er diese Stimme hörte.

»War ich«, antwortet er dumpf, und zog dabei die zerschlagene Lippe hoch, weshalb das Wort »war« wie »ar« klang.

»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben«[53], sagte seine Mutter, und in ihrer Stimme klang noch die Hoffnung durch, dass Sascha sie umstimmen könnte, sagen würde, all das sei nicht wahr und er habe nichts Schlimmes gemacht.

»So … ein Unsinn …«, antwortete er.

1

Здесь и далее см. прим. перев.

2

vor Aufregung rot angelaufene Gesichter – покрасневшие от возбуждения лица

3

mit voller Wucht und mit einem Hieb – с полной силой и наповал

4

verkaterte – похмельный

5

… dessen Augen wie ein verkochter Pelmen aufgequollenen waren – … глаза которого распухли, словно переваренные пельмени

6

»Wie Aussätzige zusammengetrieben …«  – «Как прокаженных собрали … »

7

wirkten elend und armselig – казались жалкими и бедными

8

die Schirmmütze – фуражка

9

In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz vergangen waren, … – за годы, минувшие после буржуазного переворота

10

Freilich – Правда

11

so sonderbar das klingen mag – как ни странно

12

ein kluger Kopf – умница

13

bunt zusammengewürfeltes Jungvieh – разношерстный молодняк

14

Damit es nicht ausbrach  – Чтобы не разразилось

15

einige Dutzend Knallkörper – несколько десятков петард

16

unten leicht ausgestellte Jeans – слегка расклешенные внизу джинсы

17

in Untersuchungshaft  – под следствием

18

sie waren nervös in Formation angetreten – они выстроились нервными рядами

19

seit je – во все века

20

»Gottlose!« – «Нехристь!»

21

sich in Bewegung setzten – прийти в движение, начать двигаться

22

die Gespräche der Miliz über Funk – переговоры милиции по рациям

23

antworteten im Echo siebenhundert Kehlen – эхом откликнулись семь сотен глоток

24

Herrschaften – Господа

25

»Ihr sprengt die Demonstration!« – «Вы срываете демонстрацию!»

26

am Ärmel packen – схватить за рукав

27

die Sondereinheit – спецназ

28

»Wir sind irr, wir machen euch platt!« – «Мы сумасшедшие, мы вас сделаем!»

29

niederdonnern lassen – обрушить

30

die Sondereinheitler – спецназовцы

31

Flüche in seine Richtung ausstießen – посылали проклятия в его адрес

32

bündelweise schnappen – хватать в охапку

33

Auge in Auge – один на один

34

sie segelte – (зд.) она полетела

35

jdm. in die Quere kommen – вставать у кого-либо на пути

36

»Die Bullen!« – «Менты!»

37

sich blöd stellen – прикидываться дураком

38

die Sackgasse – тупик

39

unter Mühen – с трудом

40

… kochte rohe Wut in jedem von ihnen – дикая ярость кипела в каждом из них

41

als stünde jemand hinter ihnen – словно кто-то стоял за ними

42

»Geil dich nur auf« – «Позабавься!»

43

Die Sondereinheit lud ein – спецназовцы загрузились

44

was sie und ihre Freunde angerichtet hatten – что они и их друзья натворили

45

Und sie können mich einsperren. – И они могут меня посадить.

46

aufbrummen – (зд.) приписать

47

eine Beschwerde einreichen – подать жалобу, (зд.) написать заявление

48

wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen – если не по имени, то по меньшей мере в лицо

49

das Maul zu halten – закрыть рот, заткнуться

50

im Laufschritt – бегом

51

»Wir müssen abhauen« – «Надо валить»

52

an Geschwindigkeit gewinnen – набирать скорость

53

»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben« – «Вы все в розыске!»

Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке

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