Читать книгу Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке - Захар Прилепин - Страница 4
Kapitel 3
ОглавлениеZu Hause auf dem Tisch lag noch immer sein Zettel.
Mama, die nicht wusste, wohin und für wie lange er weggefahren war, hatte ihm eine Antwort darauf geschrieben: »Irgendwelche in Zivil[80] mit roten Ausweisen und der Revierinspekto[81]r sind gekommen was tust du denn Sohn.«
Das Geschriebene war ohne Satzzeichen, weshalb Sascha die bittere Intonation der Mutter noch deutlicher auffiel. Er schob den Zettel aus seinem Blickfeld.
Sascha hielt ein angezündetes Streichholz an den Herd, hob den Wasserkessel automatisch zum Feuer, weil er schon an dessen Gewicht erkannt hatte, dass genügend Wasser drin war, versuchte zu entscheiden, was jetzt zu tun wäre; mit dem Wasserkessel in der Hand erstarrte er, als es an der Tür klingelte.
Er hatte einen Schwächeanfall, ihm wurde übel, saurer alter Speichel floss in seinem Mund zusammen, die fast abgeheilte Lippe begann wieder zu brennen.
Die Wohnung lag im vierten Stock, weshalb er nicht durchs Fenster fliehen konnte.
»Und wenn ich sie einfach nicht reinlasse?«, schoss es ihm durch den Kopf. »Nein, sie wissen, dass ich hier bin. Wahrscheinlich haben sie mich nach Hause kommen sehen … Na und, die Tür werden sie ja wohl nicht aufbrechen? Dafür brauchen sie irgendeine Erlaubnis … Oder hat der Revierinspektor das Recht dazu? Wenn die Staatssicherheit mit dem Revierinspektor kommt, brechen sie die Tür gleich auf … Warum haben sie mich eigentlich nicht auf der Straße geschnappt?«
Schließlich stellte Sascha den Wasserkessel vorsichtig auf das Feuer und ging auf Zehenspitzen zur Tür.
Er stand da, lauschte. Es war still.
Nach einem kurzen Knacken ertönte noch einmal die Klingel, so laut, dass das Geschirr im Schrank klirrte.
Sascha machte einen entschlossenen Schritt nach vorne und schaute durch das Guckloch.
Auf der anderen Seite stand Negativ, ein junger, siebzehnjähriger Bursche aus der lokalen Abteilung des »Sojus Sosidajuschtschich«.
»Hallo«, sagte er, als er Sascha am Guckloch sah.
»Bist du allein?«, fragte Sascha mit gedämpfter Stimme.
»Allein.«
Sascha öffnete die Tür. Negativ trat ein und drückte ihm die Hand, wie immer dabei seitlich nach oben schauend, als würde er etwas suchen; diesmal war es wohl die Deckenlampe, an der sein angewiderter Blick hängenblieb.
»Du musst das Licht im Vorzimmer abdrehen«, sagte er mürrisch. »Sonst sieht man, wenn du durchs Guckloch schaust.«
Negativ war fünf Jahre jünger als Sascha, ein Unterschied, der aber kaum zu merken war, vermutlich deshalb, weil der im Internat aufgewachsene Negativ ein rationaler und harter Typ war, für sein Alter ziemlich kräftig, wenn auch nicht sehr groß.
Ein Schneidezahn war ausgebrochen, was Negativs ohnehin nicht gerade freundlichem Gesicht mit der niedrigen Stirn und den weit auseinander stehenden Augen noch mehr Härte verlieh.
Er wurde Negativ genannt, weil er ständig mit allem und jedem unzufrieden war. Er war kein Nörgler, eher ein Dickkopf, mit eigenen und eindeutigen Vorstellungen vom Leben. Seine schweigsame Unzufriedenheit war wenig jugendlich düster, oft wirkte sie wie Gleichgültigkeit, was sie aber nicht war.
Er lächelte nicht, und schon gar nicht lachte er. Fast nie. Äußerst selten.
»Woher weißt du, dass ich zu Hause bin?«, fragte Sascha.
»Ich wusste es nicht, bin einfach so gekommen«.
»Wie geht’s euch?«, fragte Sascha laut, der sofort in die Küche ging.
»Na, ihr habt da ja was geliefert in Moskau.« Negativ beantwortete die Frage nicht. »Ich hätte auch hinfahren sollen. Sehr schön. Hast du dich in der Glotze[82] gesehen?«
»Mich?« Sascha schaltete den nervig wackelnden Teekessel aus und drehte sich zu Negativ um, der die Schuhe ausgezogen hatte und in die Küche gekommen war.
»Du hast das nicht gesehen? Am Anfang hat man dich in der ersten Kolonne sehen können, und einer von euch hat einen Bullen mit einem Knüppel bearbeitet, dann rennen alle weg, Schaufenster klirren, ein Bulle liegt auf dem Boden, und du springst auf seine Kappe. Tolle Aufnahme. Warum nur auf die Kappe, denk ich mir? Wenn du ihm gleich auf den Kopf gesprungen wärst? Ha?«
Sascha erschrak. Es ist nicht sehr angenehm, wenn einige tausend, vielleicht sogar hunderttausend Menschen deine … Späße … gesehen haben.
»Und bin ich dort gut zu erkennen?«, fragte Sascha leise mit heiserer Stimme.
»Na ja, nicht sehr … Ich hab dich aber erkannt … Darf ich rauchen?«
Sascha schaute Negativ eine Zeitlang an.
»Rauch nur. Und gib mir auch eine …«
»Hör mal, deine Freunde sind gekommen«, fuhr Negativ fort und nahm einen tiefen Zug[83].
»Welche Freunde denn?« Sascha zündete sich auch eine Zigarette an und starrte Negativ wieder an.
»Der Moskauer Wenja und Rogow aus Sibirien.«
Wieder erschrak Sascha, diesmal etwas weniger.
»Was für ein Teufel hat die denn geritten?«
»Sie sagen, dass sich jetzt alle in Moskau verkriechen[84], sie durchsuchen unsere Löcher. Wenja ist sowieso obdachlos und weiß nicht, wo er leben soll, und Rogow sagte, dass er ein bisschen Angst hat, mit dem Zug nach Sibirien zu fahren; man muss den Pass zeigen, wenn man die Fahrkarte kauft; stattdessen mit der Elektrischka zu fahren … das verstehst du ja wohl: Man wird verrückt, bis man ankommt. Deshalb sind sie …« – Negativ nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch aus und verfolgte ihn mit den Augen – »deshalb sind sie zu uns gekommen. Warum bist du so aufgeregt?«
»Die Bullen waren schon zwei Mal bei mir.«
»Du hast sie nicht reingelassen?«
»Nein, ich war nicht da. Sie sind zur Mutter gekommen.«
»Und zu mir«, sagte Negativ.
»Und – was war?«
»Ich hab ihnen nicht aufgemacht. Sie haben zwei Stunden lang geklopft und sind dann gegangen.«
»Und du hast in dieser Zeit mäuschenstill dagesessen.«
»Nein, wir haben uns durch die Tür herzlich unterhalten. Sie haben versprochen, dass sie mir den Arsch aufreißen und mich vermodern lassen.«
Sascha schaute Negativ an und wusste – wie schon so oft zuvor – dessen großen, glasklaren und ungeheuchelten Mut zu schätzen. Negativ fürchtete sich tatsächlich nicht davor, geschlagen zu werden, auch nicht brutal geschlagen zu werden; Drohungen waren ihm absolut egal. Er war schon mehrere Male mit Schlagstöcken verprügelt worden, weil er mit schwarzer Farbe Sprüche wie »Gouverneur, krepiere!« auf die Mauern der Gebietsverwaltung geschmiert oder eben diesem Gouverneur eine Torte ins Gesicht geschmissen hatte. Etwa vor einem halben Jahr hatten sie ihn gefesselt und zwei Tage lang versucht, aus ihm Aussagen über seine Kumpel heraus zu dreschen; eine Woche davor hatte die lokale Abteilung des »Sojus Sosidajuschtschich« das Büro der Scientologen mit Molotow-Cocktails angezündet.
Die Feuerwehr war rechtzeitig zur Brandstelle gekommen, aber es wurde zum großen Skandal. Nach zweitägiger Folter ließen sie Negativ laufen. Beim Essen, Anziehen und Schnürsenkelbinden musste ihm sein jüngerer Bruder Posik eineinhalb Monate lang helfen. Seinen Namen hatte er, weil er das vollkommene Gegenteil von Negativ war, ein gerissener elfjähriger Junge mit ständigem Grinsen auf dem frechen Maul, der jüngste der lokalen »Sojusniki«* …
Ja, sie nannten sich »Sojusniki«. Dieses anfangs sinnlose Wort bekam mit der Zeit Gewicht, Klang und Bedeutung.
Übrigens wurden sie von den Journalisten mit flinker Feder[85] oft als »SSler« bezeichnet – nach den beiden Anfangsbuchstaben der Partei, und bisweilen titulierte man die Mitglieder des »Sojus«, wenn man sie erniedrigen oder auf ihr jugendliches Alter hinweisen wollte, als »Milch- und Schwanzlutscher«[86].
Negativ verriet keinen der »Sojusniki«, auch sich selbst nicht. Immerhin hatte ja er den Molotow-Cocktail geworfen. Und natürlich nicht allein.
»Die Tür wollten sie aber nicht auf brechen?«, fragte Sascha und schaute auf Negativs Zahnlücke, die er bei einem blöden Streit davongetragen hatte.
»Nein, das wollten sie nicht.«
»Und warum hast du nicht aufgemacht?«
Negativ blickte Sascha entnervt an.
»Haben sie dir ihn Moskau auf den Schädel geschlagen? Ich sagte doch schon, Wenja und Rogow sind bei mir. Zuerst lagen sie unter dem Diwan. Dann haben wir Wenja in einen Teppich gewickelt und in eine Ecke gestellt, und Rogow ist in einen Schrank gekrochen … wir haben uns ganze zwei Stunden lang amüsiert.«
Sascha trank den Tee rasch aus. Eigentlich hatte er essen wollen. Jetzt nicht mehr.
»Wo sind sie?«, fragte er.
»Sie sitzen im Café gegenüber. Trinken zu zweit eine Tasse Kaffee. Gehen wir?«
Sascha holte Geld aus dem Versteck, ein Stück Käse, Zwiebeln vom Dorf, Brot und eine Konservendose, wollte zurück, um der Mutter einige Worte zu schreiben, und ließ es dann doch bleiben. Noch mal schreiben, dass »alles in Ordnung« sei. Mehr als »in Ordnung« gibt es nicht.
»Aha, da sind sie!« Sascha merkte plötzlich, dass er sich sehr freute, Wenja, der mit seiner nicht abgeheilten Nase noch immer schniefte, und den langen Ljoschka zu sehen. Er umarmte sie beide.
Man muss jetzt etwas unternehmen, die Jungs irgendwo unterbringen.
Sascha traute sich nicht, Bekannte von zu Hause aus anzurufen – das Telefon wurde abgehört, so hatte er schon einmal eine Aktion der Partei vergeigt.
Und er hatte auch keine Bekannten, bei denen sie zu dritt hätten übernachten können.
»Und nicht einmal ich allein«, dachte Sascha plötzlich verwundert, ohne dass es ihn traurig machte.
Es hatte sich in den letzten Jahren so ergeben, dass sich Saschas Gesprächspartner auf die Parteigenossen beschränkten. Nicht, dass er für andere Freundschaften keine Zeit hatte, obwohl, nein, er hatte keine Zeit, aber das Wichtigste war, dass er sie schon nicht mehr brauchte, warum auch, es war nicht interessant.
Es würde sich auch nicht lohnen, in die Wohnungen lokaler »Sojusniki« zu gehen – und zwar aus ganz offensichtlichen Gründen: Jederzeit könnten welche in Zivil hereinplatzen.
Auf der Straße begann es zu nieseln – dennoch verließen sie das verrauchte Café mit der lästigen Musik und den unverschämten Preisen und marschierten fröhlich hinaus – schwelgten in Erinnerungen und übertrumpften einander damit, was in Moskau nicht alles geschehen war …
Negativ hörte interessiert zu, manchmal blickte er dem, der gerade sprach, aufmerksam ins Gesicht.
Sie blieben an einem Kiosk stehen, Sascha kaufte eine Flasche Wodka und drei Plastikbecher – Negativ trank nicht, weil ihn der Alkohol immer zum Tier werden ließ.
Rogow erhob keinen Protest gegen den Kauf, Wenja zeigte sich erfreut.
Sie gingen auf einen Kinderspielplatz, auf dem Sascha in seiner frühen Jugend viele Stunden verbracht und unterschiedlich starken Alkohol ausprobiert hatte, um seine mehr oder auch weniger gefügigen Altersgenossinnen genauer zu untersuchen.
Sie setzten sich auf ein Spielzeughäuschen, Sascha holte Käse und Brot aus der Tasche.
»Nur ein Messer haben wir keins«, sagte er und drehte eine Konservenbüchse in der Hand.
Rogow zog schweigend ein Federmesser aus dem Rucksack. Geschickt öffnete er die Büchse.
Sie schenkten ein, stießen an …
Bald fühlten sie sich wohl, nur die Arschbacken wurden auf der feuchten Bank kalt. Sascha stand immer wieder auf und ging herum, Rogow legte sich den Rucksack unter, Wenja war es offenbar egal.
Negativ setzte sich nicht, er hörte zu. Er nahm ein Stück Käserinde, nagte immer wieder ein kleines Stück davon ab und kaute langsam.
»Da, nimm.« Sascha gab ihm ein Stück Käse.
Negativ nahm es. Er wartete, bis alle das Gespräch fortsetzten und legte es dann unbemerkt zurück.
»Wie viele haben sie genau geschnappt, weiß das jemand?«, fragte Sascha.
»Dreiundneunzig Personen, hieß es in den Nachrichten«, antwortete Negativ, allerdings erst, nachdem Wenja und Rogow mit den Schultern gezuckt hatten. Negativ beeilte sich nie, als Erster zu antworten.
»Was wird ihnen vorgeworfen?«
»Fast alle haben administrative Strafen bekommen. Je fünfzehn Tage.«
»Was sind sie denn so … gnädig …«, wunderte sich Wenja, der das Wort »gnädig« von irgendwo hergeholt hatte, ein Wort, das ganz und gar nicht zu seinem Wortschatz passte.
»Kannst du dir vorstellen, was für ein Prozess das gegen dreiundneunzig Personen sein soll? Die ganze Welt wird das erfahren. Das brauchen die doch nicht einmal im Arsch …«, meinte Sascha.
»Trotzdem werden sie zur Abschreckung fünf einsperren«, sagte Rogow.
Im »Sojus« wunderte man sich schon lange nicht mehr über neue Knastgänger[87] – mehr als vierzig Personen waren schon erwischt worden und saßen hinter Gittern. Diese Liste wurde nie kürzer, kamen die einen raus, saßen andere ein. Bezeichnenderweise waren fast alle Häftlinge »Terroristen mit Samtpfoten«[88] – sie hatten Eier geworfen, oder bekannte und unangenehme Personen mit Mayonnaise überschüttet. Trotzdem bekam man für ein beschädigtes Sakko einige Monate, vielleicht sogar ein Jahr Gefängnis.
Die einzig echte Strafe hatte ein Kerl aus der Ukraine erhalten, der sich mit Expropriation beschäftigt hatte und zehn Jahre verschärftes Lager bekam.
Sie schwiegen einen Augenblick, bedauerten die Jungs, zumindest Sascha wusste genau, dass sie ihm leid taten, auch bei Ljoschka und Rogow war eine Portion Bruderliebe und Mitleid zu spüren. Was Negativ und Wenja betrifft, so war bei ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nicht alles ganz so eindeutig.
Negativ empfand eher etwas wie Ärger, der in soliden, unaufgeregten Groll überging, und dieser Ärger war gegen alle gerichtet, die in seinem Land die Macht repräsentierten – vom Milizionär an der Straßenecke bis zum Herrn Präsidenten.
Wenja war all das scheißegal, dachte Sascha. Und scheißegal war es ihm vermutlich nicht deshalb, weil sich Wenja nie selbst leid tat. Der Grund war vielmehr – Wenja nahm das Gefängnis absolut gelassen, er war immer darauf gefasst, reinzukommen, wenn er sich auch nicht gerade darum riss. Das ergab, wenn man zusammenrechnet, wie oft Wenja schon fünfzehn Tage bekommen hatte, insgesamt eine ganz schöne Zeit.
Doch sie schwiegen alle …
Sie schenkten ein, stießen ein letztes Mal an.
»Wir haben’s einmal gemacht und werden es wieder machen!«, sagte Sascha, in dessen Worten nicht das geringste Pathos lag. Rogow nickte, Wenja lachte auf, Negativs Gesicht konnte Sascha nicht sehen.
Sie tranken rasch aus, schnupperten an den Ärmeln* und gingen weiter. Rogow sammelte den Müll in einer Plastiktüte und trug ihn zum Abfalleimer.
Sascha überlegte, wo man noch drei weitere Stunden verbringen konnte.
Ruhig und gut gelaunt gingen sie zum Gebäude der Universität. Sascha befahl allen, das Außenseiter-Gegrinse abzulegen und die offenen Gesichter von tagtäglichen Besuchern einer höheren Lehranstalt aufzusetzen – entweder von Studenten höherer Semester oder von Doktoranden. So kamen sie auch beim Wärter vorbei, der mit ernster Miene die Lippen zusammengepresst hielt. Rogow, natürlich ruhig, weil er kein Gesicht aufsetzen musste, sondern seines behielt, Negativ, der sich zur Seite gedreht und das Kinn im Jackenkragen verborgen hatte, und Wenja, der durch die Anspannung der Gesichtsmuskeln plötzlich dumm aussah.
Den Philosophiedozent Aleksej Konstantinowitsch Besletow kannte Sascha schon lange. Die Bekanntschaft zwischen Sascha, der nirgendwo studiert hatte, und dem Dozenten der Geisteswissenschaft war leicht zu erklären: Besletow war ein Schüler seines Vaters.
Sascha war ungefähr vierzehn, als er den jungen, schmalen Besletow, der damals knapp über zwanzig gewesen war, zum ersten Mal gesehen hatte.
Besletow hatte sie einige Male besucht, spielte lange mit seinem flauschigen Schal, den er mehrfach um seinen Hals gewunden hatte. Dann wurde Tee getrunken. Der Vater und er besprachen etwas, der Vater ruhig, Besletow zuckte manchmal mit den Schultern, als würden sie unter seinem Hemd abbröckeln. Der Vater achtete nicht darauf.
Der Vater war überhaupt sehr ruhig, er sprach niemals über Politik, obwohl die wirre oder vielmehr dumme und daher noch widerwärtigere Zeit das durchaus begünstigt hätte.
Dass Besletow äußerst liberale Ansichten vertrat, erfuhr Sascha erst viel später. Und er war sich bis heute nicht im Klaren darüber[89], was er davon halten sollte, dass der Vater niemals über »Umbrüche« und »Schicksale« gestritten hatte. Wie ließ sich das erklären? Doch nicht mit Gleichmut …
Besletow war der einzige von Vaters Freunden und Bekannten, der mit ins Dorf zum Begräbnis gefahren war.
Während des Begräbnisses gingen Sascha und Besletow zum »Du« über[90], sahen sich dann aber einige Jahre nicht, und in dieser Zeit verlor sich die kurzfristige Nähe wieder. Ihre Bekanntschaft wurde erneuert, als sich ganz unverhofft herausstellte, dass Saschas Freundin bei Aleksej Konstantinowitsch Philosophie studierte. Sie fragte Sascha, als sie sich einmal nach dem Unterricht vor dem Hörsaal trafen:
»Kennst Du eigentlich Aleksej Konstantinowitsch, der bei uns Philosophie unterrichtet?«
Im selben Moment gab Sascha Besletow die Hand und beschloss, wegen dessen zupackendem Händedruck sowie der lehrerhaften Körperhaltung zu vergessen, dass sie per Du waren.
»Ja, Aleksej Konstantinowitsch und ich … wir sind miteinander bekannt.«
Einige Male begegneten Sascha und Besletow einander auf dem Gang der Universität und tauschten im Vorbeigehen einen Händedruck aus, bis Sascha sich mit seiner Freundin aus einem banalen und längst vergessenen Grund zerstritt und Besletow abermals für eine Weile aus den Augen verlor.
Vor kaum mehr als einem Monat gab es eine lokale Veranstaltung des »Sojus« und Sascha traf unmittelbar nach dem Ende der wie immer lautstarken und mit Provokationen gespickten Aktion mit Besletow zusammen.
»Ich habe beobachtet, wie ihr dort … herumschreit«, sagte Besletow sanftmütig und mit professoralem Lächeln.
Sascha empfand wegen seiner sozusagen politischen Einstellungen schon lange keine Hemmungen mehr. (In Wirklichkeit ging es ihm niemals nur um Politik, sondern um das, was vielleicht den einzigen Sinn seines Lebens ausmachte.) Dieses Mal verspürte er jedoch ein leises Gefühl von Peinlichkeit. Vielleicht wegen seiner rauen Kehle, die gerade erst gebrüllt hatte: »Präsident, hau ab!« Vielleicht auch wegen seiner tiefsitzenden Verbitterung, die ihm immer noch ins Gesicht geschrieben stand. Er war nur zu vertraut mit der groben Miliz, die sie unverständlicherweise dieses Mal nicht hochgenommen hatte: Normalerweise schleppten sie die »Sojusniki« am Ende einer Demonstration auf die Wache, wo diese zum hundertsten Mal fotografiert und ihnen »die Finger abgenommen«[91] wurden.
Kurz gesagt, Sascha gelang es nicht, sich umzustellen, und er sah Besletow mit einem mühsam erzwungenen sonderbaren Lächeln an.
Dieser brach plötzlich in ein gutes, weil jugendliches und ehrliches Lachen aus und sagte: »Ihr werdet’s schwer haben.«
Besletow hatte Sascha eingeladen, zur Uni zu kommen, um miteinander zu sprechen (»Kannst auch Freunde mitbringen …«), und er hatte das so getan, dass Sascha tatsächlich kommen wollte.
Es gab neben der gütigen Aufrichtigkeit von Besletow noch andere Gründe für einen Besuch.
Saschas Vater war ein gebildeter Mensch – fast ein Professor, aber Sascha fühlte sich immer wie ein Straßenköter. Vielleicht, weil er nicht studiert hatte und die richtigen Bücher erst nach der Armee zu lesen begonnen hatte, vor der ihn auch die Mutter, eine im Grunde einfache Frau, nicht hatte bewahren konnte.
Vielleicht fehlte es Sascha an Sicherheit, weil der Vater sich nie mit ihm beschäftigt hatte, er sprach sogar selten mit seinem Sohn. Es war so: Der Vater brauchte den Umgang nicht, und Sascha drängte sich nicht auf, vielleicht war’s auch umgekehrt: Der Vater drängte sich nicht auf, und Sascha brauchte den Kontakt damals nicht.
Aber seit Kurzem zog es Sascha zu Menschen, die die Welt scheinbar besser verstanden – zumindest mithilfe jener gedruckten Quellen, bis zu denen Sascha es nicht geschafft hatte.
Besletow hob die Augen oder genauer – er zog die Brauen hoch.
Mit seinen Allüren erinnerte er immer mehr an einen pathetischen Theaterschauspieler.
»Sascha?«
»Wir sind einfach so gekommen.«
»Ach ja, ich hatte dich eingeladen, ich erinnere mich …«
Sie standen im Gang. Besletow schüttelte allen die Hand, schaute die Ankömmlinge dabei aufmerksam an und lächelte nicht. Er war nicht groß, hatte glatte dunkle Haare und runde Schultern. Früher, konnte sich Sascha erinnern, mühte sich Besletow die ganze Zeit mit seinem Gesicht ab, als wäre er ständig auf der Suche nach der richtigen Emotion und dem genauen Wort. Jetzt war er ruhig, und seine Wangen hingen ein wenig herunter, wodurch der Gesichtsausdruck leicht angewidert war.
»Wisst ihr, ich schließe das Institut gerade«, sagte er. »Hier gegenüber gibt’s ein billiges und ruhiges Café. Vielleicht setzen wir uns dorthin? Auf eine Tasse Tee?«
»Gehen wir«, stimmte Sascha zu, obwohl er nicht mehr sehr viel Geld hatte.
»Ich schaue noch im Dekanat vorbei und … komme gleich …«, versprach Besletow. Die Jungs gingen wieder an dem strengen Wärter vorbei und waren zwei Minuten später im Café. Es war halbleer, und die Musik spielte tatsächlich leise. In der Ecke flimmerte ein Fernsehgerät. Auf dem Bildschirm waren Männer in Helmen und auf Motorrädern zu sehen. Sie fuhren im Kreis, fielen oft hin und wirbelten in den Kurven Dreck auf.
Die Karte wurde gebracht. Sascha hob das erste Blatt des in Leder gebundenen Heftes mit dem Zeigefinger an und wusste schon, dass er nichts bestellen würde.
»Ich habe noch Geld«, sagte Rogow. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber die Frage hing in der Luft. Natürlich hob sich bei allen die Stimmung.
»Ein Bier?«, fragte Rogow.
»Ich nicht«, sagte Negativ.
»Tee?«
»Ich will nichts.« Negativ verstand es, so abzulehnen, dass niemand mehr etwas vorschlug.
Alle begannen zu rauchen und sahen sich um.
Besletow kam bald, streng, in einer kurzen Jacke, mit einer Aktentasche.
Als er die Jacke auszog, bemerkte Sascha Besletows beginnenden Bauchansatz.
Er setzte sich schweigend, stellte die Aktentasche neben den Stuhl, nahm seine Zigaretten raus.
»Er hat keine Bartstoppeln«, fiel Sascha plötzlich auf – »ein weißes Gesicht. Ein kluges und vermutlich schönes Gesicht. … Und wie er die Brauen zusammenzog …«
Ohne dass man ihr Kommen gehört hätte, stand die Kellnerin vor ihnen, Besletow bestellte Kaffee.
Die Pause zog sich in die Länge.
Sascha schwieg absichtlich – ihm gefiel das ganze Treffen schon nicht, als sie noch in der Universität waren.
»Was schaut er so?«, dachte er und sah in Besletows Gesicht. »Hab ich etwa Geld von ihm geliehen?«
»Macht ihr immer noch Radau?«, fragte Besletow, der seine Zigarette angezündet hatte und Saschas eindringlichen Blick spürte.
»Was bleibt sonst übrig?«, antwortete Sascha rhetorisch. Er hatte sofort verstanden, dass es um die Moskauer Krawalle ging.
Besletow zog kräftig an der Zigarette und dankte – den Rauch dabei anhaltend – mit leicht gepresster Stimme der Kellnerin für den Kaffee.
»Denkt ihr, dass das, was ihr da angefangen habt, gut ist? Richtig?«
»Gut und richtig«, antwortete Sascha. Besletow zuckte mit den Schultern.
»Und welchen Sinn hat das?«
»Das ist eine sehr lange Frage.«
»Es ist eine geradezu kurze Frage … Gut, ihr verlangt: ›Gebt uns eine nationale Idee…‹«
»Wie der jetzt redet…«, dachte Sascha schnell und unterbrach Besletow sofort.
»Wir bitten um nichts. Ich bitte um nichts. Ich bin Russe. Das reicht. Ich brauche keine Ideen.«
»Ich bin Russe«, äffte Besletow düster nach. »Und was macht ihr mit den Nicht-Russen?«
»Hören Sie, Aleksej Konstantinowitsch, verdrehen Sie hier nichts[92] … Niemand wird die Nicht-Russen irgendwo hintun[93], Sie wissen das ganz genau.«
»Und warum, Sascha, beginnst du dann sofort mit den Worten ›Ich bin Russe‹?«
»So ist das also«, dachte Sascha abermals, »er ist mit mir per Du, aber ich mit ihm …«
»Ich beginne nicht …«, erwiderte Sascha. »Ich sage nur, dass ich keine nationalen Ideen brauche. Verstehen Sie? Ich brauche weder eine ästhetische noch eine moralische Begründung dafür, meine Mutter zu lieben oder mich an meinen Vater zu erinnern …«
»Ich verstehe. Aber warum bist du dann in diese … in eure Partei eingetreten?«
»Sie braucht auch keine Ideen. Und keine Heimat.«
»Ach nein, alle diese Wörter, mal ›Russe‹, mal ›Heimat‹. Bitte nicht.«
»Den Namen nicht beschmutzen, nicht wahr?«, sagte Sascha versöhnlich. »Ich bin einverstanden.«
»Was heißt zum Teufel ›nicht beschmutzen‹?« Besletow wurde wütend. »Ihr habt doch gar keine Beziehung zur Heimat. Und die Heimat keine zu euch. Es gibt keine Heimat mehr. Es ist vorbei, sie hat sich aufgelöst! Und noch viel weniger zahlt es sich aus, irgendjemand mit allen euren Widerwärtigkeiten zu provozieren, mit dem Zertrümmern von Fenstern, irgendwelcher Visagen und was ihr noch so zerschlagt …«
»Besser, leise zur Seite treten[94]«, antwortete Sascha in Besletows Ton, nur um einen Halbton tiefer.
»Besser, leise zur Seite treten, als sich der Niedertracht hinzugeben.«
»Besser leise in eine andere Welt hinübergehen«, sagte Sascha.
»Ja, stell dir vor. Das ist besser. Vor Gott ist das besser. Alle eure Demonstrationen und euer Fahnenschwenken – das hat schon lange keinen Sinn mehr. Ihr werdet gar nichts ändern. Aber wenn ihr damit anfangt, Blut zu vergießen … wenn ihr nicht schon damit begonnen habt…« – hier erhob Besletow abermals seine Stimme, »dann …«
Besletow zog an der Zigarette und drückte sie dann wütend aus, als wollte er einen ekligen Wurm zermalmen.
Alle saßen stumm da. Wenja bohrte mit einem Zahnstocher Löcher in die Zigarettenpackung, Negativ schaute zum Fernseher. Rogow sah auf die Tischplatte und wippte unter dem Tisch mit dem Bein.
»Und Ihnen, Ihnen gefällt das alles?«, fragte Sascha, der äußerst ruhig geworden war, in den Rhythmus des Gespräches gefunden hatte und Besletow interessiert musterte.
»Du willst nicht verstehen, Sascha. Hier gibt es nichts mehr, was einem gefallen könnte. Hier ist nur noch eine Leerstelle. Hier gibt’s nicht mal einen ›Boden‹. Kein Vaterland, kein Land, an dem der Staat – wie es jetzt so modern heißt – geo-po-li-tisch interessiert wäre. Und einen Staat gibt es auch nicht.
»Auf diesem Boden lebt aber das Volk«, sagte Sascha, der keinen Streit sondern verstehen wollte, wovon Besletow sprach.
»Dein Volk« – er sprach das Wort »Volk« in die Länge gezogen aus – »ist unzurechnungsfähig[95]. Um sich davon zu überzeugen, reicht es, sich ein beliebiges Gespräch in einem öffentlichen Verkehrsmittel anzuhören … Denkst du, dass dieses Volk, das zur Hälfte aus Rentnern und zur andern aus Alkoholikern besteht, einen Boden braucht?«
»Die am Leben sind, brauchen ihn.«
»Es gibt nicht genug Lebende für diesen Boden.«
»Genug.«
Besletow schaute Sascha ironisch an, bewegte sich nicht, um Wenja vorbeizulassen, der offenbar zur Toilette wollte; kaum hatte sich Wenja vorbeigedrängt, sagte er: »Lieber Sascha, darum geht es nicht.«
Sascha fiel auf, dass sich Besletows Tonfall unablässig änderte – von Gereiztheit zu Beflissenheit und leicht herablassender Milde. Im Übrigen waren diese Wechsel ziemlich artistisch, geradezu fließende Übergänge.
»Es geht darum, dass man gar nichts tun muss. Man muss nichts tun. Denn solange die R-u-s-s-e-n leise vor sich hin saufen[96] und ihnen alles scheißegal ist, geht alles seinen Gang[97]. Der Wodka wird gekühlt, die Kartoffeln werden gebraten. Und sobald die R-u-s-s-e-n anfangen, sich an ihre verlorengegangene Größe und an das Schicksal der Heimat zu erinnern, an … oder worüber sprecht ihr die ganze Zeit eigentlich? … dann fangt ihr an, euch gegenseitig abzustechen. Und ihr werdet so viel Blut fließen lassen, dass der halbe Kontinent damit überzogen wird. Das ist unausweichlich, Sascha. Ich denke natürlich, dass sie euch schon davor niedermetzeln. Und wenn man das Blut einfach zynisch in Litern misst, dann ist das natürlich richtiger. Richtiger und weniger blutig.«
»Aber dieses Land wird es bald nicht mehr geben, Aleksej …« Sascha schnitt den Vatersnamen von Besletows Vornamen ab, weil er »Konstantinowitsch« nicht aussprechen wollte.
»Ich sagte dir doch, dass es schon jetzt nicht mehr existiert«, antwortete Besletow schnell.
»Lasst die Menschen ruhig in ihren Winkeln leben. Gebt diesen Russen, um die ihr so besorgt seid, die Möglichkeit, ihr Leben r-u-h-i-g zu Ende zu leben. Ihr werdet ihnen nichts Gutes tun, versteht das doch. Ihr werdet ihnen stattdessen nur noch mehr Unglück bringen. Außerdem hofft ihr vergeblich auf sie. Sie sind genau solche Russen wie … die heutigen Griechen im Vergleich zu den alten. Wie assyrische Krieger im Vergleich zu den assyrischen Schuhputzern in Moskau.«
Sascha trank sein Bier aus und blickte auch zum Fernseher, dessen Bild Negativ so angezogen hatte. Die Motorradfahrer fuhren weiterhin im Kreis. Dann schaute er auf Rogow, der den Kopf im Takt zu etwas bewegte, das in ihm selbst vor sich ging.
»Verstehst du, Sascha«, Besletow senkte abermals die Stimme: »Mir war das, was ihr macht, sympathisch. Es war ein ästhetisches Projekt, das gerade vor dem Hintergrund der herrschenden Schwermut und Wirren interessant war. Aber ihr habt die Grenze überschritten. Nun beginnt etwas, von dem ihr nicht mehr zurückkönnt. Hört jetzt auf. Macht das, was ihr früher gemacht habt. Das war äußerst lebendig – eure Flugblätter, eure Reden, eure Schreie in der Öffentlichkeit, die Fahnen. Eure Mädchen sind natürlich und haben feine Gesichter … Das ist nicht ganz russisch, entspricht nicht unserer Tradition, aber trotzdem lebendig. Überhaupt ist das Russisch-Sein heutzutage nicht allen eigen…« Besletow wurde mit dem Lauf seiner Gedanken immer angeregter: »Die R-u-s-s-e-n haben ihr Russisch-Sein verloren. Erhalten hat es sich noch bei einigen wenigen Menschen, als ein durchaus spirituelles Prinzip, und so, so Gott will, wird es noch einige Zeit erhalten bleiben. Vielleicht einige Jahrhunderte.«
»Wo ist es noch erhalten?« Sascha war aufrichtig verwundert. »In einem Land, das in dreißig Jahren ausstirbt und von Chinesen und Tschetschenen besiedelt sein wird?«
»Nein, natürlich nicht. Aber die Juden haben ihr Judentum im Laufe von zweitausend Jahren auch irgendwie erhalten. Russische Gemeinden leben auf der ganzen Welt, niemand stört sie. Die noch immer lebendige Kultur ist der wichtigste und – ja, der einzige Faktor russischen Geistes. Der Geist lebt schon fast nirgendwo mehr – nur in einzelnen Menschen, die Bilder malen oder Bücher schreiben, oder … na ja, unwichtig. Das Volk ist nicht mehr Träger des Geistes und daher auch zu nichts imstande. Alles, was wir der Welt noch geben können, ist, das Leben unseres Geistes darzustellen.«
»Im Moment des Zerfalls dieses Geistes …«, fügte Sascha müde hinzu.
»Sascha, alles hängt von euch selbst ab. Wenn ihr das blutige Chaos, das ihr euch wünscht, tatsächlich anrichtet, wird der Zerfall nur beschleunigt. Ruft nicht die bösen Geister an. Ruft die Engel!« Besletow lächelte sanftmütig wegen des Pathos seiner Aussage und schwächte damit dessen Beigeschmack ein wenig ab. »Wirkliche Ereignisse geschehen in der Welt des Geistes, Sascha. Der wahrhafte russische Mensch ist ›Geist‹«. Bei jeder Wiederholung verstärkte er seine Stimme: »Der wahrhaft russische Mensch ist jener Mensch, der die Wahrheit sucht. Russland«, schloss er, »muss in eine geistige Dimension eintreten. So wird es besser sein.«
»Und wo sollen wir hingehen?«, fragte Wenja, der zurückgekommen war und plötzlich hinter Besletow stand.
Besletow drehte sich halb um, ohne Wenja richtig anzusehen, und wandte sich sofort wieder seiner Tasse Kaffee zu. Er trank aus, blickte auf den Tassenboden, schwenkte die Tasse und stellte sie auf den Tisch, ließ auf dem Tisch einen frischen Geldschein, die Bezahlung für den Kaffee plus Trinkgeld, und ging nach einer raschen Verabschiedung hinaus.
Niemand sagte ein Wort. Negativ schaute nach wie vor auf den Fernseher.
»Wie hat euch das … Gespräch gefallen?«, fragte Sascha auf der Straße. Sascha ging neben Negativ, der als erster antworten musste.
»Mir egal«, antwortete Negativ. »Ich verstehe nur nicht, warum zum Teufel du uns hierher gebracht hast?«
»Zum Teufel mit ihm«, meinte Wenja.
Rogow schwieg.
»Ljosch!«, rief Sascha.
»Und hast du was Neues gehört?«, antwortete Rogow, der ganz offenkundig gerade irgendwelche Gedanken, denen er nachgehangen war, abschüttelte.
Sascha zuckte mit den Schultern.
»Vor zehn Jahren«, sagte Rogow, »war er sicherlich ein Liberaler und forderte … all das, was sie damals verlangt haben … den Sklaven bis auf den letzten Tropfen aus sich zu vertreiben … die Sühne, all das andere …«
»Ja«, stimmte Sascha zu, der sich ehrlich freute, dass Besletows Worte den wie immer ruhigen Rogow nicht im Geringsten berührt hatten.
»Und damals hat er sich vermutlich nicht von jenen Ideen leiten lassen, die er jetzt verkündet. Davon, dass man sich distanzieren muss. Und dass ein schwerer chirurgischer Eingriff nicht gerade gottgewollt ist[98]. Sie haben ja überhaupt immer gleich so gern den lieben Gott ins Spiel gebracht … Als sie damals mit stumpfem Messer am lebendigen Leib herumschnippelten, da kam er ihnen sehr gelegen, und jetzt auch. Alles was sie je gemacht haben … Denen wurde Gott offenbar als Lauf bursche für alles und jedes abgestellt …«
Rogow blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an.
»Und dann, hast du das bemerkt, Sascha, der hält dich und uns alle doch für assyrische Schuhputzer, sich selbst aber für den Hüter des russischen Geistes … Na ja, soll er …«
»Wohin gehen wir?«, fragte Wenja, der von der ganzen Diskussion gelangweilt war.
»Wir mischen uns unters Volk. Wodka trinken«, antwortete Rogow. »Folgende Bedingungen: Der Raum muss warm sein und der Wodka billig. Wo gibt es bei euch den billigsten Wodka?«
»Am Bahnhof«, antwortete Sascha. »Das ist ganz in der Nähe.«
Die Fleischfüllung der Pelmeni war – dem Geschmack nach zu schließen – durch gut zerkautes Papier, vermutlich Löschpapier, ersetzt worden. Die Mayonnaise, die wie graublauer Aufstrich am Tellerrand klebte, war sauer.
»Das Brot ist feucht …«, sagte Rogow angewidert und schob das Stück Roggenbrot, das wie teurer Fisch fast durchsichtig war (und auch nach Fisch roch), beiseite; Negativ hingegen schnappte sich das Brot und legte es mitten in die Mayonnaise auf seinem Teller.
Sascha hatte ordentlichen Appetit – nach den auf drei hohe, geschliffene Gläser[99] aufgeteilten hundert Gramm Wodka schienen auch die Pelmeni durchaus essbar. Ja, und dann erst recht mit dem Bier …
Die Imbissstube beim Bahnhof war gefüllt mit lauten, scheußlich gekleideten Menschen vorwiegend männlichen Geschlechts. Auf ihren Tischen war kein Essen zu sehen – nur Wodka. Sie tranken die Gläser in einem Zug aus[100], bewegten dabei ihre bläulichen, angesengt wirkenden Adamsäpfel, und schauten dann lange grübelnd ins Glas.
Ein unrasierter und düsterer Mann unbestimmten Alters in einem schmutzigen Tarnanzug stach aus der Menge hervor. Anscheinend fehlte ihm ein Arm.
Sascha und Wenja bemerkten nicht, dass sie nach dem dritten Glas laut zu sprechen begonnen hatten und dabei heftig gestikulierten. Negativ schwieg wie immer und kaute sorgfältig an Brot und Pelmeni. Sascha bemerkte, dass immer, wenn er selbst ein Lokal betrat, er sich mehrmals umschaute, um zu sehen, welche Leute sich in seiner Umgebung befanden, Negativ hingegen sich überhaupt nicht dafür interessierte, wer da trinkt und isst. Es schien, als wäre Negativ zu sich nach Hause gekommen, wo er alles seit Langem kennt. Rogow machte keinen Lärm und wurde nicht betrunken, lediglich in seinem Gesicht bildeten sich rosafarbene, klar abgegrenzte Flecken. Sascha sah Rogow an und bemerkte mit betrunkenem Erstaunen: Würde man den Fleck auf der linken Wange umranden, dann ergäbe das den Umriss von Afrika. Sascha reckte mehrmals den Hals, um die Form des Flecks auf Rogows rechter Wange zu beäugen, bis Ljoscha ihn fragend anschaute.
Sascha schüttelte den Kopf: »Nichts.«
Rogow lächelte sanft.
»Ljosch, erzähl weiter über dieses Gespräch«, bat Sascha. »Es ist gut, was Du sagst.«
»Was gibt’s da zu sagen …« Rogow war abermals ehrlich verwundert. »Ist leichter, sich hinzulegen und zu sterben, als diesem Typ zuzuhören. Die Russen sollen sich nach seiner Logik überhaupt alle hundert Jahre hinlegen und sterben. Sobald sie nur anfangen, ›Blut zu vergießen‹. Ich sehe keinen Unterschied zwischen heute und dem, was war … vor langer Zeit. Ich sehe auch keinen Unterschied zwischen mir und meinem Großvater.«
Rogow sprach langsam, als würde er jedes Wort durch einen Fleischwolf drehen.
»Nein, Ljosch, warte, was ist mit ›Blut vergießen‹? Wird das wirklich geschehen?«
»Alle tun das …«
»Besletow würde sagen, dass alle das Blut der anderen vergießen, wir aber vergießen das unserer eigenen Leute.«
»Besletow ist sein Familienname?«, fragte Rogow nach und sagte, ohne auf eine Antwort zu warten: »Na und, ist das schlecht? Es ist ehrlicher, die Eigenen niederzumetzeln, als in benachbarten Ländern herumzutrampeln.«
»Sind wir dort etwa nicht herumgetrampelt?«
»Also, es ist eine Sache, einen Viehwaggon mit Balten* auf die Kamtschatka zu transportieren, die vor Hitler ihre Beine breit gemacht hätten, wäre nicht der Rotarmist mit der Uschanka gekommen[101]; etwas anderes ist es, eine Bombe auf eine Stadt mit Kindern zu werfen und alle sofort zu töten. Besteht da ein Unterschied?«
»Ja.«
»Wir bringen einander um, weil in Russland die einen die Wahrheit so, die anderen anders verstehen. Das ist sowohl Blutbad als auch Erkenntnis.«
»Eine Erkenntnis, ja«, wiederholte Sascha, »so eine Erkenntnis, dass…«
»Ja, genau so eine.«
Die Jungs gingen zum Pissen nach draußen, Negativ blieb, um den noch nicht getrunkenen Wodka und die restlichen, kalt gewordenen Pelmeni zu bewachen.
Der Platz zum Austreten[102] befand sich direkt hinter dem Café und war wegen des beißenden Gestanks leicht zu finden.
Sie traten nicht in den Matsch, sondern stellten sich zu dritt an die graue Mauer irgendeines Gebäudes neben dem Café. Sie standen einer kleinen Erhöhung gegenüber und alles floss zu ihnen zurück. Der Urin der Jungs rann perlend zu einem Bach zusammen.
Erleichtert, frisch und gut gelaunt kamen sie zurück.
»Noch ein Bier?«, schlug Sascha vor.
»Na klar«, antwortete Wenja. Rogow nickte.
Als Sascha mit den Flaschen zurückkam, stand der unrasierte Mann im Kampfanzug bereits am Tisch und – schwieg. Der linke Ärmel seiner Jacke hing herab, tatsächlich fehlte ihm ein Arm.
»Ich hab gehört, ihr redet da …« Er artikulierte mühsam, schwieg, stockte.
»Sehr richtig«, setzte Sascha fort. Im Rausch[103] wurde er streitsüchtig.
Wenja lachte. Am Rand von Rogows Lippen hing ein Lächeln. Negativ blieb undurchschaubar.
»Ihr habt gesagt, dass wir nie irgendwo eingedrungen sind, ihr Grünschnäbel[104]. Und was ist mit Afghanistan? – Fahrer des einhundertsechsundsiebzigsten motorisierten Gebirgsjägerregiments. Vierzehn Mal unter Beschuss. Zwei Verwundungen, ihr Grünschnäbel.«
»Ihr Grünschnäbel«, sagte er ohne beleidigenden Unterton – einfach wie »Jungs«.
Der Afghanistanveteran sah Sascha, der ihm mit einer offenen Bierflasche in der Hand direkt gegenüber stand, in die Augen. Sascha verstand plötzlich, dass der Mann fast nüchtern war.
»Ich höre, ihr sprecht da über irgendeine Partei. Über Politik. Was versteht ihr Grünschnäbel denn von Politik? Diese Affen in Anzügen warten nur darauf, uns in irgendeine Scheiße einzutunken … Hat jemand was zu rauchen?«
Sascha überlegte und gab dem Afghanistanveteranen eine Zigarette.
»Hier ist Rauchen verboten«, warnte er grinsend.
»Ich rauche überall. Ihr seid doch aus einer Partei, oder?«, fragte er weiter.
»Aus einer Partei«, antwortete Sascha. »Sojus Sosidajuschtschich«.
»Ach, ›Sojusnitschki‹. Herr Kostenko und Genossen.« Der Afghanistanveteran grinste tierisch. »Ihr wundert euch, dass ich euch kenne? Ihr habt geglaubt, da schnorrt irgendein Bahnhofspenner Wodka? Ich trinke gar nicht. Ich schaue mir hier die Leute an. Sie rennen den ganzen Tag herum und keiner weiß, wie …« Er musterte sie alle plötzlich mit düsterem Blick: »… wie man die Arschbacken zusammenkneift, wenn eine Granate durch die Gegend fliegt. Das weiß ja keiner, dass man vor Angst nicht zittert, sondern kotzt. Die wissen das nicht, und ich fühl mich deshalb manchmal gut, auch wenn’s mitunter schmerzt.«
»Hör mal, Kumpel«, sagte Wenja, »geh wieder. Wir sitzen hier unter Freunden.«
»Nein, warte, was ich noch sagen möchte …« Der Afghanistanveteran schob Wenjas Hand, die auf seiner Schulter lag, mit einer feindseligen Bewegung weg. Ich halte euch nicht für ›SSler‹. Eure Fahne schaut aus wie die der Faschisten, aber das ist alles Schwachsinn. Ihr wollt die Regierung stürzen, auch ich möchte diese Leute zertreten. Die, die unsere Truppen nach Afghanistangeschickt haben, und die, die sie dann abgezogen haben. Sowohl die, die die Armee nach Tschetschenien geschickt haben, als auch die, die sie zurückholten. Und die, die sie schon wieder dorthin geschickt haben. Und die Tschetschenen dazu. Nur, was ich nicht verstehe – all diese Eier, die ihr da schmeißt, ist das euer Scheißernst? Mir fehlt zwar ein Arm, aber ich bin sofort bereit, eure Fahne auf dem Kreml zu hissen … Ich kann auch mit einer Hand jemanden erwürgen, und noch besser kann ich schießen. Nur werde ich das nicht tun, weil ihr Clowns seid. Alles klar, ihr Grünschnäbel?«
Rogow aß währenddessen die Pelmeni auf. Negativ drehte den Kopf hin und her – es sah aus, als suchte er einen Fernseher. Nur Wenja sah die Jungs fröhlich an und fragte Sascha leise und mit leisem Lächeln mitten im Monolog des Afghanen.
»Sollen wir ihn nicht doch lieber verdreschen?«
»Warte …«, entgegnete Sascha flüsternd.
»Wieso schweigt ihr?« Der Afghanistanveteran erhob die Stimme.
»Was hast du gefragt?«, antwortete Rogow, der alles, was noch auf dem Teller war, aufaß und gequält mit Bier hinunterspülte.
»Ich, ein Grünschnabel …«
»Nenn mich nicht so«, bat Rogow fast liebevoll. Afrika auf seiner Wange bekam heiße, hellrosa Schattierungen.
»Ich frage: Was könnt ihr mir anbieten?« Der Afghanistanveteran starrte Rogow an. »Ja – mir! Ihr, die ›Sojusniki‹?«
In den Mundwinkeln des Afghanzen* klebten weiße Speichelreste.
»Ich habe bei Herat* dem Rekruten Chasin Michail die Gedärme in den Bauch hineingestopft. Und danach soll ich mit euch Eier werfen gehen? Hast du irgendwem die Gedärme zurückgestopft?«
Rogow schaute den Afghanzen an. Sascha – Rogow.
»Du wirst es mir nicht glauben«, sagte Rogow, »aber Eier werfen ist fürchterlicher als Gedärme zurückzustopfen.«
Der Afghanistanveteran verkniff sich ein Grinsen.
»Hast du das gemacht?«
»Ja, und zwar viele Male. Herausgenommen, hineingestopft. Därme und Lungen, Leber, Magen.«
»Spaß-vo-gel?«[105] Der Afghanistanveteran zog die Silben auseinander.
»Ich bin kein Spaßvogel. Ich bin Pathologe.«
Der Afghanistanveteran öffnete den Mund, um eine weitere Bosheit von sich zu geben, doch Rogow fiel ihm, ohne dabei seine Stimme zu erheben, ins Wort.
»Ich war nicht bei Herat, aber ich war an anderen Orten unter Beschuss, und sage dir nochmals: Eine Tomate auf den Premier zu schmeißen ist mindestens so fürchterlich wie eine Granate zu werfen. Verstehst du? Wenn du eine Granate wirfst, kannst du getötet werden. Wenn du eine Tomate wirfst, brechen sie dir aber ganz sicher den Kiefer und die Rippen, und danach hat keiner von denen etwas dagegen einzuwenden, dass du in der Zelle auch noch gefickt wirst. Was ist für dich schlimmer – gefickt oder getötet zu werden?«
»Du Kind …«
»Und noch etwas: Wenn du statt einer Tomate eine Granate werfen willst – nur zu. Wir werden es zu schätzen wissen[106]. Ich werde es zu schätzen wissen. Wenn du nicht willst – musst du nicht. Gut möglich, dass du es ja doch noch willst – soweit ich verstehe, ist es für dich wichtig, dass rundherum geschossen wird; dann ist es auch für dich leichter, damit anzufangen. Du brauchst die Menge, richtig? Ich hoffe, dass du sie bekommst.«
Jetzt grinste Rogow.
»Dawaj, Landsmann!« Ljoschka klopfte dem Afghanistanveteranen auf die Schulter. »Alles Gute. Bis bald. Bis bald, bis bald. Na, dann.«
Alle drehten sich von dem Afghanzen weg, obwohl er noch da stand, nur einen Schritt vom Tisch entfernt.
»Gehen wir mal rauchen?«, fragte Wenja.
Sie gingen auf die Straße hinaus, vorbei an dem Afghanzen, der zu Boden blickte und den Kopf schüttelte.
Sascha zog die letzte Zigarette heraus und warf die leere Packung weg. Er zündete sie an und spürte sofort, dass er sehr betrunken war.
»Ist da noch was übrig geblieben?«, fragte Sascha, hauptsächlich, um seine eigene Stimme zu hören und einzuschätzen, wie klar sie noch war.
»Das Bier hab ich mitgenommen.« Wenja hob zwei angefangene Flaschen Bier in die Höhe: »Den Rest haben wir ausgetrunken.«
Sascha freute sich, dass die Frage verstanden worden war.
Er bewegte die Lippen und kommandierte grinsend: »Kehrt um, Marsch!«
Sie nahmen noch Bier mit und dazu irgendwelches Zeug. Sascha hatte schon das Stadium erreicht, in dem man nicht mehr trinkt, sondern nachfüllt. Man füllt seine Existenz mit geschmackloser Flüssigkeit an.
Irgendwo fand sich noch Wodka – und dazu mussten sie getrockneten Tintenfisch essen, ein getrocknetes Schwänzchen zu dritt. Die Jungs verzehrten das Stück fein säuberlich, mit sehr ernstem, wenn auch ein wenig dämlichem Gesichtsausdruck.
Sie betraten den Bahnsteig, lauschten, wie die Frachtzüge vorbeiratterten, und von diesem Gepolter wurde Sascha endgültig blöde im Kopf.
Der Bahnhof verschwamm, und nur für Momente tauchte vor den Augen überraschend klar eine helle Tafel auf, irgendjemandes Gesicht, eine nervige Absperrung, die überwunden werden musste, was den Gleichgewichtssinn überforderte.
Das Gespräch fortzusetzen war nicht möglich, aber es machte Spaß, von Zeit zu Zeit irgendetwas herauszuschreien.
Als sie eine Milizpatrouille entdeckten, rannten die Jungs lachend und Unverständliches schreiend in die Richtung der leeren Marktstände, an denen tagsüber mit allem Möglichen gehandelt wurde.
Sascha fiel auf alle viere und trank sogar ein bisschen aus einer Pfütze, in der sich sein Gesicht im Licht der Straßenlampe trübe und verzerrt spiegelte. Die vornweg stürmenden Jungs hatten Saschas Ausrutscher nicht einmal bemerkt.
Die Marktstände bestanden aus eisernen, teilweise verbeulten Ladentischen. An jedem Ladentisch waren zwei Träger samt Dach aus verrostetem Blech angeschweißt.
Während die Jungs die Markstände entlanggingen, schepperte es immer wieder, und die Ladentische wackelten, einige schwankten sogar heftig und drohten umzufallen. Sie rempelten wohl die Ladentische an, vielleicht traten sie auch dagegen.
Die Jungs trafen auf einen Mann kaukasischer Nationalität, der ihnen mit eingezogenen Schultern und gekrümmtem Rücken entgegenkam. Sie begrüßten ihn mit aufrichtiger Freude mit den Worten »Salam Aleikum« und »Allah Akbar«.
Kaukasier kontrollierten diesen Markt, das wusste Sascha. Aber jetzt, kurz vor Mitternacht, hatten sich alle offenbar mit ihren Einnahmen schon verlaufen. Hier in der Nähe befanden sich übrigens zwei oder drei Bars und außerdem ein Kasino, in dem sich junge Menschen vergnügten, die guttural und laut sprachen, kleingewachsen waren, Lederjacken und schwarze spitze Stiefeletten trugen.
Hinter einem der Ladentische spielten die Jungs die Szene »Ein Sohn des Kaukasus verkauft eine nicht ganz ausgetrunkene Flasche Bier an russische Alkoholiker«.
Rogow, überdreht und mit rotem Kopf, stellte possierlich einen kaukasischen Händler dar, der die Vorzüge des Biers und die seltene Form der Flasche anpries. Wenja feilschte, tölpelte herum und feixte. Sascha, der trotz seines betrunkenen Zustandes an Rogow, der normalerweise nicht zu Scherzen neigte, dessen Sinn für Humor bemerkte, half Wenja beim Feilschen; er fuchtelte mit den Armen, schrie herum und ließ in Sekundenschnelle die Zigarette aus dem Mund fallen, die er bei jemanden, bei wem, konnte er sich nicht mehr erinnern, geschnorrt hatte. Und selbst Negativ, der sich eine halbe Flasche Bier genehmigt hatte, verzog die Lippen und zwang sich zu lächeln. Im Widerschein des blinkenden Schilds der nicht weit entfernten Bar war zu erkennen, dass Negativs Augen weicher geworden waren.
»Sie ist doch … halbleer«, sagte Wenja und schnippte mit seinem gebogenen Finger gegen die Flasche.
»He-e, was bist du für einer? He-e …«, antwortete Rogow kopfschüttelnd. »Ich will ja nur den Einsatz von dir.«
»Und Kappe gibt’s keine …«
»Was brauchst du eine Kappe, he? Willst du trinken oder mit der Kappe spielen?«
Niemand hatte bemerkt, wie sie aufgetaucht waren, die weißen Zähne bleckend[107], schwarz, ungefähr sechs Mann. Sie hatten auf den Stufen der Bar geraucht, der »Handel« hatte ihr Interesse geweckt, und sie waren ernsthaft beleidigt, als sie das Gespräch verfolgten. Einer hatte eine offene Bierflasche in der Hand. Aus irgendeinem Grund schüttelte er sie.
Sie waren alle jung. Sascha bemerkte das sogar in seinem Halbdelirium[108], hatte aber keine Kraft mehr, darüber beunruhigt zu sein. Mit Erwachsenen hätte man sich arrangieren können, das ja. Mit diesen Jungen da – nur durch Entschuldigungen und Selbsterniedrigung; das waren ihnen sofort klar.
Einige Momente lang standen sie alle schweigend da.
Sascha drehte den Kopf und spürte plötzlich, dass er wegen der heftigen Erregung ein wenig nüchterner wurde.
Er war es gewohnt, zu Beginn einer Schlägerei wenigstens einige Worte zu sagen.
»Was wollen wir denn?«, fragte er und schmiss seinen fast zu Ende gerauchten aber noch glimmenden Zigarettenstummel in den Hals einer Bierflasche; jener Bierflasche, die der Kaukasier in der Hand hielt. Sascha bemerkte sogar noch seine merkwürdig weißen, aber mit dichten schwarzen Haaren bedeckten Finger. Der Kaukasier schaute ungläubig dem Stummel im Hals der Bierflasche nach. Der Stummel gab, als er ins Bier fiel, ein leichtes Zischen von sich.
Dann ging alles sehr viel schneller.
Sascha atmete ein, warf den Kopf zurück und ließ seine Stirn gegen die Nasenwurzel des Kaukasiers donnern. Etwas zerbarst mit saftigem Klang, die Flasche fiel aus den weißen Händen und rollte davon, die Flüssigkeit lief aus. Der Kaukasier fiel auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stand nicht mehr auf.
Sascha wollte einen zweiten Kaukasier niederstrecken, erhielt aber selbst einen scharfen, wenn auch nicht sehr starken Schlag gegen das Kinn. Er sprang einige Schritte nach hinten und sah, wie Wenja die Flasche, die eben noch das Objekt ihres scherzhaften Handels gewesen war, einem der Gegner ins Gesicht warf und traf.
… Sascha fiel, fluchte heftig, er traf selten[109], bekam selbst aber auch wenig ab, weil er vor seinem Angreifer zurückwich und dabei, wie es ihm schien, immer bedrohlichere Kampfposen einnahm.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Wenja sich schon mit zwei anderen auf der Fahrbahn schlug, dass Fahrzeuge sie anhupten, während sie versuchten, an den Kämpfenden vorbeizufahren …
… außerdem bemerkte er Negativ, der auf einem zu Boden gestreckten saß und dem unter ihm Liegenden harte und offenbar sehr schmerzhafte Schläge ins Gesicht versetzte[110].
Das nächste Bild war ein Auto, das neben Wenja abgebremst hatte. Aus ihm stürzten fünf kräftige Typen, die sofort, als würden sie Beute jagen, laut in ihrem Dialekt zu brüllen begannen. Wenja sprang zurück und schwenkte ein Metallstück.
Aus der Bar kamen weitere Leute gelaufen, und sie hätten die Jungs wohl plattgemacht, hätte Rogow sie nicht aufgehalten, indem er einen, dann noch einen zweiten und dritten Ladentischumwarf.
Die Ladentische versperrten nun den Weg zwischen einer Wand auf der einen und einem Zaun auf der anderen Seite, der nicht sehr hoch war, er reichte gerade bis zur Hüfte und begrenzte die Fahrbahn. Während die aus der Bar kommenden Kaukasier über den Zaun stiegen, um die von Rogow hingeworfene Barrikade zu umlaufen, gelang es Ljoscha, Negativ am Kragen zu packen, von seinem Opfer wegzuziehen und den Mann, mit dem Sascha sich erfolglos einen Kampf lieferte, umzuwerfen.
»Wenja, hierher!«, schrie Rogow dabei.
Wenja schleuderte das Metallstück gegen seine Angreifer und sprang über den Zaun; gleich zwei Milizautos kamen von irgendwoher die Straße entlang angerast, und unter Sirenengeheul und dem Geschrei der Miliz rannten alle, die sich am Markt versammelt hatten, in verschiedene Richtungen davon.
Sascha kam es vor, als würde er allen vorweg laufen. In seiner Kehle blubberte es merkwürdig. Hinter seinem Rücken hörte er Trampeln und war überzeugt, dass es sich um Ljoscha und Negativ handelte und dass auch Wenja nicht weit entfernt sein konnte.
Es war sinnlos sich umzudrehen. Sascha fluchte, drohte gegen irgendetwas zu stoßen. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die Gesichter der hinter ihm Laufenden erkennen konnte. Er wäre gegen eine Betonwand gelaufen, hätte er nicht gehört, wie jemand gerade über sie kletterte …
Er tastete vor sich – ja, eine Wand.
Sascha sprang hinauf und kletterte hinterher.
»Der Markt!«, wurde Sascha klar, als er auf der anderen Seite hinuntersprang. »Ich bin auf dem Markt!«
Nach der Schlägerei und dem Laufen hatte sich in seinem Mund eine Unmenge Speichel angesammelt, Sascha musste ausspucken und drehte den Kopf, um etwas, das im Gesicht hängen geblieben war, abzuschütteln. Es klebte am Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel ab.
Um ihn herum erhoben sich Hallen, es gab praktisch keine Beleuchtung.
Schwer atmend tappte Sascha sinnlos im Dunkeln herum und glaubte Kisten, leeres Verpackungsmaterial zu erkennen, das übereinander gestapelt und an die Mauer der nächstgelegenen Halle gelehnt war.
Sascha wollte genau dorthin, er suchte einen Unterschlupf, in dem man sich hinter den Kisten verstecken konnte und atmen, atmen – lange und schwere Speichelfäden hingen an ihm herunter.
Völlig entkräftet von den Ereignissen und vom Alkohol, zwängte er sich zwischen den Kisten näher zur Mauer und trat auf etwas Weiches. Auf einen sitzenden Menschen.
»He«, sagte Sascha leise und ging in die Hocke, dann auf alle viere, um nicht zu fallen … spuckte noch einmal lange aus und kniff die Augen zusammen, um den Sitzenden zu erkennen. »Wer ist da? Nimm verdammt noch mal die Hände weg …«
Der vor ihm Sitzende nahm die Hände vom Gesicht. Sascha sah, dass es ein Kaukasier war, ein junger, fast noch ein Kind, aber in Lederjacke, mit spitzen Stiefeletten und in Jeans.
»Was – Scheiße noch mal – tust du hier?«, fragte Sascha heiser und beinahe naiv. Der Bursche schaute verblüfft – entweder erschrocken oder frech.
Sascha atmete nochmals tief ein, senkte den Kopf und ließ die heiße Zunge heraushängen, die ganz süß schmeckte.
»Rück zur Seite …«, sagte Sascha, setzte sich neben den Jungen und fasste ihn an der Schulter. »Scheiß dich nicht an. Wir bleiben jetzt hier sitzen und gehen dann … Wo sind meine Freunde, Scheiße nochmal … Weißt du nicht, wo meine Freunde sind?«
»Nein.«
»N-a-i-n«, äffte Sascha nach. »Wie heißt du?«, fragte er nach einer Pause.
»Sascha.«
»Ich heiße auch Sascha. Nur bist du nicht Sascha, sondern irgendein Sacha. Alchu. Aslachan. Richtig?«
Er bekam keine Antwort.
Sascha hatte die höchst russische Angewohnheit, im Suff sinnlose Gespräche zu führen.
»Woher kommst du?«
»Jerewan.«
»Oh …«, sagte Sascha unbestimmt. »Wieso habt ihr begonnen, uns zu prügeln, ha? Sacha!«
»Ich weiß nicht. Ich bin später gekommen.«
»Verspätet«, ätzte Sascha. »Ach was, sei nicht beleidigt …«, sagte er und schwieg wieder. »… wir machen Revolution, bringen alle Arschlöcher um – dann komme ich zu dir nach Almaty und wir trinken Tee auf der Veranda.«
»Ich bin aus Jerewan.«
»Wir kommen zu dir nach Teheran.« Sascha stellt sich weiter dumm, obwohl er alles verstanden hatte. »Wir werden Tee trinken auf der Veranda. Hast du eine Veranda?«
»Still … Da geht jemand …«
Eine Minute später leuchtete ihnen eine Taschenlampe ins Gesicht.
»Aufstehen«, sagte der Milizionär.
Es waren zwei Mitarbeiter des Patrouillendienstes, und zusätzlich ein Marktwächter, ein alter Mann.
Sie legten Sascha Handschellen an, Sacha auch.
Obwohl die Milizionäre bei Letzterem kurz zögerten.
»Und den?«, fragte der eine.
»Ja, was?«, antwortete der zweite ohne besonderen Nachdruck in der Stimme »Wohin mit ihm? Nehmen wir ihn auch mit.«
Sie führten die Verhafteten zum Patrouillenauto, das direkt zum Haupttor des Marktes gefahren war.
Sie öffneten die hinteren Türen der grünen Minna[111], setzten sie einander gegenüber in den Käfig hinter dem Rücksitz, dann schlugen sie fünf Mal die Tür zu, die sich nicht schließen lassen wollte.
Wenn Sascha bei Schlaglöchern hochgeschleudert wurde und in den Kurven umkippte, berührte er mit der Stirn die Stoffverkleidung des Fahrzeuges. Mit einer gewissen Nüchternheit dachte er, dass sein freies Leben jetzt beendet war.
Sie bringen ihn jetzt dorthin, und im Laufe der Überprüfung wird sich rasch herausstellen, dass er in Moskau randaliert hatte, und das würde dann das Ende sein.
Es gelang ihm nicht, ernsthaft darüber zu erschrecken.
Man brachte sie aufs Revier. Aus dem verglasten Wachzimmer, in dem ein schnauzbärtiger Milizhauptmann am Telefon sprach, während er mit einem Löffel den Tee umrührte, kam ein schläfriger, sich vor Müdigkeit streckender Milizsergeant heraus, offenbar der Assistent des Diensthabenden …
Sascha betrachtete mürrisch die violetten Wände der Abteilung, die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische[112]; wieder dachte er, dass er sich sein ganzes Leben lang daran erinnern würde.
Und außerdem dachte er, dass es noch – wie letztes Mal – die Möglichkeit gab, auszureißen, durch die offene Tür hinauszulaufen, in irgendeinen Hof zu verschwinden, irgendwohin … aber irgendwie hatte er weder Kraft noch Lust dazu.
Man nahm Sascha die Handschellen ab, und er rieb sich, wie jeder Mensch, dem man die Handschellen abnimmt, die Handgelenke.
»Auch vom Bahnhof ?«, fragte der Sergeant die vom Patrouillendienst so leise, als sei er sehr müde.
»Vom Bahnhof …«, antworteten sie.
»Haben wir Waffen, Drogen, spitze und scharfe Gegenstände?«, fragte der Sergeant Sascha und den kaukasischen Jungen.
Der Kaukasier schüttelte den Kopf.
»Hab alles bei der Verhaftung weggeworfen«, antwortete Sascha und verstand am melancholischen Gesichtsausdruck des Sergeanten, dass auch der diesen Scherz schon hunderte Male gehört hatte.
Sie mussten den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch legen. Sascha hatte nichts bei sich, der Kaukasier ein Handy und einen fetten Geldbeutel.
Sie klopften Sascha an den Seiten, Beinen und Arschbacken ab, überprüften die Ärmel, baten, die Hosenbeine anzuheben, um zu sehen, ob er nicht in den Schuhen verbotene Gegenstände bei sich trug.
Ein Riegel wurde scheppernd zurückgezogen, man schob Sascha in einen kleinen Raum, der auf drei Seiten von einer Steinmauer und an der vierten von einem Gitter begrenzt war.
Sascha sah Wenja, Negativ und Rogow sofort.
Wenja und Negativ saßen in der Hocke – es gab weder Stühle noch Bänke im Raum. Rogow stand, er lehnte sich an die grün gestrichenen Stäbe. Durch die Stäbe hindurch waren ein Tisch und ein Safe zu sehen, in das der Sergeant den Geldbeutel und das Handy des Kaukasiers legte.
»Oho, Sanja haben sie auch gefesselt!«, sagte Wenja und lächelte. Auch Rogow lächelte.
Negativ hob den Kopf und schüttelte ihn – Sascha verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Was machst du denn hier, Täubchen?«, fragte Wenja jemanden, der hinter Sascha stand.
Sascha drehte sich um und sah, dass sie nach ihm den Jungen aus dem Kaukasus hineingestoßen hatten.
Der blickte sich suchend um, wo er unterkommen könnte, so weit wie möglich entfernt von den anderen, die bereits in der Zelle waren.
Neben Saschas Genossen saß hier noch auf dem Boden, das Gesicht auf die Knie gedrückt, ein besoffener Penner mit zugeschwollener Visage und einem kraushaarigen, verdreckten Kopf.
Der Kaukasier blieb bei der Tür stehen, die mit einem Knall geschlossen wurde.
»Heißt das, sie haben nur uns erwischt?«, fragte Sascha, dem vom Anblick der Genossen gleich leichter ums Herz wurde.
»Genau das«, sagte Wenja.
»Haltet alle das Maul, wie oft soll ich das noch sagen!«, schrie plötzlich der Sergeant; das Geschrei ließ den Penner seine geschwollene Fresse mit dem Hämatom heben. Er stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand ab, stand schwerfällig auf und ging – mühsam das Gleichgewicht haltend – fast bis zum Gitter, von wo aus der Tisch und der erboste Sergeant zu sehen waren.
»Warum bin ich hier, Chef ? Mach auf, du Widerling!«, schrie der Kerl.
Der Assistent stieß einen Fluch aus, knallte die Tür zu, und ging in den benachbarten Raum, offenbar das Wachzimmer.
»Siehst Du, Sanja«, sagte Wenja und deutete in Richtung Sergeant, »entweder flüstert er oder er schreit, normal sprechen kann er nicht. Dieser Mongo.«
Der Penner schrie noch eine Weile und trat dabei gegen das Gitter.
»Setz dich, Väterchen«, bat ihn Negativ.
»Gut, aber wo sind eigentlich unsere Brüder aus dem Süden geblieben?« Sascha konnte sich nicht beruhigen.
»Sie haben sie gleich wieder freigelassen«, antwortete Rogow.
Sascha fand tatsächlich keine Worte.
Der Assistent kam mit dem Zugangsregister für Festnahmen[113] zurück, irgendwoher kamen auch die beiden von der Patrouille, die Sascha verhaftet hatten. Offenbar wollten sie das Protokoll schreiben … Alle drei wurden plötzlich von einem durchdringenden Klingeln an der Tür der Wachstube aufgeschreckt.
Zuerst ging der Sergeant – wahrscheinlich, um die Tür zu öffnen. Eine Minute später hörte Sascha deutlich gutturale Stimmen mit dem charakteristischen Akzent.
»Sascha, sie sind da, um dich rauszuholen!«, dachte er laut vor sich hin.
Tatsächlich, die Zellentür wurde rasch geöffnet und der Kaukasier hinausgeführt.
Die Jungs lachten ein wenig über alles. Ein Wort gab das andere – sie erinnerten sich an die Schlägerei; Wenja erzählte belustigt, wie er das lange Metallstück auf der Straße gefunden und damit – wie ein Verrückter die Mücken – alle von sich weggescheucht hatte.
»Sonst hätten sie dich mit ihren gekrümmten Nasen massakriert …«, feixte plötzlich der melancholische Negativ, für den Scherze absolut untypisch waren.
»Nein, jetzt überlegen wir mal!« Sascha kehrte noch einmal zu dem Thema zurück, das er noch nicht verdaut hatte. »Haben sie uns für die Schlägerei verhaftet? Aber wo ist …«
»Das Objekt unseres Rassenhasses«, setzte Rogow im selben Ton fort. Es war natürlich ein Scherz.
»Ja, wo sind sie?«, fragte Sascha. »Das heißt, wir haben uns gegenseitig verprügelt?«
»Wenja, warum hast du das Metallteil eigentlich mitten auf der Straße geschwungen?«, interessierte sich Rogow und verfiel in lyrische Ironie. »Wen wolltest du damit erschrecken?«
»Es hat die vorbeifahrenden Autos behindert, und ich wollte es entsorgen«, antwortete Wenja.
Sie hätten so bis zum Morgen weiterpalavert, aber die Tür knarrte abermals, zuerst im Schloss, dann in den ungeölten Scharnieren, und der auftauchende Sergeant sagte leise: »Zum Teufel, kommt raus!«
»Sollen wir das Väterchen da auch wecken?«, fragte Negativ und zeigte auf den Penner.
»Was ist dir der für ein Vater, dieses Wrack?«[114]
Der Kerl bewegte sich nicht. Er hatte sich auf den Boden gelegt und schlief. Alle gingen hinaus, der Typ blieb allein in der Zelle zurück.
Die Jungs standen unsicher im Vorraum der Milizstation herum.
»Ich würde diese schwarzarschigen Wanzen selbst verprügeln …«, sagte der Sergeant und öffnete die Tür zur Straße.
»Wir haben sie nicht geschlagen …«, sagte Sascha, »sie haben selbst …«
»Ja, klar, nicht geschlagen«, lachte der Sergeant und erhob plötzlich, wenn auch mit freundlicher Intonation, die Stimme. »Einem von denen wurde das halbe Gesicht wie eine Tomate zermatscht … Aber sie haben keine Anzeige gegen euch erstattet. Und es gibt auch keine Meldung wegen euch. Verschwindet. Ihr Kämpfer …«
Sascha war der familiäre Ton des Milizionärs unangenehm, auch dessen Überzeugung, dass die Jungs die Schlägerei begonnen hätten. Und außerdem war es irgendwie abstoßend, dass der Milizionär offenbar dachte, die Jungs könnten mit ihm einer Meinung sein – in Bezug auf jene, die er als »schwarzarschig« bezeichnete. Nur waren sie darin ganz und gar nicht einer Meinung …
Auf der Straße stand das Milizauto mit den Typen vom Patrouillendienst, die Sascha verhaftet hatten. Kaum waren die Jungs rausgegangen, ging im Auto das Licht aus.
»Ich glaub’s nicht, dass die da gerade Geld zählen …«, sagte Wenja.
Sie streckten sich und rieben ihre Glieder und machten sich dann auf den Weg. Sie beschlossen, bei Sascha zu übernachten.
»Und wenn sie uns abfangen, San?«, fragte Negativ.
»Wie?«, fragte Sascha nach, er zitterte vor Kälte. »Sie haben uns doch eben erst laufen lassen.«
»Ich meine es ernst.«
»Sie werden uns nicht abfangen. Irgendwo müssen wir übernachten. Richtig, Jungs?«
»Natürlich müssen wir irgendwo übernachten«, bestätigte Rogow.
»Und fressen will ich jetzt auch was …«, sagte Wenja.
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in Zivil – в штатском
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der Revierinspektor – участковый
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die Glotze – «ящик», телевизор
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nahm einen tiefen Zug – глубоко затянулся
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verkriechen – прятаться
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mit flinker Feder – с легкой руки
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»Milch- und Schwanzlutscher« – (жарг.) «отсосы»
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Knastgänger – «сидельцы»
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»Terroristen mit Samtpfoten« – «бархатные террористы»
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sich über etwas im Klaren sein – знать что-то
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zum »Du« übergehen – перейти на «ты»
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»die Finger abnehmen« – «снимать пальчики» (снимать отпечатки пальцев)
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verdrehen Sie hier nichts – не передергивайте
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Niemand wird die Nicht-Russen irgendwo hintun – Никто никуда не будет девать нерусских
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zur Seite treten – отойти в сторону
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unzurechnungsfähig – невменяемый
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saufen – пить
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geht alles seinen Gang – все идет свои чередом
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Und dass ein schwerer chirurgischer Eingriff nicht gerade gottgewollt ist. – И что жесткое хирургическое вмешательство не богоугодно.
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geschliffene Gläser – граненые стаканы
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in einem Zug austrinken – выпивать залпом
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die vor Hitler ihre Beine breit gemacht hätten, wäre nicht der Rotarmist mit der Uschanka gekommen – которые легли бы под Гитлера, если бы не пришел красноармеец в ушанке
102
der Platz zum Austreten – отхожее место
103
im Rausch – в хмелю
104
Grünschnäbel – юнцы, молокососы
105
der Spaßvogel – шутник
106
Wir werden es zu schätzen wissen. – Мы оценим это.
107
die weißen Zähne bleckend – скалящие белые зубы
108
im Halbdelirium – в полубреду
109
er traf selten – он попадал редко
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Schläge versetzen – наносить удары
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die Minna – патрульная машина, «козелок»
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die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische – старые, облупленные столы
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das Zugangsregister für Festnahmen – журнал учета задержанных
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»Was ist dir der für ein Vater, dieses Wrack?« – «Какой он тебе отец, этот отморозок?»