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Zukunftsforschung

Warum wir das Unmögliche wagen

Alexander Geseke wurde im Februar geboren. Was wird er in 20 Jahren essen, wie in 40 Jahren leben? ZEIT ONLINE wirft in der Themenwoche Geboren 2012 den Blick nach vorn.
VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

Drei Anrufe: "Wie werden wir in vierzig Jahren leben?"

"Das kann ich Ihnen sagen", antwortet der Stadtplaner. "Was genau wollen Sie wissen?"

"Einige Ideen haben wir da schon", sagt der Bildungsforscher. "Obwohl es ja immer schwierig ist, in die Zukunft zu schauen."

"Wie soll ich das wissen? Ich weiß ja noch nicht einmal, was in drei Monaten sein wird", stöhnt der Politiker.

Die Zukunft ist eine schwierige Angelegenheit. Je weiter wir vorausschauen, desto leichter verlieren wir uns in mehr oder weniger begründbaren Wahrscheinlichkeiten. Sie speisen sich aus den großen Trends unserer Zeit: Klima- und demografischer Wandel, Energiekrise, Globalisierung und Kapitalismuskritik. Was davon wird Wirklichkeit, was wird sich als Trugbild erweisen? "Nichts", schrieb Elisabeth von Thadden in der ZEIT, "scheint gegenwärtig gewisser zu sein als eine umfassende Ungewissheit, was werden soll."

Sollten wir uns also lieber gar nicht mit dem Kommenden beschäftigen, wo die Gegenwart schon Mühen genug zu bieten hat? Ganz und gar nicht. Denn die Zukunft ist weit mehr als trüber Nebel am Morgen. Sie ist der Hort unserer Hoffnungen.

Seit die westliche Zivilisation ihre Fortschrittsidee entwickelte, ist das Morgen zum Ziel alles Heutigen geworden. Zugleich betrachtet, wer auf das Zukünftige blickt, immer das Gestern und Heute, sein Entstehen, seine Chancen, auch seine Gefahren und Missverständnisse. Denn wenn wir eine Welt beschreiben, die es noch nicht gibt, können wir sie uns nicht anders vorstellen als in der Kategorie dessen, was schon ist.

Zukunft als Mode

Ein Beispiel: In den gesellschaftsutopischen Entwürfen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, von Aldous Huxleys Schöne neue Welt bis zu George Orwells 1984 , schloss sich die Zukunft unmittelbar an die autoritär geprägten politischen Erfahrungen der damaligen Gegenwart an. Technischer und politischer Fortschritt, so schien es, mussten sich totalitär verbinden, Technik würde zwangsläufig zum Mittel der Repression werden.

Unsere heutige Erfahrung lehrt dagegen, dass das so sein kann, wenn beispielsweise im Iran oder in China gewaltige Überwachungsapparate aufgebaut werden. Gleichzeitig wissen wir aber, dass die modernen Kommunikationstechniken demokratische Umbrüche, sogar Revolutionen beflügeln können, wie wir sie im arabischen Frühling erlebten. Huxleys und Orwells Entwürfe bleiben also mögliche Szenarien – unter anderen.

Richtig in Mode kam die Zukunft in den fünfziger und sechziger Jahren. Forscher unterschiedlichster Disziplinen prognostizierten damals mit größter Gewissheit, was die kommenden Jahre bringen würden. Viele ihrer Ideen erscheinen uns heute naiv: fliegende Autos, atomar betriebene Meerwasserentsalzungsanlagen, perfekte Übersetzungsroboter, die menschliche Besiedelung des Mars. Wunderbarer Unsinn, der die Phantasie anregt, aber eben auch belegt, was alle schon wussten: Der Haken an der Zukunft bleibt, dass wir sie nicht kennen.

Unter dieser populären Oberfläche wurden gleichwohl richtige Gedanken entwickelt. Robert Jungk, der erste so benannte Zukunftsforscher, formulierte als Arbeitshypothese: "Ich sehe voraus, dass ich vieles unrichtig oder gar nicht werde vorausgesehen haben." Womit er seine Arbeit nicht ad absurdum führen wollte, sondern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der wissenschaftliche Blick in die Zukunft nicht von vermeintlichen Gewissheiten, sondern von Fragen geprägt sein sollte. Seither suchen Futurologen nicht mehr zu behaupten, was kommt, sondern sie wollen Möglichkeiten entwerfen, was alles sein könnte und mit welcher Wahrscheinlichkeit.

Auf die technikbegeisterten Propheten folgten in den siebziger Jahren die Warner des Club of Rome : Die Überbevölkerung bedrohe die Erde, fossile Energieträger gingen zu Ende, die Umwelt werde unwiederbringlich zerstört, das Ende des Wachstums werde innerhalb von hundert Jahren erreicht sein, der Planet steuere auf einen Kollaps zu.

Auch diese Untergangsszenarien haben sich bislang nicht bewahrheitet, wiewohl Demografie und Klimawandel aller Voraussicht nach die wichtigsten Themen unserer Zeit bleiben werden. Ebenso beschäftigt uns angesichts der anhaltenden Finanz- und Schuldenkrise so intensiv wie selten, wie viel und welche Art Wachstum unsere kapitalistische Lebensweise braucht, und wie viel der Planet ertragen kann.

Was also lässt sich aus fast einem Jahrhundert Zukunftsforschung lernen? Dass jede Prognose eine Aufforderung an uns enthält, uns zu entscheiden. Wie wollen wir leben: Im Einklang mit der Natur, in friedlichem demokratischen Miteinander, ohne Angst vor Fremden, in ökonomischer Sicherheit, mit einer guten Balance zwischen Arbeit und Freizeit, Familie und persönlicher Unabhängigkeit? Oder doch ganz anders?

Jede dieser Fragen ist gleichzeitig auf die Gegenwart und auf die Zukunft gerichtet. Rolf Kreibich vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin beschreibt das so: "Vor allem die durch die modernen Naturwissenschaften ausgelösten technischen Innovationen bewirken in immer kürzeren Zeitintervallen grundlegende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen." Der Mensch fühle sich selbst als Gestalter. "Das Morgen wird immer weniger als Schicksal begriffen, sondern erscheint bestimmbar und gestaltbar, somit bestimmt auch die Zukunft immer mehr und immer schneller das Denken und Handeln in der Gegenwart."

Große Veränderungen vollziehen sich langsam

Gelernt haben wir auch, dass die Zukunft keine völlig neuen Menschen aus uns macht. Unsere grundsätzlichen Fragen werden sich nicht wesentlich ändern. Was sich wandelt, sind die Rahmenbedingungen, ist die Art und Weise, wie wir auf diese Fragen antworten.

Einige äußere Faktoren, die uns in Zukunft stark beeinflussen werden, scheinen absehbar. Neben den schon genannten großen Trends werden das wohl die Weiterentwicklung der digitalen Technik sowie der Bio- und Umwelttechnologien sein. Alle diese Faktoren lassen aber keine plötzlichen Umstürze erwarten. Der Geograf und Zukunftsforscher Laurence C. Smith schrieb im vergangenen Jahr: "Große Veränderungen lassen die Sache gemächlich angehen und machen keinen großen Lärm dabei."

Wie also werden wir in vierzig Jahren leben? ZEIT ONLINE will sich dieser Frage mit einem Gedankenexperiment nähern. In einer Serie stellen wir zehn Fragen an die Zukunft. Und wir beantworten sie ganz subjektiv am Beispiel eines einzigen Menschen.

Am 3. Februar 2012 wurde Alexander Geseke in Hamburg geboren. Was wird aus seinem Leben? Wie wurde er geboren, wie wird er lernen, essen, kommunizieren, arbeiten, wohnen, lieben, krank werden, regiert werden? Wie wird es schließlich sein, wenn er selbst Kinder bekommt? Zehn Reportagen aus einer erdachten Zukunft werden Alexanders Lebenslauf folgen und auf diese Fragen Antworten geben, getragen vom aktuellen Stand der Forschung.

Warum Alexander und niemand anderes? Weil seine Zukunft in diesem Jahr beginnt. Weil die Welt begreifbarer wird, wenn wir sie uns an einem Individuum erschließen. Weil dieser eine Mensch als Folie dafür dienen kann, wie es auch anderen ergehen könnte – oder eben gerade nicht.

Damit unser Experiment funktioniert, ist noch eine wichtige Grundannahme nötig: Wir entwerfen keine Zukunft, die auf völlig unerwarteten Ereignissen basiert. Es werden also keine sogenannten Schwarze Schwäne vorkommen, keine neuen Weltkriege, keine Meteroriteneinschläge oder unheilbare Seuchen, die den Lauf der Welt grundlegend verändern. Allerdings soll das Gedankenexperiment Spaß machen. Die Autoren werden ihrer Fantasie freien Lauf lassen – in den beschriebenen Grenzen.

Geboren 2012

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