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Geboren werden 2012

Alexanders Zukunft beginnt mit 3.690 Gramm

Zur Welt kommen: Familie Geseke erwartet in der Klinik ihr zweites Kind. Doch Alexander lässt sich Zeit, sein Weg ins Leben ist ein Drama – wie jede Geburt.
VON SVEN STOCKRAHM

"Ein wenig ist es so, als warte man auf den ersten Schnee", sagt Jens Geseke* und blickt auf seine Frau. Nikoletta hat sich auf die breite, kniehohe und schaumstoffweiche Liege gesetzt. Ruhig atmend, dennoch angespannt, harrt die junge Frau aus. Dann lässt der Schmerz nach, während sich ihre Gebärmutter wieder entspannt. Die Gesekes sind seit fast fünf Stunden im Kreißsaal der Klinik im Hamburger Nordosten. Sie warten auf Alexander, ihr zweites Kind.

Der ungeborene Sohn hat es sich offenbar gemütlich gemacht. Es ist kurz vor 11 Uhr am Morgen, der Winter hält seit einer Woche die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. "Gestern war der Stichtag", sagt Nikoletta Geseke. Auch wenn die angehende Gynäkologin weiß, dass der errechnete Geburtstermin nicht entscheidet, wann die Wehen tatsächlich einsetzen. "Es wird jetzt aber Zeit", sagt sie und streichelt über ihren Bauch. Heute sei es soweit, "doch der Muttermund ist gerade erst drei bis vier Zentimeter geöffnet". Es kann also dauern, zehn Zentimeter müssten es schon sein, auch die Fruchtblase ist noch nicht geplatzt.

"Bei Kyra ging es viel schneller", erzählt Jens Geseke. Die zweieinhalbjährige Tochter der Gesekes ist bei ihnen zu Hause. Nikolettas griechische Mutter passt auf sie auf. Sie sei ganz aufgeregt gewesen, als sie aufwachte und Mama und Papa nicht da waren, hat die Oma am Telefon berichtet. "Aber als ihr klar war, dass wir im Krankenhaus sind und ihr Brüderchen kommt, hat sie sich ganz unbeeindruckt wieder schlafen gelegt", sagt Jens.

An Ausruhen ist für seine Frau nicht zu denken. Gerade hat die Ärztin sie noch einmal an den Kardiotokografen angeschlossen. Sensoren kleben an Nikoletta Gesekes Bauch, dunkle Kabel reichen bis zum zwei Meter entfernten Messgerät, das stetig Papier ausspuckt, bedruckt mit Alexanders Herzschlag und der Muskelkontraktion der Gebärmutter. Die Ausschläge, die eine Nadel mit Stiftkopf auf das Papier kritzelt, erinnern unweigerlich an die zackigen Spitzen, die auch Seismometer von rumorenden Erdplatten zeichnen. Zusammen mit ihrer Hebamme analysiert Nikoletta die Werte – auch ihre Kollegen auf der Station sind gespannt. "Es ist schon komisch, gleichzeitig Gebärende und Ärztin zu sein", sagt sie.

Zeit, ein wenig nachzuhelfen

Die Wehen kommen weiter unregelmäßig, Alex' Herz wummert bei 140 Schlägen in der Minute. Weiter warten. Jens legt sich zu seiner Frau auf die Liege. Fast schon heimelig ist es in diesem Kreißsaal. Tageslicht fällt von draußen durch die papierdünnen Stoffvorhänge und spiegelt sich auf dem gebohnerten Linoleumboden, der eingerahmt ist von orangefarbenen und karminroten Wänden. Kitschig, aber irgendwie auch beruhigend wirkt der Delfin, der auf dem Bild an der Wand aus dem Wasser springt. Darunter eine großzügige Geburtswanne – sie wird heute unbenutzt bleiben.

Um 14 Uhr hat Nikoletta schon mehrmals die ihr so bekannte Station der Klinik abmarschiert. Vorbei an den Säuglingsfotos, die am Eingang in einem Plastikvorhang stecken. Die Pauls, Theodors und Maries sind alle hier zur Welt gekommen, Nikoletta war selbst als Ärztin bei einigen der Geburten dabei. Rund 1.000 Kinder schreien sich auf dieser Station jedes Jahr ins Leben.

Gerade einmal fünf Zentimeter weit hat sich Nikolettas Muttermund nun geöffnet. Zeit, ein wenig nachzuhelfen. Die Ärztin sticht eine Kanüle in Nikolettas rechten Handrücken. Ein dünner Schlauch wird befestigt. Er reicht bis zu dem Plastikbeutel, der an einem Metallständer auf Rädern baumelt. Ein Tropf. Langsam dringt eine klare Flüssigkeit in Nikolettas Venen, darin das Hormon Oxytocin. Es regt die Gebärmuttermuskulatur an.

Gegen 16 Uhr beginnt die schmerzhafteste Stunde in Nikolettas Leben. Sie sitzt auf dem Kreißbett, verbunden mit Kardiotokograf und tropfendem Oxytocin. Die Hebamme öffnet die Fruchtblase. Nikolettas Schreie hallen durch die Geburtsstation. Jens hält die Hand seiner Frau, versucht sie zu beruhigen. Die Wehen werden unerträglich, Nikoletta verliert für Momente jegliche Kontrolle über ihren Körper. Das Atmen fällt schwer. Sie spürt, wie Alex' Kopf auf ihr Schambein drückt.

"Das Köpfchen ist noch immer über dem Beckeneingang", stöhnt Nikoletta. Sie kann nicht pressen. Wird der Stress für den Kleinen zu groß?

Ärztin und Hebamme entscheiden, Alexanders Blut zu untersuchen. Nach fünf Versuchen kratzt eine winzige Glaskapillare sein Köpfchen. Das angesaugte Blut hat einen ph-Wert von 7,3. Gerade noch im unkritischen Bereich. Sollte der Säuregehalt aber weiter steigen, werden Hebamme und Ärztin Alexander sofort auf die Welt holen – nebenan im OP.

Ein Schnitt trennt Alex von seiner Mutter

Weitere Minuten verstreichen. Nikoletta bäumt sich auf, stemmt sich auf die Knie und beugt sich über die Lehne des aufgestockten Kreißbetts. Ihre Kolleginnen flüstern. Allen Dreien kommt der gleiche Gedanke. "Ich will einen Kaiserschnitt", schreit Nikoletta. Noch zögern Hebamme und Ärztin, sie entscheiden, nicht Nikoletta. Die Wehen kommen nun alle zwei bis drei Minuten. Ab in den OP? Plötzlich kann Nikoletta pressen. Schweißnass überwindet sie die nächste halbe Stunde. Fest verkrampft sich ihre Hand in der ihres Mannes. "Wir schaffen das", sagt Jens.

Um 17 Minuten nach fünf rutscht Alexander in die Arme der Hebamme. Ein Schnitt trennt ihn von Mutter und Nabelschnur. Auf einen Schlag sind Nikolettas Schmerzen gewichen, die Stunden im Krankenhaus vergessen, die anstrengenden Monate der Schwangerschaft unbedeutend. Ihr kommen die Tränen, auch der Hebamme und der Ärztin glänzen die Augen – nicht jeden Tag holen sie den Nachwuchs einer Kollegin und Freundin ins Leben.

Jens atmet tief durch. Bei allen löst sich die Anspannung. Alexander brüllt kräftig, 52 Zentimeter misst er, 3.690 Gramm ist er schwer – geboren am 3. Februar 2012. Seine Zukunft hat begonnen.

*Namen von der Redaktion geändert

Geboren 2012

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