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WARTEN AUF EIN ORGAN

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Kurz vor Mitternacht klopfe ich an die geöffnete Tür eines Interventionszimmers im 20. Stock des Wiener AKH. Auf einem Patientenbett, das offensichtlich eben erst hereingebracht worden ist, sitzt ein Mann um die 60 und blickt entspannt auf einen kleinen, schwarzen Reisekoffer auf Rädern, der eindeutig ihm gehört. Die braunen Lederschuhe und der ausgewaschene Spitalspyjama, den er trägt, verraten, dass er das Zimmer gerade betreten haben muss. »Ich heiße Ulf Scheriau und ich bin ein stolzer Kärntner«, stellt er sich vor.

Erst seine zittrige und relativ hohe Stimme zwingt mich zu glauben, er sei krank. Sein Gesicht ist leicht verschwitzt, obwohl er ganz unauffällig atmet. Das Treffen mit Ulf Scheriau hat eine Koordinatorin eines Transplantationsteams im AKH für mich vereinbart. Obwohl es so kurzfristig war, hat Herr Scheriau meinem Wunsch zugestimmt, mit ihm über seine bevorstehende Herztransplantation zu sprechen, aber auch einige weitere Interviews nach dem »hoffentlich« gelungenen Eingriff mit ihm zu führen. Wenn alles nach Plan läuft, werden dem 63-jährigen Finanzjuristen in den nächsten Stunden sein krankes und auch sein künstliches Herz, das er seit 2015 tragen muss, entnommen und das entsprechende Organ eines hirntoten Patienten implantiert.

»Ich bin eigentlich froh, dass es losgeht und dass ich diesen Schritt setzen kann. Ich bin guter Dinge, dass ich ein aktives Leben ohne Kunstherz gestalten werde können, wenn ich die OP hinter mich gebracht habe«, sagt er und lächelt erfreut.

2010 ist Ulf Scheriau als 54-jähriger »Amateursportler«, wie er sich selbst bezeichnet, viel unterwegs und hat großen Spaß am Leben. Kurz vor dem Sommer macht er auch einen großen Gesundheitscheck. »Sie weisen Werte wie ein echter Sportler auf«, lobt ihn der zuständige Arzt. Einige Monate später, am 31. Juli 2010, ist er mit seiner Ehefrau und noch einem befreundeten Ehepaar in der Oberkärntner Schobergruppe wandernd unterwegs, um einen neuen Dreitausender zu bezwingen:

»Ich bin einen Südhang bei größter Hitze wirklich hinaufgelaufen, und in der Zwischenebene habe ich mir gedacht, das wäre eigentlich nicht gerade sympathisch, wenn man jetzt bis zur Hütte durchläuft. Dann habe ich mich dort niedergesetzt und auf die anderen gewartet. Aus meiner rückblickenden Sicht habe ich das dann so gemacht, dass ich eiskaltes Wasser aus dem Berg getrunken und mir auch das Leiberl ausgezogen habe, um meinen Oberkörper mit eiskaltem Wasser abzuwaschen. Wäre ich damals weitermarschiert, wäre vielleicht gar nichts passiert, doch ich bin dort stehen geblieben. Kurz darauf habe ich angefangen, leicht zu frösteln. Da dürften die Arterien ruckartig zusammengegangen sein. Ich vergleiche das immer damit, wenn man im Frühjahr mit dem Fahrrad drei Mal um den Wörthersee fährt, ganz erhitzt ist und dann in das kalte Wasser springt. Ich habe das Wasser halt getrunken und den Oberkörper gewaschen und war nicht mehr im Bewegungsmodus.«

Haben Sie das Ihrer Frau und den Bekannten erzählt?

»Nein. Wir haben dort noch ein paar Fotos geschossen und die Bekannten haben gesagt: ›Ulf, geh du vor, du bist eh wieder der Schnellste von uns.‹ Das habe ich dann aber nicht mehr geschafft, und da dürften die Arterien schon ruckartig zusammengegangen sein, denn ich bin immer schwächer geworden. Meine Frau hat mir noch angeboten, dass sie meinen schwereren Rucksack für mich trägt. Zum Schluss hat sie versucht, beide Rucksäcke zu tragen, und hat mich gefragt, ob es bei mir überhaupt noch gehe, ob wir den Hubschrauber anrufen, den Notruf absetzen sollten. Dann sind wir endlich draufgekommen, als ich sie gebeten hatte, dass sie den Rettungshubschrauber anfordert, dass da oben am Berg die Handys nicht funktionieren. Dabei haben mich die Beine nicht mehr getragen. Ich musste mich dann dort niederlegen. Meine Frau musste, nachdem wir die letzten Wanderer waren und niemand mehr vorbeigekommen war, eine Dreiviertelstunde alleine zur Hütte laufen.«

Wie ist es Ihnen währenddessen ergangen, sind Sie bei Bewusstsein geblieben?

»Ich habe einen Schüttelfrost nach dem anderen bekommen und mir gedacht, ich muss nur bei Bewusstsein bleiben, und dann sind endlich die Bergführer gekommen. Das ist die Problematik bei einem massiven Herzinfarkt – die Bergungskette. Wenn mir das im Büro passiert, dann bin ich spätestens in 20 Minuten im OP und man kann an und für sich den Verschluss meiner Aorta relativ schnell sanieren. Bei mir hat letztendlich die OP mehr als sechs Stunden auf sich warten lassen. Der Hubschrauber ist spät gekommen, ich musste zwei Stunden auf ihn warten, dann war das schon ein Nachtflug, der nur mehr nach Schwarzach-St. Veit durchgeführt wurde. Anschließend musste ich mit dem Rettungsauto in das Klinikum Salzburg gebracht werden. Ich bin dann erst um halb eins nach Mitternacht notoperiert worden.«

Nach der Notoperation am offenen Herzen, einem dreitägigen künstlichen Koma und vielen Komplikationen danach überlebt Ulf Scheriau den starken Herzinfarkt und dessen schwere Folgen. Doch 2015 wird sein Herz so geschwächt, dass er kaum noch gehen kann. Es vergehen viele Monate, bis er im Wiener AKH die richtige, aber niederschmetternde Diagnose erhält: »Ihr Herz ist nicht mehr überlebensfähig. Eigentlich müssten wir es sofort transplantieren«, teilen ihm die Wiener Kardiologen mit. Doch es ist weder ein Spenderherz da, noch steht Ulf Scheriau auf einer Transplantationsliste. Dabei leidet seine Lunge unter einem großen Innendruck, der ein transplantiertes Herz bald abstoßen würde. Die einzige Chance, die enorme Herzschwäche zu überleben, sei für Ulf Scheriau die Implantation eines Kunstherzens, lautet die ärztliche Prognose. Es ist eine elektrische Pumpe, die direkt am Herzen und an der Aorta des Patienten befestigt, durch Kabel mit Batterien außerhalb des Körpers verbunden und betrieben wird. Ulf Scheriau stimmt dem komplexen chirurgischen Eingriff zu.

»Ich bin zutiefst dankbar, dass die Medizintechnik sich so weit entwickelt hat. Sie hat mir im Oktober 2015 mit diesem Kunstherz das Überleben ermöglicht. Ich hätte sicherlich nicht mehr auf ein Spenderherz warten können. Ich habe damals zu meiner Frau gesagt: ›Das Leben hat keine Qualität mehr, und wenn es so weitergeht, erlebe ich das Ende des Jahres nicht mehr.‹«

Fast dreieinhalb Jahre lang lebt Ulf Scheriau mit seinem künstlichen Herzen, ohne Sport und Schwimmen, ohne größere Anstrengung, als er sich Anfang 2019 auf die Warteliste für Transplantationen setzen lässt. In dieser Nacht, nur vier Wochen später, ist es so weit:

»Wir haben heute den ganzen Tag das Wetter genutzt, um im Garten zu arbeiten, und ich war schon in der Stimmung, schlafen zu gehen. Plötzlich hat das Telefon um 20 Uhr 44 geläutet. Das Telefon ist etwas weiter weg gewesen und ich konnte es nicht erreichen. Plötzlich hat es aufgehört zu läuten. Zwei Minuten später hat es bei meiner Frau geläutet. Als ich mitbekam, dass der Anruf von Wien kommt, da war für mich klar, dass es der Beginn einer längeren Abwesenheit sein wird. Am Telefon war eine Koordinatorin des Transplantationsteams aus dem Wiener AKH. Sie bat meine Frau, mir ihr Handy zu übergeben, und fragte mich anschließend, wie es mir geht, wie ich mich fühle, was ich am Abend gegessen habe. Nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich mich gut fühle, hat sie gesagt, in zehn Minuten sei das Rettungsauto da und ich würde vom Flughafen Klagenfurt nach Schwechat gebracht und dann mit dem Rettungsauto ins Wiener AKH. Jetzt sitze ich hier und warte auf die Operation«, erzählt Ulf Scheriau und verabschiedet sich von uns.

Jetzt muss er sich noch Blut abnehmen und ein Lungenröntgen machen lassen, anschließend wird Ulf Scheriau für den Operationssaal vorbereitet. Doch bevor die Herztransplantation tatsächlich beginnt und sein bereits zweimal operiertes und geschwächtes Herz durch ein »Spenderherz« ersetzt wird, muss er sich auf ein mehrstündiges Warten einstellen. Denn zuerst muss das von ihm gewünschte »neue« Herz einem hirntoten Patienten entnommen werden.

2019 wurden in Österreich 64 Herzen und weitere 544 vitale Körperorgane (Niere, Leber, Lunge und Bauchspeicheldrüse) von sogenannten Hirntoten und nach einem Kreislaufstillstand verstorbenen, schwer kranken Patienten implantiert. Im selben Jahr warteten insgesamt 837 Menschen auf ein fremdes Organ. Etwa acht bis zehn Prozent der auf ein Herz wartenden Patienten überleben die Zeit des Wartens auf das lebensrettende Spenderherz nicht.

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