Читать книгу Ein Stück Leben - Zoran Dobric - Страница 9

ORGANENTNAHME

Оглавление

Wie ist es überhaupt möglich, dass Ärzteteams vom Hirntod eines Patienten so schnell erfahren und daraufhin eine so aufwändige, vier bis fünf Stunden dauernde Operation in derart kurzer Zeit vorbereiten? Vor allem: Wie und wo finden die Ärzte die richtigen Patienten, die die entnommenen Organe erhalten? Für einen Laien wie mich ein nahezu unmögliches Unterfangen. Den Transplantationsteams steht aber dafür ein riesengroßes Sammelsurium an medizinischen, organisatorischen und Transportunternehmen zur Verfügung. Tausende von Menschen europaweit werden in kürzester Zeit mobilisiert und sind in der Lage, gemeinsam auf ein einziges Ziel, die Transplantation eines Organs, hinzuarbeiten.

Leiter der Transplantationsabteilung:

»Das ist immer ein Event, den wir nicht vorplanen können. Wir kriegen plötzlich ein Herz-Angebot. Da werden wir von Eurotransplant (gemeinsame Koordinationszentrale für acht EU-Länder, Anm.) kontaktiert. Unser Koordinator nimmt die Daten auf, kontaktiert dann mich, egal wo ich bin oder welche Uhrzeit es ist. Und ich muss anhand der Daten, die ich bekomme, über das Spenderorgan entscheiden: »Ja, es ist von der Qualität sehr gut, oder wir brauchen noch weitere Befunde.« Wenn ja, dann gebe ich grünes Licht, dass die Koordinatoren die Transplantation organisieren. Die müssen einen Operationssaal organisieren, ein Intensivbett, ein Team von Anästhesisten, ein Chirurgenteam, das die Transplantation und die Organentnahme auch durchführt. Mitunter müssen sich Rettung, Hubschrauber, Flugzeug, Spenderspital mit dem Organentnahmezentrum akkordieren, damit alle Teams ihre Aufgaben nach Zeitplan erledigen und diese Operation dort, die Organentnahme, sehr rasch über die Bühne geht. Dann muss alles zeitlich perfekt koordiniert sein, damit das Organ nicht so lange außerhalb des Körpers ist. Das klingt nach sehr viel und ist auch ein unglaublicher Aufwand an Organisation, aber unsere Koordinatoren sind sehr gut geschult und können so eine Transplantation innerhalb von eineinhalb Stunden komplett organisieren.«

Noch sieht der Operationssaal fast verlassen aus. In der Mitte steht der OP-Tisch, auf dem ein bewusstloser und an die Beatmungsmaschine angeschlossener Mann liegt. Die Anästhesistin blickt abwechselnd auf den Patienten und auf einen Bildschirm. Dabei kontrolliert sie, ob ihre Anästhesiedosierung für den Patienten und die bevorstehende Operation ausreichend ist. Dann werden der Kopf und die jeweils nach links und rechts ausgestreckten Arme des Patienten mit einem grünen Tuch abgedeckt. Zwei OP-Krankenschwestern desinfizieren, rasieren und desinfizieren seinen Brustkorb wieder und auch den Bauch. Vor knapp fünf Stunden wurde bei diesem Patienten der Hirntod diagnostiziert. In einem sechsstündigen Verfahren untersuchten ihn zwei Neurologen unabhängig voneinander und stellten fest, dass die Gesamtfunktionen seines Hirnstamms, Klein- und Großhirns unwiederbringlich erloschen waren. Weil der Hirnstamm für die Steuerung der essenziellen Lebensfunktionen des Menschen, u. a. die Atmung, zuständig ist, bedeutet sein irreversibler Ausfall den sehr baldigen Tod für den Betroffenen. Aufgrund des Sauerstoffmangels erstickt der Mensch, sein Herz kommt zum Stillstand und schon relativ rasch sind die Todeszeichen wie Leichenstarre, Totenflecken und Fäulnis an seinem Körper zu erkennen.

Mit dem äußeren Absterben des menschlichen Körpers läuft parallel auch ein baldiges und sukzessives Absterben seiner inneren Organe. Genau das müssen die Transplanteure verhindern, möchten sie die inneren Organe eines Hirntoten bei anderen Personen implantieren. Der hirntote Patient kann nicht selbstständig atmen, darum muss er durch eine Beatmungsmaschine mit Sauerstoff versorgt und sein Kreislauf künstlich aufrechterhalten werden. Obwohl sich der als hirntot diagnostizierte Mensch in einem unwiderruflichen Sterbeprozess befindet, bleiben bei ihm noch mindestens 30 weitere wichtige Lebensfunktionen erhalten, solange er künstlich beatmet wird. Eine hirntote Schwangere etwa kann trotzdem ihre Schwangerschaft vollenden und durch einen Kaiserschnitt ein lebendes Baby auf die Welt bringen.

Leiter der Transplantationsabteilung:

»Der Kreislauf des hirntoten Organspenders wird künstlich durch intensivmedizinische Maßnahmen erhalten. Das hält aber auch nicht ewig, nur eine gewisse Zeit. Das ist die beste Möglichkeit, dass die Organe nachher für eine Transplantation geeignet wären, da sie warm und mit sauerstoffreichem Blut versorgt werden. Dann kommt der chirurgische Akt, dass wir hier das Ganze abkühlen und die einzelnen Organsysteme mit speziellen Flüssigkeiten durchströmen lassen, damit sie außerhalb des Körpers weiter am Leben gehalten werden, damit sie nachher für die Transplantation geeignet sind. Das Setzen der Klemme an der Hauptschlagader ist ein entscheidender Schritt, nach dem das Herz sofort abgekühlt wird. Dann muss man warten, bis auch die anderen Organe mit genug Flüssigkeit durchspült worden sind, kühl genug geworden sind – das ist von Organ zu Organ verschieden. Beim Herzen sind es ungefähr zwei Liter Flüssigkeit, die wir durchfließen lassen. Bei der Lunge sind es fünf bis sechs Liter Flüssigkeit, weil das ein größeres Organ ist. Dann folgt einfach der Akt der chirurgischen Entfernung der Organe. Bei einer normalen Organspende ist es so, dass das Herz ja schlägt. Das Herz schlägt beim Organspender, weil er über einen Beatmungsschlauch mit Sauerstoff versorgt wird. Und solange das Herz Sauerstoff hat, schlägt es. Das Herz ist ein Muskel und braucht deshalb sehr viel Sauerstoff, damit es ordentlich arbeiten kann. Wir können es aber durch Abkühlen und durch diesen künstlichen Tiefschlaf, in den wir es versetzen können, zum Stillstand bringen und längere Zeit außerhalb des Körpers am Leben erhalten, auch ohne dass es schlägt. D. h., es wird zum Stillstand gebracht, dann wird es chirurgisch entfernt, in eine spezielle Box gegeben, die steril ist, auf Eis gelegt und so rasch wie möglich ins Spital gebracht, wo der Organempfänger wartet.«

Mittlerweile ist der OP-Saal mit dem hirntoten Patienten randvoll mit Menschen gefüllt. Jetzt verstehe ich, warum Organtransplantationen hauptsächlich an Wochenenden stattfinden. Auf so viel OP-Personal und mehrere OP-Räume, die man anschließend auch für die Implantation aller Organe, die dem Spender entnommen werden, braucht, könnte kein Spital der Welt unter der Woche und tagsüber verzichten: einige Bauchchirurginnen und -chirurgen, ein Herzchirurg, Anästhesistinnen und Anästhesisten, OP-Schwestern und -Gehilfen, Transplantationskoordinatorinnen, Medizinstudentinnen und -studenten. Nur für die Organentnahme sind es insgesamt 17 Menschen mit grünen Hosen, Kitteln, Hauben und Mundschutz, die sich um den OP-Tisch bewegen oder stehen und auf die Befehle des Hauptchirurgen warten. Um zwei Uhr setzt dieser das Skalpell an den oberen Rand des Brustkorbs, knapp unter dem Hals des Organspenders, und zieht es langsam hin in Richtung Schambein. Gefühlte 15 Minuten später sind der Brustkorb und der Bauch des Patienten geöffnet. Fast eineinhalb Stunden lang »präparieren« ein Bauchchirurg und seine Kollegin die Organe des hirntoten Patienten, die entnommen werden. Sowohl die Organe als auch für die Transplantation wichtige Blut- und andere Gefäße werden vom Fettgewebe des Patienten befreit und für die Operateure freigelegt. Durch diese langwierige Arbeit verschafft sich der Chirurg klare Sicht zu jedem Organteil, um den Schnitt richtig zu setzen und damit die besten Voraussetzungen für eine gelungene spätere Implantation, aber auch für ein langes Leben und die gute Funktionalität des Organs im Körper des Organempfängers zu schaffen.

Unweit des OP-Tisches sind einige Infusionsständer, auf denen drei bis fünf Liter fassende, mit farbloser Flüssigkeit gefüllte Plastikbehälter hängen. Es ist eine auf bis zu vier Grad Celsius gekühlte Flüssigkeit, die durch die inneren Organe, aber auch in der Bauch- und Brusthöhle des hirntoten Patienten fließt, um die inneren Organe abzukühlen. Als der Herzchirurg seinen Platz direkt an dem geöffneten Brustkorb des Patienten einnimmt, verändert sich plötzlich die Stimmung im OP-Saal. Obwohl alle versuchen, etwas näher zum OP-Tisch zu gelangen, herrscht absolute Stille im Raum. Der Augenblick, in dem das Herz des Patienten entnommen wird, rückt näher. Der Herzchirurg setzt eine Klemme auf die Hauptschlagader. Ich richte meine Kamera auf den EKG-Monitor. Der Blutdruck und die Zahl der Herzschläge des Hirntoten werden niedriger, die EKG-Linie wird unruhiger. Die künstliche Beatmung und sämtliche Medikamentenzufuhr werden eingestellt. Ins Herz wird eine kaliumreiche, kalte Flüssigkeit geleitet, die bald zum Herzstillstand führt. Genauso werden auch die übrigen zur Entnahme vorgesehenen Organe mittels einer anderen, bis zu vier Grad Celsius kalten Flüssigkeit durchgespült und weiter abgekühlt. Die Zusammensetzung der kühlenden Flüssigkeit ist unterschiedlich, weil jedes Organ eine ganz eigene Kombination von ernährenden Stoffen braucht, um so lange wie möglich gut erhalten und am Leben bleiben zu können. Einerseits wird dadurch die Zeitspanne zwischen der Organentnahme und der Implantation länger, wodurch sich der Spielraum beim Organtransport vergrößert; andererseits wird das Leben des Organempfängers durch ein gut erhaltenes Organ nach der Transplantation qualitätsvoller und länger. Die Herzlinie auf dem EKG-Monitor ist bereits zackenlos – gerade.

Nachdem das Herz genug abgekühlt wurde, schneidet es der Herzchirurg heraus, packt es mit beiden Händen zusammen, presst es auf seinen eigenen Bauch und eilt in die andere Ecke des OP-Saals. Er setzt das Herz in eine kleine Metallschüssel mit etwas Flüssigkeit, begutachtet es eine Zeit lang und legt es anschließend in ein Plastiksackerl ab. Während er mit beiden Händen den oberen Rand des Sackerls hält, füllt seine Assistentin eine farblose Flüssigkeit gute fünf Zentimeter über den oberen Rand des Herzens nach. Mit einem dünnen Band verschließt der Herzchirurg den Beutel und steckt ihn in ein weiteres leeres Plastiksackerl, diesmal in ein größeres. Auch dieses Sackerl wird mit einer kalten Flüssigkeit befüllt und verschlossen. Dann kommt die gesamte Verpackung in ein weiteres Plastiksackerl hinein und kalte Flüssigkeit obendrauf. Auch jenes wird mit einem Band sorgsam verschlossen und in eine Kühlbox, die zu zwei Dritteln mit Eis gefüllt ist, gelegt und zugedeckt.

Währenddessen schneiden die Bauchchirurgen zuerst die Leber und anschließend weitere Organe aus dem Leichnam des Organspenders. Auch sie werden in je einer Schüssel abgelegt und vorerst mit einem Stück nasser Gaze zugedeckt. Einige kleine Teile der Milz werden in Plastikbehälter mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt und verpackt. Später erfolgt im Labor deren Untersuchung, um ihre Werte zu protokollieren und den anderen medizinischen Daten des Organspenders beizufügen. Die Medizin bezeichnet diesen Vorgang als Gewebetypisierung. Nicht alle Menschen können ein jedes Organ empfangen, ohne es abzustoßen. Besonders wichtig ist die Gewebetypisierung bei der Nierentransplantation.

Während zwei Bauchchirurgen die entnommene Leber begutachten und sie vom Fettgewebe befreien, nähen zwei weitere Mediziner den geöffneten Bauch und den Brustkorb des Organspenderleichnams zu. Dann reinigt man die Haut von Blut- und weiteren Spuren. Anschließend wird der Leichnam in die Tücher, die unter ihm lagen – Schicht für Schicht, wie eine Zwiebel –, gehüllt und zugeknotet. Als die Arbeit vollbracht ist, liegt vor mir ein großes Bündel, dem nicht anzusehen ist, dass es einen Leichnam verbirgt.

Ein Stück Leben

Подняться наверх