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Die russische Mieterin

V

iele, die je in einer Stadt am Meer gelebt haben, konnten sich bestimmt an eine Sexszene am Strand erinnern, und dann, Jahre später, einen umherlaufenden kleinen Bastard wahrnehmen.

In unserer Stadt wohnte eine Frau am Strand – viel näher am Meer als wir – mit dem Namen Etera.

Seit ich denken kann, hatte Etera stets graue Haare. Sie kämmte sich das lange Haar, flocht es zu einem Zopf und befestigte es kreisförmig am Hinterkopf. Sie war eine stattliche Frau und besaß eine große Wohnung, deren Zimmer sie vermietete. Sie hatte zwei Söhne – Anzori und Avtori –, einen Hund namens Pantscho, einen bettlägerigen Mann, Iascha, und eine Katze, die sie wie ihr eigenes Kind liebte.

Von der täglichen Arbeit erschöpft und ausgelaugt, versuchte Etera, ihren Frust bei anderen abzulassen. Also sammelte sie jeden Abend Flaschen, Tüten und Plastikmüll vom Strand auf und entfachte im Hof ein großes Feuer. Wehe, ein unzufriedener Nachbar beschwerte sich auch nur mit einem Wort, sie veranstaltete daraufhin ein riesiges Theater. So zeterte und schimpfte Etera jeden Abend, bis sie sich schließlich in ihren Sessel fallen ließ, ihre Katze auf den Schoß nahm und Fernsehserien schaute.

Mit der Zeit veränderte sich Eteras Wohnung, auch ihre Mieter wechselten einander ab. Sie vermietete lediglich drei Zimmer, die in der Regel Studenten, Ausländer, geschiedene und, laut Etera, »sau-fende Männer, Huren und Arschlöcher« bewohnten. Länger als drei Monate blieb keiner bei ihr, was die Frau sehr ärgerte, denn sie hatte keine Lust, alle drei Monate neue Mieter zu suchen.

Ihre Söhne waren richtige Nichtsnutze: Avtori, der ältere, war ähnlich seiner Mutter kräftig gebaut, nahezu stattlich. Er schlief für gewöhnlich bis nachmittags, in der Nacht stand er nicht einmal zum Spucken auf. Neben seinem Bett stand eine Teekanne, die Etera einst als Mitgift bekommen hatte, er griff danach und spuckte den Auswurf hinein. Der jüngere, Anzori, war hochgewachsen und wohlgebaut, wie sein Vater. Er versuchte, immerfort an Geld zu kommen, war pfiffig und entwickelte ständig neue Ideen, doch bis er eine davon umsetzen konnte, fiel ihm schon eine neue ein. Sein ganzes Leben lang war er in unterschiedliche Geschäfte verwickelt, hatte nie Geldprobleme und erneuerte seinen Kleiderschrank alle drei Monate – je nach Jahreszeit – in einem Second-Hand-Laden. Besonders gerne kaufte er neue Sonnenbrillen.

Etera sorgte sich um nichts. Doch sobald die Jungs über dreißig waren, begann sie sich Gedanken zu machen. Sie wollte schließlich Enkelkinder. Andauernd hielt sie nach verschiedenen Mädchen Ausschau, um eine geeignete Frau für ihre Söhne zu finden, aber Avtori verspürte keine Eile, zu heiraten, außerdem war er zu faul, das Haus zu verlassen, während für Anzori eine Ehefrau zusätzliche Kosten bedeutete.

An einem verregneten Herbstabend kam eine Frau, umhüllt von einem Schal und mit einem Regenschirm in der Hand, in unseren Hof. Außerdem trug sie eine Strickmütze und Handschuhe, lief mit leichten Schritten und klappernden Schuhen und lächelte unentwegt. Aus der Mütze waren Sinas – so hieß die Frau, wie wir später erfuhren – kurze, schwarze Haare zu sehen. Sie hielt bei einer Pfütze irritiert inne, krümmte ihre Beine auf eine merkwürdige Weise und dachte einige Sekunden darüber nach, ob sie über die Pfütze springen, sie umgehen oder durch sie hindurch latschen sollte. Am Ende entschied sie sich dafür, die Pfütze zu umgehen und ging die enge Treppe zu Eteras Wohnung hinauf.

Sina mietete ein Zimmer. Sie brachte nicht viel mit, nur die notwendigste Kleidung in einem kleinen Koffer. Sie stellte drei Bücher ins Regal, eine Topfblume ans Fenster und eine elegante Nachtlampe neben das Bett.

Die Nachtlampe war das Einzige, was Sina aus dem väterlichen Haus mitgenommen hatte, sie mochte sie sehr. Sie hatte bereits in vielen Städten gelebt und die Lampe überallhin mitgenommen. Das vom Vater verstoßene Mädchen besaß nur diesen einen wertvollen Gegenstand, der sie an ihre Kindheit und an die verstorbenen Eltern erinnerte. Sie hätte auf alles verzichten können, aber nicht auf diese Nachtlampe. Etera warf von Anfang an ein Auge auf die Lampe. Sie spürte innerlich, dass sie letztendlich ihr gehören würde, Sina würde die Lampe ganz bestimmt im Zimmer zurücklassen.

So vergingen Tage, Wochen, Monate. Sina saß entweder am Fenster und schaute aufs Meer oder nahm den Regenschirm und spazierte an sonnigen Tagen am Strand. Sie arbeitete nicht und redete auch mit niemandem im Hof, denn keiner von uns konnte Russisch. Sina sprach zwar Georgisch, aber sie grüßte und redete dennoch auf Russisch mit allen. Es gelang ihr sogar, Eka, der Verkäuferin aus dem Nachbarschaftsladen, nach dreistündigem Leiden und sehr viel Mühe zu verstehen zu geben, was sie kaufen wollte. Sie las ihre drei Bücher in Endlosschleife, lauschte dem Prasseln des Regens auf das Dach, streichelte Eteras Katze und immer dienstags weinte sie die ganze Nacht.

Sobald der Sommer begann, stellte Sina ihre eleganten Bikinis und Badeanzüge zur Schau und lag bis zum Abend in der Sonne, mal las sie, mal aß sie, mal lag sie einfach nur da und lächelte. Manchmal setzte sich Anzori neben sie. Anfänglich beachtete Sina ihn gar nicht, aber mit der Zeit ließen die weißen Zähne, das honigfarbene Haar und die langen, eleganten Finger des Jungen die Frau neugierig werden.

Eines Tages erwischten wir Sina und Anzori dabei, wie sie sich unter dem Regenschirm umarmten. Nun ging Sina auch abends zum Strand und kehrte bis spät in die Nacht nicht nach Hause zurück. Einige Male wurden böse Gerüchte über das glückliche Paar in die Welt gesetzt.

Etera war so sehr von Sinas Nachtlampe verzaubert, dass sie sich für den neuen Schwarm ihres Sohnes nicht einmal interessierte. Sie pflegte die Nachtlampe mit größter Hingabe und entstaubte sie jeden Morgen, während sie liebevoll mit dem leblosen Gegenstand redete.

Auf den Sommer folgte der Herbst. Anzori verschwand spurlos, eine neue Idee verschlug ihn ans andere Ende der Welt. Sina war weder am Fenster, noch mit dem Regenschirm in der Hand am Strand zu sehen. Nur Etera ging morgens in ihr Zimmer, um einen Blick auf die Nachtlampe zu werfen und ein paar Worte auf gebrochenem Russisch mit deren Besitzerin zu wechseln.

Gegen Herbstende verbreitete sich im Hof das Gerücht, Sina, die Russin, sei schwanger. Im Winter begriffen wir, dass die gehässige Tsiala nicht log, Sina war tatsächlich schwanger. Aber ihr war nicht bewusst, dass sie nun zum Klatsch- und Tratschobjekt werden sollte. Am Ende des Winters spazierte Sina mit einem bereits weit nach vorne gewölbten Bauch im Hof umher, kaufte Milch und kehrte unverzüglich nach Hause zurück. Von dieser Neuigkeit erschüttert, verließ Anzori die Wohnung überhaupt nicht mehr, er saß allein in seinem Zimmer und heckte einen Plan aus, wie er der unwürdigen Sina das Kind wegnehmen könnte. Wichtig war zunächst, dass Sina die Kosten für die Geburt des Kindes trüge.

Ende Mai gebar Sina einen Jungen. Sie gab dem Kind den Namen seines Großvaters, Olaf, und wickelte es in eine weiße Decke. Sie bezahlte die restliche Miete bei Etera und wollte fortgehen. Seit Langem schon plante sie, in das leerstehende Haus ihres Vaters zurückzukehren, und endlich passte der Zeitpunkt dafür.

Aber wie jeder unglücklichen Märchenprinzessin sollte auch Sina das Pech widerfahren. Anzori nahm ihr das Kind weg und Etera nutzte die Gelegenheit und versteckte während des ganzen Durcheinanders, Schreiens und Tobens die Nachtlampe.

Seit diesen Ereignissen ist nicht allzu viel Zeit vergangen. Die alte Etera sucht noch immer neue Mieter, Sinas Junge wächst ohne Mutter auf – er kann sich nicht einmal vorstellen, dass es Kinder gibt, die Mütter haben. Währenddessen spaziert eine Frau mit einem Tuch um die Schultern bis heute am Strand entlang. Sie beobachtet die kleinen, spielenden Jungs aus der Ferne und hat die Hoffnung endgültig verloren, dass sie das Haus ihres Vaters je wiedersehen wird.

Das dreckige Zimmer in Eteras Haus wird noch eine lange Zeit von jener Nachtlampe erhellt werden, die durch ihr Alter jedoch langsam verbleicht.

Wie tötet man Billy Elliot?

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