Читать книгу Wie tötet man Billy Elliot? - Zura Abashidze - Страница 7

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Hauptsache, sie verflucht ihn eines Tages

M

ein Vater rief mich um drei Uhr nachts an und verkündete, er sei verliebt. »Frag aber nicht nach ihrem Namen«, fügte er hinzu und behauptete, ich würde ihn auslachen. Sofort stellte ich mir jede mögliche Option vor. Ich erinnerte mich an alle abscheulichen Frauen in der Menschheitsgeschichte, dachte an jede Donara, Lamara und Tsinari, denen ich während meines kurzen Lebens begegnet war, und dennoch verblüffte mich seine spätere Antwort: Die neue Freundin meines Vaters trug den gleichen Namen wie meine Mutter.

Zuerst lachte ich nur für mich. Dann lachte ich über ihn, nannte ihn hirnlos und dämlich und fragte ihn, wieso er sich von ihr getrennt hatte, wenn er wieder meine Mutter finden wollte. Doch er verhielt sich wie ein richtiger Mann und entgegnete: »Was weißt du schon, Halbwüchsiger? Meine Nana ähnelt deiner Nana in keinster Weise. Sie kann kochen, spielt Gitarre, ist herzlich und liebevoll, sie bleibt nicht bis Mitternacht wach und steht auch nicht erst gegen Mittag auf, sie sagt nicht: ›Ich habe keine Lust, mir die Beine zu rasieren‹, und wenn es dich wirklich interessiert, sie stöhnt auch viel geiler.«

Obwohl mich seine Worte trafen, ließ ich mir nichts anmerken.

Wenn man meinem Vater Glauben schenkt, absolvierte meine Mutter die Schule mit lauter Einsen – einzige Unterstützung war das ständige Gezeter ihrer Mutter. An der Hochschule wurde sie mithilfe der Gelder ihres Vaters angenommen, das Diplom mit Auszeichnung erhielt sie mit der Unterstützung guter Bekannter. Ihre Weltreise finanzierte sie durch den Verkauf von Familienschätzen. »Wer in Österreich hätte schon eine gefärbte Blondine gebraucht?«, so mein Vater.

Laut ihm hat meine Mutter auch Proust nur stellenweise gelesen, die Filme von Goddard lediglich unter Gähnen angeschaut, sie hat keinen blassen Schimmer von Stummfilmen und – obwohl es auf den ersten Blick nicht sofort auffällt – ist sie nichts weiter als ein Landei.

Mein Vater sagte, sie musste vor der Ehe richtig schuften, ihre Mutter ließ sie den Boden blitzblank sauber wischen. Doch die Heirat stieg ihr zu Kopf und plötzlich erledigte sie weder die Wäsche, noch beachtete sie das mürrische Gesicht ihrer Schwiegermutter. Auch die Kindererziehung überließ sie ihrem Mann.

Mein Vater log mich zwar häufig an, doch wollte man ihm Glauben schenken, so war meine Mutter nicht naturblond, sondern färbte sich die Haare. Ihre Brüste hingen nach unten, ihre Hände und das Gesicht waren von Falten überzogen, »einzig ihre Beine sind so lang, wie die am elften September gesprengten Zwillingstürme, aber wer zum Geier braucht ihre langen Beine?«, meckerte mein Vater, »sie soll sie ihren Eltern in den Arsch stecken.«

»Wenn es dich wirklich interessiert«, ließ er mich wissen, »ich verstand mich mit all ihren Freundinnen prächtig, vor allem mit denen, auf die sie eifersüchtig war. Wir hätten alles unter uns klären können, aber diese Zicke hat einen riesen Aufstand gemacht, mit Klagen und Rechtsanwälten, sodass ich nicht einmal zu Wort kam.«

»Das Einzige, was man ihr als einen Pluspunkt anrechnen muss, sind ihre Sprachkenntnisse, Deutsch, Tschechisch, aber auch das ist egal«, – der Typ wollte nicht aufhören –, »sie ist eine Schlange und eine Schlange beherrscht alle Sprachen, sie weiß, wie sie die Menschen vergiften kann. Vielleicht nicht alle Menschen, aber sie weiß ganz genau, wie sie mich vergiftet. Kurz gesagt, sie ist zwar deine Mutter, aber ich bitte dich, ihr nicht nachzueifern, sonst setze ich mich neben unseren Nachbarn, das Lästermaul Giwi, und werde ihm sagen, dass ich besser einen Hocker gebaut hätte, als dich zu zeugen. Das mache ich! Du wirst schon sehen!«

Lassen wir die Anschuldigungen meines Vaters beiseite, man kann ihm schlecht widersprechen, aber eines muss gesagt sein: Von meiner Mutter, die mit allerlei Menschen befreundet war, die als Studentin vor der orthodoxen Qaschueti-Kirche mit einem flatternden Kleid umherlief und in den 90ern Spielkarten und Kaffee für ein bisschen Kleingeld verkaufte, könnte man schlecht irgendwelche Sentimentalitäten oder das Kochen von Gulasch verlangen. Sie lebte zurückgezogen und nur für sich, las ausländische Literatur, ähnlich meiner Großmutter, die damit vor ihren Freundinnen prahlte, und schaute sich manchmal ein paar Filme hintereinander an.

Aber wozu eigentlich? Niemand hatte die mit dem Tiflis-Batumi-Zug tonnenweise mitgeschleppten Bü-cher gewürdigt, niemand hatte die aus den unterschiedlichsten Regionen mitgebrachten Kühlschrankmagnete gewürdigt, niemand hatte ihre Diplome mit Auszeichnung gewürdigt. Meine Großmutter bat meine Mutter einige Minuten vor ihrem Tod: »Geh bitte, lass mich wenigstens vor dem Tod in Ruhe, und schau mich nicht mit diesem ruhigen und unerschütterlichen Blick an.«

»Fick dich doch«, zeterte meine Mutter und versuchte, mit einer Fackel böse Geister zu verjagen.

Drei Monate darauf starb mein Großvater.

Fünfzehn Jahre später mein Vater.

»Du bist ein guter Junge. Dein Herz erweicht, wenn du dir traurige russische Serien anschaust, du liest Abenteuerbücher und hilfst Omas und Opas beim Tragen schwerer Tüten. Du ähnelst in keiner Weise dieser Schlange, die nichts mit Liebe tut und auch geschmacklose Gerichte nicht einmal mit einem süßen Wort würzen kann«, schimpfte mein Vater, während er seinen Koffer packte. »Ich werde jetzt fortgehen und dich bei ihr lassen, aber ich werde eines Tages wiederkommen, mit zwei Karten für eine Schifffahrt in der Hosentasche. Wir bereisen alle Strände auf der ganzen Welt und ich bringe dir bei, wie man Alkohol trinkt. Aber fang nicht ohne mich zu rauchen an, auch nicht, dich zu rasieren, ich muss zum ersten Mal die Rasierklinge über dein väterlicherseits schönes und mütterlicherseits verdammtes Gesicht gleiten lassen.«

Ach, wie viele Tränen haben wir damals vergossen – weinende Männer, unerhört, nicht wahr? Aber wir weinten dennoch, nicht so, wie die missgebildeten und behinderten Männer aus den Filmen, nein, wir weinten wie richtige Männer.

Als mein Vater uns verließ, war keinerlei Trauer in dem Gesicht meiner Mutter zu sehen, weder weinte sie, noch zündete sie sich eine Zigarette an. Zu Hause schloss sie mit strengem Gesichtsausdruck die Tür, stand einige Sekunden lang sinnlos rum, griff nochmals nach der Türklinke, um zu überprüfen, ob sie wirklich verschlossen war, und setzte sich schließlich in den Sessel. Mit ausgestreckten Beinen und hängendem Kopf atmete sie tief ein und aus. In dieser Position hatte ich sie noch nie gesehen.

Erst zog sie den einen Schuh aus und warf ihn auf den Boden, dann den zweiten. Sie befreite sich aus der Jacke und hängte sie über die Rückenlehne, streifte ihre Socken ab und bat mich, sie zuzudecken.

In jener Nacht schlief sie im Sessel, zusammengekauert – schutzlos.

Es war keine großartige Veränderung zu sehen, wir waren schließlich an seine Abwesenheit gewöhnt, doch wir spürten, dass es dieses Mal anders war. Er verließ uns auf eine andere Art, wir wussten beide, dass er diesmal nicht zurückkommen würde, und dennoch nahmen wir es uns nicht allzu sehr zu Herzen. Wir tauchten für zwei Tage vollends in unsere Welt ein, gaben uns den Büchern hin, schauten langweilige westeuropäische Filme über das Leben und begriffen, dass wir genug gelernt hatten und diese abgenutzten, prätentiösen Filme uns nichts mehr geben konnten.

Was heißt hier eigentlich: »Wir begriffen«? Was konnte ich begreifen? Sie war diejenige, die begriff.

Am Montag flüchteten wir uns ins normale Leben. Mutter kehrte zur Arbeit zurück, ich zum Lernen. Wir zerbrachen nicht, wir vermieden mit allen Kräften das Gespräch über die Veränderungen der letzten Zeit, wir versteckten unsere Ängste vor dem anderen.

Eine Woche lang lebten wir so, bis wir begriffen, dass die merkwürdigen Kümmernisse ganz von selbst entstanden waren.

Erst erschien uns Vaters Zahnbürste im Badezimmer überflüssig, also entsorgten wir sie ganz schnell. Am nächsten Tag machte mich jedoch der Anblick von zwei anstatt drei Zahnbürsten traurig. So begriffen wir, dass er nun in einem anderen Haus lebte, sich in einem anderen Haus die Zähne putzte und in einem anderen Haus über mich, über sie und über uns nachdachte.

In der Küche ging der Wasserhahn kaputt. Das Wasser konnte nun ungehindert herausfließen – im Gegensatz dazu, hatten wir nicht die Kraft zum Weinen und Tränen vergießen. Wir stürzten mit Handtüchern zum Wasserhahn und versuchten, die endlose Strömung zu stoppen, konnten sie aber nicht aufhalten. Letztendlich gaben wir auf, legten uns auf den nassen Boden, zündeten gleichzeitig eine Zigarette an und wussten, dass niemand den kaputten Wasserhahn reparieren würde.

Und als ob das nicht genug wäre, wurde eine Woche nachdem Vater fortgegangen war, der Strom wegen einer unbezahlten Rechnung abgestellt. Vater kümmerte sich bisher um die Rechnungen, wir mussten uns über solch vermeintlich unbedeutende Angelegenheiten keine Gedanken machen. Wir saßen im Dunklen, sagten einander kein Wort und versuchten, seine Abwesenheit zu verdrängen. Wir verletzten damit sicher die Göttin der Trauer, falls es eine solche gab, denn in unserer kleinen Dreizimmerwohnung wurde keine einzige Träne vergossen.

Der Strom wurde wieder eingeschaltet, der Wasserhahn wurde repariert, an dem ausdruckslosen Gesicht meiner Mutter, an ihren zitternden Händen und ihrer Trauer aber konnte ich nichts ändern.

Ich weiß zwar, dass meine Mutter kein Landei ist, sie hat sicher auch Proust nicht nur überflogen und ihre Diplome sind auch nicht gekauft, aber ich widersetze mich meinem Vater dennoch nie.

Ich weiß, dass auch meine Mutter eines Tages böse Worte über ihn verlieren wird.

Und das völlig zurecht.

Sie wird ein paarmal schreien, ihn »Motherfucker« nennen und gründlich verfluchen, bis sie wieder zum Aberglauben zurückkehrt.

Ihr habt keine Ahnung, wie sehr ich mir wünsche, dass sie ihn noch einmal verflucht, dass sie noch einmal mit Schimpfwörtern um sich wirft, dass sie noch einmal die Wand bespuckt und mich auch aus ihrem Leben, aus der Dreizimmerwohnung mit niedriger Decke, aus einem Roman ohne Helden, wie einen bösen Geist fortjagt.

Sie soll mich in eine bessere Welt jagen, wo Mädchen und Jungs nach neuen Ländern suchen, wo die Mädchen vor der Qaschueti-Kirche, Zigaretten im Mund, ihre Kleider noch immer flattern lassen; wo die blonden, kraushaarigen Jungs ihre Locken von vorne nach hinten und von links nach rechts kämmen.

Ach, ihr habt keine Ahnung, wie sehr ich mir wünsche, im abgelegenen Wald von Bordschomi von einer Vollmondnacht eingeholt zu werden; auf einem Schiff mit ausgespannten Segeln die Matrosen zu zählen und ihnen Namen auszudenken. Wie sehr ich mir wünsche, am Strand ein riesiges Lagerfeuer zu entfachen und zusammen mit anderen Mädchen und Jungs darüber zu springen; wie sehr ich mir wünsche, in die Cafés fremder Städte zu flüchten; mir in einer katholischen Kirche Orgelmusik anzuhören.

Wenn ihr nur wüsstet.

Hauptsache, sie verflucht ihn eines Tages.

Hauptsache, der Bastard kommt zurück.

Hauptsache, sie lassen mich fortgehen.

Weit, sehr weit weg, hinter die Meere und Berge, in eine andere Welt, in eine andere Geschichte, mit völlig anderen Spielkarten.

Wie tötet man Billy Elliot?

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