Читать книгу Wie tötet man Billy Elliot? - Zura Abashidze - Страница 8

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Zwei von uns drei werden heute Abend Sex haben

W

ir hatten viel getrunken. Draußen war es frostig, die Fensterscheiben waren angelaufen. Der Strom war abgestellt worden, wir hatten die Nebenkosten nicht bezahlt. Ich sah die Gesichter meiner Freunde blass im Kerzenschein.

Saschka war mit allem unzufrieden. Er hatte sich den Samstagabend anders vorgestellt, es lief nicht so, wie er es wollte. Er war zwanzig, groß, und hatte schwarzen Augen. Mal sah er hübsch, mal hässlich aus. Er liebte es, Komplimente zu bekommen. Seine kleinen Ohren waren stets dazu bereit, Schmeicheleien aufzunehmen, er konnte sogar in einer völlig unpassenden Umgebung und noch unpassenderen Situation über sich selbst, sein Aussehen und seine guten Eigenschaften zu prahlen beginnen.

Er mochte es, dass ich in seinem Schatten stand, er mochte es, dass ich mich um ihn kümmerte, er hielt sich für eine Königin, während ich mal die unverheiratete Kammerzofe, mal eine Magd für ihn war. Manchmal überkam es mich und ich machte ein riesiges Theater mitten auf der Straße. Dann beruhigte ich mich wieder, sehnte mich nach ihm und rief ihn an. Auch er könnte mich anrufen, aber er tat es nicht, denn er wusste, dass ich immer wieder anrief.

Er hatte Minderwertigkeitskomplexe. Mal dachte er, er sei uninteressant – er litt unter mangelndem Intellekt – mal fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er der Hübscheste war, konkurrenzlos und jung, und beruhigte sich wieder.

Er liebte alles, was funkelte und glänzte, er liebte Farbfilme, nie schaute er Schwarz-Weiß-Filme an, auch alte Musik konnte er nicht leiden. Sein Leben war voll von Dramen, er machte aus einer Mücke immer gleich einen Elefanten. Grundlos, nur um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, machte er ein gelangweiltes Gesicht oder setzte sich alleine abseits, damit wir ihn bemerkten und uns Sorgen um ihn machten.

Saschka hatte bereits mehrere Freunde, aber er machte mit allen sehr schnell wieder Schluss. Der Grund war stets derselbe: Die Jungs ertrugen Saschkas Leichtigkeit und Oberflächlichkeit nicht, sie ermüdeten von seiner Falschheit und Pathetik. Am Anfang war man von seiner Schönheit, dem eleganten dürren Schnurrbart, seinem schwarz-glänzenden Haar und den auf den ersten Blick ausdrucksvollen Augen verzaubert. Saschka versuchte, sich selbst vor einer Erniedrigung zu bewahren. Sobald ihm also bewusst wurde, dass die Beziehung keine Zukunft hatte, machte er Schluss.

Am Samstagabend jammerte er betrunken:

»Du weißt doch … wäre mein Arschloch-Vater nicht gewesen, ich wäre zu einem viel besseren Jungen geworden.«

»Und zu was für einem?«, fragte ihn Esra, der auf meinem Bett lag.

»Nun, ich wäre weder eine Schwuchtel, noch würde ich von einem Bett ins nächste hüpfen.«

»Junge, du bist so verdorben, du hättest dir trotzdem in den Arsch ficken lassen«, lachte Esra.

»Nein, nein! Ich hätte studiert ... Business …«

»… Wenn du nur Grips hättest«, lachte Esra weiter.

»Ich hätte nicht die von Theo abgelegte Kleidung getragen, ich hätte bei der Saqartwelo-Bank gearbeitet …«

»Du hast doch Theo angefleht, dir das Oberteil zu leihen! Und dass du Bescheid weißt: Erst wird sie es mir ausleihen und dann dir.«

»Ich hätte dem schönsten Mädchen der Universität mitten im Gudiaschwili-Garten bei Regenschauer meine Liebe gestanden.«

»Du spinnst wohl! Seit wann regnet es in unserer Stadt?«

»Aber es regnete in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin.«

»Deine Stadt ist auch nicht viel besser, sie ist voll von homophoben Arschlöchern.«

»Was weißt du schon?«, antwortete Saschka beleidigt: »Frag doch Dewi, er weiß besser, wie gut unsere Stadt vor fünf Jahren war.« Dabei schaute er Esra an, während er auf mich zeigte.

Esra war achtzehn. Er malte, fertigte Modeschmuck an und verkaufte ihn auf der Trockenen Brücke im Zentrum von Tiflis. Sobald er ein wenig Geld in die Finger kriegte, kaufte er seinen Lieblingswodka und nahm verschiedene Typen mit nach Warketili, meist Männer und meist nur für Sex.

Einmal nahm er auch mich mit, aber als seine bucklige Schwester das Zimmer betrat – sie hoffte, gemeinsam mit Esra malen zu können – ging ich hinaus. Ich wollte sie nicht stören. Auf dem Heimweg weinte ich viel und am nächsten Tag musste ich mir noch weitere Vorwürfe von Esra anhören. Er beschimpfte mich als eine verdammte Schwuchtel, weil ich ihn erst Wodka kaufen ließ und dann nicht geblieben bin. Aber ich weiß doch, dass er seine Schwester liebt. Im betrunkenen Zustand redet er oft über sie. Auch an diesem Tag hätte er wahrscheinlich viel geweint, wenn ich geblieben wäre.

Das Leid seiner Schwester hatte auch ihn schwach gemacht, weshalb er versuchte, seine Schwäche zu verstecken. Also wurde er grob, zynisch und verachtend. Er verspottete alle. Auch in diesem Augenblick behandelte er den betrunkenen Saschka furchtbar, obwohl er ihn gut verstehen konnte.

»Wie oft spazierte ich am Strand, wie oft trank ich einen Kaffee für 50 Kopeken, aß gekochte Maiskolben und dachte über mein Leben nach …?«, seufzte der mit Pathetik und Alkohol durchtränkte Saschka.

»Hast du zufällig im zehnten Stock eines neunstöckigen Hauses gewohnt?« Esra bekam einen heftigen Lachanfall.

»Dewi, weißt du noch, wie wir Tante Zeinab am Meer wie Hunde angepisst haben und sie daraufhin unsere Köpfe mit Vorwürfen gefickt hat?«

»Ja, ich weiß es noch«, sagte ich.

»Ob sie noch lebt? Sie hatte rotes Haar, oben zusammengebunden, und einen riesigen Arsch, aber sie war eine sehr gepflegte Frau.«

»Keine Ahnung, ob sie noch lebt … Saschka, schlaf jetzt!«

»Und erinnerst du dich an Tante Lamara? Sie ging immer wieder rüber in die Türkei, pflegte dort die Alten, nebenbei verkaufte sie Zigaretten, wir haben ihr oft dabei geholfen. Sie hat uns einmal die letzte Ausgabe von Podruga geschenkt.«

»Ist das nicht eine russische Frauenzeitschrift?«, wunderte sich Esra.

»Ja, sie ist russisch, Mutti liebte diese Zeitschrift, – genauso wie wir«, antwortete Saschka.

»Meine Güte, Dewi, dieser Typ hier ist echt der Hammer, geben wir ihm öfter was zu trinken! Sag bloß, wie konntest du die Zeitschrift auf Russisch lesen?«

»Das geht dich einen feuchten Dreck an, du Arschloch.« Saschka war beleidigt.

»Komm, lass uns noch einen trinken, du weißt doch, dass ich es nicht ertragen kann, wenn ihr euch streitet.«

»Dewi, wir besuchen unsere Stadt doch noch einmal, oder?«

»Keine Ahnung, wahrscheinlich nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich sagte doch, ich weiß es nicht. Esra, schenk noch was ein …«

Esras Hände lagen neben seinen Hoden. Auf diese Weise versuchte er, sich zu wärmen. Saschka war in eine Fleece Decke eingehüllt, während ich mich davon zu überzeugen versuchte, die Zigarette würde mich wärmen. Sie wärmte mich genauso wie damals, als ich siebzehn war und zusammen mit Panda zum ersten Mal geraucht hatte. Aber ich wusste schon damals, dass es nicht die Zigarette war, die mir Wärme gespendet hat, sondern Pandas glühende Augen.

Uns war bewusst, dass nichts Neues geschehen würde. Zwei von uns würden Sex haben, der Dritte wäre raus aus dem Spiel und müsste alleine im kalten Zimmer zurückbleiben. Keiner von uns wollte dieser Dritte sein, obwohl uns der Sex miteinander schon längst langweilte, aber alles war besser, als alleine im kalten Zimmer zu hocken.

»Dewi, ich habe gestern einen Film gesehen.« Wieder fing Esra ein Gespräch mit mir an.

»Was für einen Film?«

»Den, von dem du mir erzählt hast.«

»Hat er dir gefallen?«

»Ja.«

»Warum hast du ihn dir angeguckt? Du hast doch geschworen, dass du ihn nicht schauen würdest?«

»Matuschka …«

»Du wusstest doch, dass ich ihn trotzdem schauen würde.«

»Matuschka«, flüsterte Saschka.

»Ich dachte, es wäre dir scheißegal.«

»Nein, das, was du damals bei mir getan hast, war mir nicht scheißegal. Du verstehst schon …«

»Matuschka«, flüsterte Saschka wieder.

»Ja, deine Schwester.«

»Ich hab̕ verstanden, dass …«

»Matuschka«, wimmerte Saschka.

»Was hast du verstanden?«

»Dass du nicht einfach ein Loch warst.«

»Jaaa?«

»Matuschka«, wimmerte Saschka nochmals.

»Ja, und ich war nicht einfach ein Dildo.«

»Matuschka«, krächzte Saschka.

»Wieso zitterst du, Esra?«

»Matuschka, bitte!« Saschkas Stimme wurde ein wenig lauter.

»Was ist das denn bitte für eine Frage? Weil es eiskalt ist.«

»Pojalusta, pojalusta, pojalusta …«, wiederholte Saschka in einer stillen Hysterie auf Russisch, bis er anfing zu weinen.

Er weinte bitterlich. So bitterlich wie ein Mann weint, wenn er begreift, dass er keine Zukunft hat. Wenn er begreift, dass er altern wird und mit seiner Schönheit nicht mehr prahlen kann, dass er eine Glatze bekommen und kleinen Jungs nachlaufen wird, dass er freitags zu Hause bleiben und viel weinen wird. Genauso weinte Saschka als er begriff, dass Esra und ich uns ins andere Zimmer zurückziehen würden, um uns einander mit heißem Sex bis zum Morgen zu erwärmen. Er begriff, dass er gezwungen sein würde, die Nacht alleine zu verbringen, selbst die Kerze wäre bald ausgebrannt. Er begriff, dass wir das Flügelklavier verkauft hatten und er nicht mehr länger seine lustigen Melodien darauf spielen konnte.

Matuschka – Mutter auf Russisch – nannte er mich, wenn ich mich um ihn kümmerte. Auch jetzt wollte er, dass ich es tat, aber ich machte mir mehr Sorgen um die Kälte als um dem weinenden Saschka.

Esra und ich machten die Tür hinter uns zu.

Saschka weinte abgehackt. Manchmal dauerte sein atemloses Weinen mehrere Minuten, bis er plötzlich wieder Luft holte und den ganzen Kummer ausblies. Ich wusste ganz genau, dass er in diesem Moment ehrlich war. Manchmal beschimpfte er uns auf Russisch oder sogar auf der südkaukasischen Sprache »Mengrelisch«, danach weinte er wieder ohne zu atmen. Er versuchte nicht einmal, seine Stimme anzuheben oder zu senken, er weinte bereits seit mehreren Minuten in der gleichen Tonlage.

Sogar während des Sex hörten wir sein Weinen.

»Ich kann nicht«, sagte Esra.

»Komm schon, lass uns warm werden, bitte.«

»Ich bekomme keinen hoch, wenn er so heult.«

»Auuuuu!«

Saschka wurde lauter und wir begriffen, dass alles, was wir bisher gehört hatten, nur der Anfang war.

»Weinst du etwa auch, du Wichser?«

»Nein.«

»Du bist kein Dewi, kein löwenartiges Fabelwesen, sondern ein Kätzchen.«

»Deine Hose liegt dort, nimm sie und verpiss dich.«

»Alles besser, als sich den Arsch hier abzufrieren.«

Als Esra weg war, fing auch ich zu weinen an. Keine Ahnung, wie wir es geschafft hatten, dass sowohl Saschka als auch ich weinten.

Um fünf Uhr morgens kroch ich zu Saschka ins Bett und kuschelte mich an ihn. Ich glaube nicht, dass er schlief. Er schien mein Herzklopfen zu spüren.

»Matuschka«, flüsterte ich ihm nun mit ruhiger Stimme zu, «du liebst mich doch sehr, oder?«

»Ja, sehr.«

»Auch ich liebe dich.«

»Du weinst wieder.«

»Ja.«

Ich weinte tatsächlich, ich weinte, ohne einen Ton von mir zu geben.

»Komm zu mir«, sagte Saschka. »Ist ja gut … man, wieso weinst du jetzt?«.

»Hör bitte auf, Saschka!«

Er brachte mich ins Badezimmer.

»Ich wasche dir die Haare, Dewi, du – der liebevollste und treuste Mensch, den ich kenne. Ich weiß, dass du es magst, wenn deine Haare frisch gewaschen sind. Ich werde sie föhnen, ich weiß, dass du nicht mit nassen Haaren schlafen magst und auch nicht mit nassen Haaren aus dem Haus gehst. Dann mache ich Tee für dich und serviere ihn dir zusammen mit Kuchen.«

Wir hatten kein Wasser.

Und ich hatte keine Haare.

Keinen Fön.

Keinen Kamm.

Keinen Tee.

Vor allem hatten wir keinen Kuchen. Aber nichtsdestotrotz sagte ich ihm:

»Ja, das machen wir, Matuschka.«

Wie tötet man Billy Elliot?

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