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Einer, der meine Träume beschützt

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ie Tatsache, dass mein Opa Jora den Verstand verlor, schockierte alle. Die Anrufe auf das Haustelefon hörten nicht auf, jeder Nachbar versuchte etwas zu erfahren, die Verwandten wollten voneinander wissen, ob Jora tatsächlich übergeschnappt sei oder ob es sich dabei nur um ein böses Gerücht handele.

Opa Jora war tatsächlich verrückt geworden. Eines Morgens wachte er auf und anstatt in die Toilette zu pissen, pisste er in die Stiefel – aus Schlangenleder – meiner Tante. An diesem Morgen sprangen wir alle erschrocken aus den Betten – geweckt von dem Geschrei der Tante: »Helft mir, diese abgefuckten Dinger auszuziehen, ich glaube, die Schlangen sind lebendig geworden!«

Als er zum zweiten und dritten Mal in die Schuhe jeglicher Familienmitglieder gepisst hatte, versteckten wir jeden Sportschuh, jeden Stiefel und jeden Mokassin. Als er nichts mehr finden konnte, pisste er in die schöne Vase unserer Oma, die sie einst als Mitgift erhalten hatte. Später ging er auf Töpfe über, einmal sogar auf den Schulranzen meines Bruders. So ging es weiter, bis wir begriffen, dass das Familienoberhaupt – Vater dreier Kinder, mit sechs Enkeln und zwei Urenkeln, Hauptbuchhalter der Restaurantkette »Tannen«, einst ein wahrhafter Gourmet, der meiner Mutter das Leben zur Hölle gemacht und die Nachbarin Juju schikaniert hatte, Spross einer angesehenen Familie, Ehemann meiner Großmutter, einst glühender Liebhaber der Bulgarin Alwina, mein Großvater – verblödete.

Was folgte, war ein riesiges Chaos: Meine Tante meinte, man solle die Kinder lieber von ihm fernhalten, er könne schließlich gefährlich werden. Die Nachbarn meinten, man solle ihn besser nicht nach draußen lassen, niemand könne wissen, wen er angreifen würde. »Mein Leben ist zu Ende«, sagte Oma mit ihrer rauen Raucherstimme und vergoss einige Tränen auf den unaufgeräumten Küchentisch. Letztendlich blieb der große Mann ohne Aufgabe. Man wies ihm das kleine Zimmer neben der Küche zu und verschloss die Tür.

Wenn Jora schläft, hat er Alpträume. Jora träumt von Alwina.

Alwina lebt im fernen Bulgarien, hatte neun Töchter, die alle während einer Epidemie starben. So steht Jora neben Alwina und zählt die Särge, doch Alwina kann sich nicht erinnern, in welchen Sarg sie welches Mädchen gelegt hat. Deshalb entfernt Jora jeden Nagel, öffnet die Särge, und sie schauen sich die Leichen der schönsten Mädchen, die er je kennengelernt hatte, gemeinsam an.

Wenn Jora aufwacht, sieht er meine Mutter, die mit einem Buch in der Hand auf seiner Bettkante sitzt, und er beginnt zu weinen.

In diesen Momenten beruhigt sie ihn damit, dass es nur ein Traum war. Er solle nicht weinen, die Nacht sei kurz und der Morgen werde schon bald kommen.

In solchen Momenten bereut Jora, dass er sich sein ganzes Leben lang mit ihr gestritten hat.

Meine Mutter beruhigt ihn damit, sich nichts zu Herzen genommen zu haben, also fängt Jora mit dem Schimpfen an: »Das ist nur, weil du kaltherzig bist! Wem sonst könnte es egal sein, wenn der Schwiegervater die Schwiegertochter beschimpft!«

Jora sieht seine Alpträume täglich. Und er sieht auch meine Mutter täglich, neben ihm an der Bettkante sitzend. Jora wundert sich sehr, meine Mutter wundert sich, mein Vater wundert sich, die Nachbarn wundern sich, auch ich wundere mich.

Jora konnte meine Mutter doch nie ausstehen und meine Mutter konnte ihn nie ausstehen.

»Sie hat mit meinem Sohn hinter der Schule rumgeknutscht! Das habe ich mit eigenen Augen gesehen«, zeterte Jora vor dem Frühstück, als er noch bei Sinnen war, wenn er wollte, dass meine Mutter aufstand und Tee für ihn kochte.

Jeder Morgen begann mit fürchterlichem Fluchen seitens meiner Mutter. Es folgte ein täglicher Streit zwischen zwei Generationen.

»Komm, iss mich auf! Den Kühlschrank aufmachen und Butter, Käse und saure Sahne herausnehmen, willst du doch sowieso nicht! Komm, iss mich auf, iss mich auf, komm schon!«, schrie Mutter ihn an.

Tagsüber hatte er einen schrecklichen Charakter, nachts hatte er noch schrecklichere Alpträume.

Manchmal sehe ich im Traum, wie ich aus dem vierten Stock springe. Draußen schneit es, ich kann nichts erkennen, es ist neblig. Während des Sprungs denke ich, dass ich nicht sterben werde, dass ich auf dem weichen Schnee lande und dieser mich schützen wird, aber im letzten Moment wird mir klar, dass der Schnee mich nicht schützen kann, und ich pralle mit dem Kopf auf den harten Asphalt.

Auch Opa Jora hatte einmal versucht, aus dem vierten Stock zu springen. Mein Vater fragte ihn: »Was tust du da? Du wirst sterben!« – »Nein«, beruhigte ihn Opa, »ich werde auf dem Schnee landen.« Ich befand mich in der Nähe, wurde Zeuge derr Unterhaltung und fragte später meinen Vater: »Hat Großvater Recht?«, doch er erwiderte nur: »Man darf einem Verrückten keinen Glauben schenken«.

Manchmal sehe ich im Traum, wie ich in den Hof gehe, die Menschen betrachte und einfach nur glücklich bin. Zuerst sehen sie mich verwirrt an, doch dann lachen sie. Durch den zweiten Wohnblock hindurch gehe ich in den Hinterhof. Jeder, den ich dort treffe, lacht, sobald er mich sieht. Am Ende gehe ich zum Mahnmal für die gefallenen Helden im Krieg, blicke nach unten und begreife, dass ich keine Unterhose anhabe.

Einmal verließ auch Opa Jora das Haus nur in Unterhose. Alle Nachbarn lachten ihn aus, der blöde Wichser Iascha meinte sogar zu ihm: »Warte mal, ich werde dich fotografieren. Ich hole schnell meine Kamera!« Opa fühlte sich so beleidigt, dass er im ganzen Hof rumbrüllte. Als meine Mutter ihn hörte, lief sie nach unten und brachte den Weinenden in die Wohnung zurück, zog ihm seine Adidas-Sportkleidung an, schloss die Vorhänge und legte ihn ins Bett.

Ich kann mich an das Gesicht meines Opas Jora nicht mehr erinnern, ich war damals zu klein, aber an die Träume erinnere ich mich.

Ich erinnere mich, dass ich furchtbare Angst davor hatte, dass er eines Nachts aus seinem Bett aufstehen und in mein Zimmer kommen würde. Ich wusste, ich würde vorher das Schlurfen von Hausschuhen im Zimmer hören, mir danach die Decke über den Kopf ziehen oder zu meinem Bruder ins Bett kriechen, aber ich wusste nicht, wie ich die Krankheit, die mir schreckliche Angst einjagte und die vor der Zimmertür umherschlich, abwehren sollte. Ich hörte sogar Atemgeräusche – oder vielleicht auch nicht – vielleicht bildete ich es mir auch nur ein.

Nach Jahren gestand mir meine Mutter, dass auch sie diese Träume hatte: »Ich träumte von Jora, wie er nachts aufwachte, verrückt wurde und mich begrapschte. Mir fiel es schwer, Traum und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden, mit rasendem Puls wachte ich auf, stellte mich ans Fenster und spielte zwanghaft mit dem Vorhang, um mich zu beruhigen. Einmal weinte ich sogar und Jora beruhigte mich: »Weine nicht, mein kleines Mädchen, ich hab dich nicht wirklich mit meinem Sohn hinter der Schule gesehen, ich bin nicht wirklich verrückt, auch ich bin dazu imstande, dich zu beruhigen.« Dann lobte sie ihn: »Du bist ein Braver«.

Seitdem wachte Jora jede Nacht auf, stellte sich vor unsere Türen und sang für uns. Anfänglich erschraken wir sehr, doch in den nächsten Nächten presste er seine Lippen an die Tür und flüsterte: »Habt keine Angst, ich werde nicht reinkommen, ich bin nur der Wächter eurer Träume, und falls auch ihr den Wunsch verspürt, meine Träume zu beschützen, kommt zu meiner Tür und singt für mich.«

Von diesem Tag an schlief Jora allein. Mal war ich es, der barfuß zu seiner Tür ging und sang, mal meine Mutter. Manchmal aber ließ auch er den Fußboden quietschen, kam zu unseren Schlafzimmern und sang für uns die traurigsten Lieder über Seemänner. Und wir waren vor bösen Träumen geschützt.

Als Jora starb, setzten wir uns im Kreis um ihn herum und sangen für ihn. Oma durchnässte das Bett mit ihren Tränen, mein Bruder gab ihm einen Kuss auf die kalte Stirn, ich legte den Kopf an seine Brust, mein Vater schloss seine Augen, teilte uns mit: »Wenn Jora schläft, müssen auch die Kinder schlafen«, und schickte uns ins Bett.

Ich weiß, dass Jora gestorben ist und dort Alwina und ihre neun wunderschönen Töchter getroffen hat.

Wir aber konnten uns das Singen an der Tür von Joras Zimmer nicht abgewöhnen, bis meine Mutter die Küche vergrößern ließ und auch Joras Zimmer ein Teil unserer neuen Küche geworden ist.

Jetzt suche ich Jora in meinen Träumen. Und wenn ich wieder einmal weinend aufwache, finde ich niemanden neben mir, der mir sagt, dass es nur ein Traum war, dass die Nacht kurz ist und der Morgen bald hereinbricht.

Ich befürchte, dass ich niemanden mehr habe, der meine Träume beschützt.

Wie tötet man Billy Elliot?

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