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Kapitel 3

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Danach passierte etwas wirklich Komisches. Ich meine, damals, als mein Cousin das zweite Buch herausbrachte. In keinem Land verursachte „HElLT HITLER! DIE PATHOGENESE EINES SÜNDENBOCKS“ besonders viel Aufsehen - es ergänzte einfach nur die Materialien, die von ungefähr hundert Millionen anderen Wissenschaftlern zu diesem Thema erarbeitet worden waren. Nur in Deutschland fielen die Presse und der größte Teil des Wissen­schaftsbetriebs (Saul Bellow nennt ihn nicht umsonst eine „Maschine“) über Prof Baumgartner her.

Und alles Leute, die sich sonst vor Analysefreudigkeit rund um die Uhr überschlagen. Prof Baumgartner setzte die hysterische Reaktion auf Hitlers Analyse damals so zu, dass er seitdem auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nichts mehr veröffentlichen ließ. Er ist nicht besonders scharf auf Hysteriker - besonders dann nicht, wenn sie nichts weniger als eine ganze Nation bilden, darauf läuft es hinaus.

Außerdem war er immerhin nur zufällig bis zu Hitler vorgedrungen, nachdem ihn ursprünglich nur die morbide Sexualität von Midford & Co. beschäftigt hatte. Er konnte als Wissenschaftler gar nicht anders, er musste ein Thema wie Sex und Faschismus weiterverfolgen. Wer sich mit den gestörten Höheren Töchtern einer puritanischen oder sonstwie kranken Gesellschaft beschäftigt, gerät praktisch in eine Art Drehtür und wird von ihren Eigendynamiken erfasst. Einmal mit Midford & Co. beschäftigt, stieß er ganz automatisch auf den Fall Hitler, der immerhin auch eine ansehnliche Sexualneurose oder Psychose entwickelt hatte. Ein Wissenschaftler kann dann nicht einfach so tun, als wäre nichts weiter gewesen.

Laien verstehen das schlecht. Und reichlich laienhaft und naiv fiel eben die Reaktion der Deutschen aus. Der Fall Hitler sollte in Hinsicht auf die komplexen Hintergründe seiner psychischen und sozialen Pathogenese anscheinend um nichts in der Welt von „draußen“ einer objektiven, sachlichen Analyse unterzogen werden.

Nicht von einem unbefangenen Psychologen. Und schon gar nicht von einem, der keine Nazis als Eltern oder Großeltern hatte.

Hitler war eben etwas Unaussprechliches. Hitler war eben ein Fleisch gewordener Teufel. Ein brauner Zwilling Luzifers, und die Hölle hatte ihn wiedergeholt, Ende April 1945. Das war längst Vergangenheit, und in der Hölle sollte er gefälligst bleiben. Das war so bequem. Die nicht weiter aufgeklärten Menschen hatten Hitler zum bloßen Mythos stilisiert, zur Verkörperung des Bösen schlechthin, und das Böse besitzt weder einen Körper noch eine Psyche, und was es in den Augen der unaufgeklärten Masse schon gar nicht haben darf, ist ein soziales Umfeld, das den Menschen schließlich überhaupt erst zum Monster gemacht hat. Die Deutschen müssen geradezu zwanghaft Hitler zum Ungeheuer stilisieren, also zu einem Wesen, das in Wirklichkeit gar nicht existiert, weil sie sich unbewusst vor ihrem eigenen, persönlichen kleinen Hitler-Anteil fürchten. Er geht auf die Prägungen zurück, die schon hundert Jahre früher der kleine Adolf H. abkriegte. Diese Prägungen kommen je nach der Epoche in allen möglichen Farbtönen daher: Schwarz, Braun, Rot, Grün - aber die Substanz ist mehr oder weniger immer dieselbe: ANGST. GERMAN ANGST. Ein verdammt schlechter Ratgeber: Angst. Und besonders, wenn sie Deutsch spricht.

Als Prof Baumgartner damals sein zweites Buch veröffentlichte, baute er auf Hannah Arendts Untersuchungen über Hitler und den Faschismus, die sie Anfang der 60er Jahre unter dem Titel „Von der Banalität des Bösen“ veröffentlichte. Es wurde sehr erfolgreich, nur dass Hannah Arendt Soziologin war, und aus der Perspektive meines Cousins ließ sie den wichtigen Punkt außer acht, dass das Böse eben kein Geist ist, der frei herum schwebt, sondern im Gehirn sitzt, und das Gehirn ist nicht grade der profanste Teil des Körpers. Was er also machte, er gab Hitler ein halbes Jahrhundert nach dem Tod seinen Körper zurück und ließ ihn durch diesen Körper seine ganze durch fremde Einflüsse verpfuschte Existenz nachleben. Die ganzen traumatischen Erlebnis­se, von der Kindheit über die Abweisung seitens der dünkelbelasteten Wiener Kunstwächter, dann den grausamen Ersten Weltkrieg, in dem der kleine Gefreite Adolf H. sich mit der Niederlage des Landes, für das er gekämpft hatte, identifizierte, bis schließlich zum Selbstmord unter unvorstellbar makaberen Umständen im Berliner Bunker. Prof Baumgartner im Nachwort:

„Hätte die Malakademie den aus der Provinz stammenden Schüler Adolf H. angenommen, er wäre nach seiner Ausbildung wahrscheinlich schnell wieder zurück aufs Land gezogen. Vielleicht in den Wienerwald oder ins Salzkammergut, denn ohne Stallgeruch und Verbindungen zur Wiener Kunstmafia wäre seine Position in der alten Kulturmetropole, in der es wie üblich von Intrigen und mafiaartigen Strukturen wimmelte, sowieso nicht lange zu halten gewesen. Zurück in der Provinz hätte er wahrscheinlich vornehmlich harmlose Landschaftsidyllen gemalt - nicht zuletzt schon deshalb, um die Wunden seiner arg unidyllischen Jugendjahre wenigstens ein bisschen zu verpflastern. Zweifellos hätte sein Talent zu einer gewissen Bekanntheit auf Landesebene ausgereicht. Adolf H. wäre in der Lage gewesen, von der Verwirklichung seines ursprünglichen Wunsches leben zu können - er wäre als Künstler tätig gewesen. Und hätte er auch als kleiner Soldat den Ersten Weltkrieg und seine Schrecken erleben müssen, ein normales Kriegstrauma hätte es nicht fertiggebracht‚ ihn zu dem Psychopathen zu konditionieren, als der er schließlich aus der Armee des geschlagenen Kaisers entlassen wurde: ohne individuelle, soziale und berufliche Identität‚ ein klassischer Fall von Schizophrenie.“

Als das veröffentlicht wurde, wusste ich noch längst nicht, warum diese deutschen Zeitungen meinen Cousin und sein Buch angriffen. Die Zeitungen in der Schweiz reagierten dagegen ganz vernünftig. Schließlich hatte Prof Baumgartner nur als Psychologe das gemacht, was Hannah Arendt, die Sozialforscherin‚ aus der Perspektive ihrer Wissenschaft mehrere Jahrzehnte vorher unternahm: dem Mythos Hitler seine Abstraktheit genommen.

Was Hitlers Unwahrscheinlichkeit auch gut ausdrückt, merkt man sofort bei alten Filmaufnahmen. Wenn man nicht seit der Geburt blind ist, weiß man schließlich, wie bunt alles aussieht. Die Welt ist eben nicht so schwarz-weiß wie all diese vielen Wochenschaufilme.

Wer jetzt so einen Streifen sieht, etwa mit Hitler und Kriegsbildern und allem, und wer damals noch gar nicht am Leben war, kann überhaupt nicht richtig glauben, dass das alles wirklich PASSIERT ist. Dass alle diese Leute wirklich GELEBT und das alles GETAN haben.

In diesen Schwarzweißfilmen fehlt eine Element: Farbe. Weil sie fehlt, erscheint einem das Geschehen auf der Leinwand seltsam unwahrscheinlich.

Weil die Wirklichkeit das Leben ist und weil das Leben eben immer farbig ist, denkt man automatisch, kann alles mögliche, solange es schwarzweiß daherkommt, gar nicht wahr sein.

Und was der Hitler-Mythos macht, er präsentiert diesen Fall eben auch nur in schwarzweiß. Eine verdammte Vereinfachung, die nicht der Wirklichkeit entspricht.

Zum Beispiel nennt die breite Masse der Menschen Hitler gern einen Mörder. Immerhin kostete der Zweite Weltkrieg Dutzende Millionen von Toten, davon allein ein halbes Dutzend Millionen ermordete Juden in den Konzentrations­lagern. Die Rechnung geht aber vorn und hinten nicht auf, denn EIN EINZELNER Mörder kann nicht mehrere Dutzend Millionen Menschen ums Leben bringen. Wer das glaubt, sollte sich besser gleich aus dem Milieu denkfähiger Köpfe zurückziehen. Es gab jedenfalls in Deutschland einen Haufen Leute, die ihre Pässe an der Rezeption hätten abgeben müssen, nachdem „HEILT HITLER - DIE PATHOGENESE EINES SÜNDENBOCKS“ auf dem deutschsprachigen Markt erschien.

Als Nr. 1 im Nazistaat musste er überhaupt niemanden persönlich umbringen, dazu hatte er schließlich jede Menge Handlanger. Und diesen Leuten standen jede Menge Mechanismen zur Verfügung, um den Massenmord überhaupt erst möglich zu machen. Soldaten, die Gewehre abschossen und Panzer fuhren und Bomben abwarfen. Ingenieure, die Gaskammern planten und Arbeiter, die sie bauten. Viele Millionen Männer, viele Millionen Menschen. Eben die sogenannten Nazis. Und ihre Mitläufer.

Dann, nach dem Krieg, entstand in Westdeutschland eine ganz merkwürdig zweigeteilte Gesellschaft. Der eine, zum Glück überwiegende Teil der Bevölkerung, ließ sich von den Westalliierten in ziemlich kurzer Zeit demokratisieren. Diese Leute wählten schließlich Konrad Adenauer zum Kanzler und seine pro-westliche Regierung, und der Marshall-Plan mit seinen Geldern zusammen mit dem genialen Wirtschaftsminister Erhard brachten die westdeutsche Volkswirtschaft zum Blühen, sodass sich das Wirtschaftswunder entwickeln konnte. Politik und Wirtschaft öffneten die Grenzen und zum ersten Mal konnten die Deutschen - oder wenigstens alle, die im Westen lebten - wie ganz normale, erwachsene, selbständige Menschen am Leben in der Welt teilnehmen. Sie waren richtig gleichberechtigte Menschen mit allen Rechten und Pflichten ihrer Nachbarn im offenen westlichen Teil der Welt. Und es machte ihnen verdammt Spaß, endlich wie mündige Menschen behan­delt zu werden und ihren Horizont erweitern zu können.

Nur der westdeutschen Opposition gefielen diese Veränderungen überhaupt nicht. Dass es in Westdeutschland plötzlich international und bunt zuging, entsprach anscheinend nicht den Vorstellungen der sozialistischen Opposition. Aus den Reden, die ihre Politiker und vor allem die Vorsitzenden der sozialistischen Partei im Bundestag hielten, geht hervor, dass sie Westdeutschland und seine Bewohner isolieren wollten - und vor allem mit dem Westen wollten sie absolut nichts zu tun haben. Praktisch gesehen nicht viel anders als die Nazis vorher Deutschland isoliert hatten - nur damals zwangsweise, und die westdeutschen Sozialisten verlangten eine freiwillige Isolation.

Irgendwas war draußen in der Welt, wovor sie sich zu fürchten schienen. Heute ist mir natürlich klar, dass sie sich vor der Lebendigkeit und der Unberechenbarkeit des Fremden fürchteten. Ihr politisches Dogma, eben der Sozialismus, ließ sie die gleichen Ängste entwickeln, unter denen schon die Kommunisten litten. Klinisch gesehen handelt es sich dabei um eine reine Angstpsychose - eine kollektive Angstpsychose. DER Grund, warum die Kommunisten ihre Länder und die Menschen darin systematisch von der Außenwelt abschotteten, von der großen Welt da draußen - genau wie Hitler. Genau wie Hitler mit seiner paranoid-halluzinatorischen Psychose. Es gab auf dieser Ebene überhaupt keinen Unterschied zwischen Hitler und Stalin, zwischen den Braunen und den Roten, den Nationalsozialisten und den internationalen Sozialisten. Der einzige Unterschied nach dem Krieg war der, dass die Braunen besiegt worden waren - dafür hatten die anderen die Macht behalten. Im gesamten Bereich Osteuropas sowieso, aber auch darüber hinaus, wie sich in den verbalen Äußerungen der westdeutschen Opposition, die eben aus Sozialisten bestand, während der 50er Jahre heraushören lässt.

Die westdeutschen Sozialisten waren zwar nicht von Panzern eingekreist‚ aber dafür zog sich eine imaginäre Mauer durch ihre Köpfe und auf der Krone dieser Mauer schlängelte sich ideologischer Stacheldraht. Statt wenigstens Westdeutschland in Europa und der Welt zu integrieren, favorisierte die damalige Bonner Opposition eine Art Sonderweg, was auf eine Separation Westdeutschlands auf allen wesentlichen Ebenen hin abzielte - typisch deutsch eben, ALTdeutsch. Die sozialistische Opposition dachte sich einen besonderen Status aus - zwischen Ost und West wollte man einen speziellen dritten Weg gehen. Es sollte wohl auf eine Art Schaukelpolitik rauslaufen - so wie sie früher schon einmal praktiziert worden war, nach dem Ersten Weltkrieg, in den 20er Jahren, im Rahmen des Vertrags von Rapallo. Das nachrevolutionäre Deutschland schloss damals einen Separatfrieden mit der Sowjetunion, mit der die Weimarer Republik um jeden Preis Frieden halten wollte. Das praktische Ergebnis dieser verdammten Schaukelpolitik war natürlich Chaos - grenzenloses Chaos, aus dem schließlich der Zweite Weltkrieg hervorging.

Wie sich herausstellte, sind die politischen Kräfte in Deutschland, die immer noch den „Dritten Weg“ favorisierten, nicht einmal spätestens nach dem Fall der Berliner Mauer ausgestorben oder wenigstens für immer in Pension geschickt worden. In Spezialdemokratien wimmelt es bis heute von ihnen, und einige Nachwuchskräfte dieser Bewegung waren sogar noch jünger als ich. Sie verehren ihre separatistischen Politvorfahren wie Salonheilige, während sie gleichzeitig Adenauer als Verräter und CIA-Agenten bezeichneten, der Deutschland geteilt und den Westen an die USA verkauft hätte. Das sagten sie mir zeitweise ganz offen ins Gesicht. Sie dachten damals, sie könnten mich zu einem von ihnen machen, weil ich aus ihrer Sicht theoretisch schon dafür qualifiziert gewesen wäre - sowohl als Wissenschaftler als auch als Schriftsteller. Jemanden wie mich hätten sie in Spezialdemokratien verdammt gut brauchen können, sagten sie anfangs.

In der ersten Zeit waren sie überhaupt ziemlich offen und gesprächig. Sie erklärten, dass es eine RICHTIGE DDR, also eine „Deutsche Demokratische Republik“ noch gar nicht gegeben hätte; dass das, was 1989/90 zusammenbrach und aufhörte‚ nur ein ungenügender Versuch gewesen sei und dass es absolut notwendig wäre, eine RICHTIGE demokratische Gesellschaft in Deutschland erst noch zu entwickeln und aufzubauen - nur diesmal eben RICHTIG, also nicht mit Panzern und Maschinengewehren und Mauern, sondern eben mit konfliktfreien Grundlagen und Idealen und multikulturell als Vorbild für Frieden und Freundschaft und Fortschritt auf der ganzen‚ großen Welt und Patati und Patata… In Spezialdemokratien würde man eben damit anfangen, diesen Dritten Weg einzuschlagen und ich sollte mitlaufen.

Es macht absolut keinen Spaß, hier darüber zu berichten. Viel lieber würde ich Ihnen eine Unterhaltungsstory erzählen, über die Sie lachen könnten. Es ist eine verdammte Kunst, so etwas zu produzieren. Geschichten, meine ich. Tatsache ist, dass ich genau solche Stories auch geschrieben hatte, ein paar richtige Romanstories‚ bevor ich den Fehler beging, mich nach Spezialdemokratien locken zu lassen. Ich musste dieses Romanmaterial schließlich in Spezialdemokratien aus dem Verkehr ziehen, wie es ein Kulturfunktionär ausdrückte. Das passierte einige Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer, als die alte DDR nicht mehr existierte, und dieser Kulturmensch muss wie alle anderen Funktionäre in diesem Bundesland, die ihre Karriere dem patenschaftsähnlichen Verhältnis zwischen der Spezialdemokratischen Partei im Westen und der SED, also der sozialistischen Einheitspartei der DDR verdankten, während der ersten Jahre nach dem Ende der alten DDR reichlich frustriert gewesen sein. Schließlich tobte er seinen Frust an mir aus und ließ mich mein Romanmaterial, von dem ich eigentlich leben wollte, buchstäblich in Stücke reißen. Ich war in den Jahren vorher bereits einschlägig vorkonditioniert worden, so dass ich nicht viel Widerstand aufbrachte, als ich auf diese Weise gezwungen wurde, mir selbst den Ast abzusägen.

Meine Geschichten waren, wie gesagt, primär Unterhaltung, und Sag-Rolf-zu-mir, dieser Kulturfunktionär, verlangte von mir, dass ich mich von meinem Storymaterial trennen sollte. Meinen Sachen, argumentierte er, fehlte einfach der zwingend vorgeschriebene pä-da-go-gi-sche Charakter. Weil ich bei diesen kranken Zeigefingerspielchen nicht mitmachen wollte, war ich schließlich nicht nur ganz schnell unten durch in diesem Milieu der pä-da-go-gisch inspirierten Kulturfunktionäre, sondern ich wurde logischerweise auch Zielperson für pä-da-go-gi-sche Maßnahmen.

Für Unterhaltung waren meine Sachen immerhin ziemlich kritisch, fast schon Satire, so dass man eben darüber lachen konnte. Nur war Lachen bei den Pä-da-go-gen im Kulturmilieu strengstens verboten. Damals, nach dem Ende der alten DDR, befand sich Sag-Rolf-zu-mir noch ziemlich stark auf dem fundamentalistischen Kurs. Einige Zeit später wurde das Ruder scheinbar um glatte 180° herumgeworfen‚ als die Parole nur noch „Fun! Fun! Fun!“ hieß und die nächste Kampagne zur Massenverblödung einsetzte.

Sag-Rolf-zu-mir brachte es fertig, soeben noch die Kurve zu kratzen, weil er jünger war als zum Beispiel Miss Bildung, bei der es sich immerhin auch um eine Pä-da-go-gin handelte, die als Kulturfrau arbeitete. Ohjunge‚ ihr Humor passte auf die Spitze einer Stecknadel, und trotzdem wäre noch reichlich Platz übriggeblieben. Der alte Karl Marx hätte bestimmt seine helle Freude an ihr gehabt. Sein bester Freund, Friedrich Engels wohl auch. Dieser Engels transformierte jede Menge puritanischen Fundamentalismus seiner sozio-religiösen Prägung auf die sozio-politische Schiene, auf der Marx mit einer soliden Portion Fanatismus unterwegs war. Marx mit seinem Fanatismus und Engels mit seinem Fundamentalismus ergänzten sich perfekt. Zu ihren gemeinsamen Vorstellungen gehörte es immerhin, einen „neuen Menschen“ vom Band laufen zu lassen - und dazu gehört natürlich auch das Lachverbot. Übermenschen haben nichts zu lachen.

Am Ende gab es für die Menschen, die im marxistischen Gesellschaftsmodell existieren mussten‚ von vornherein nichts mehr zu lachen. Haha.

Die Wurzeln dieses ganzen Irrsinns liegen aber eben in der alttestamentarischen Orientierung eines pseudoreligiösen Fundamentalismus, worüber die Forschung und Analyse, die sich mit Marx und Engels und ihren kranken Lehren beschäftigt, leider noch viel zu wenig wissen. Was mich betrifft, ich hatte das verdammte Privileg, sozusagen mitten drin zu sitzen - direkt an der Quelle. Ich durfte eine richtige Feldstudie erleben, wenn man es so ausdrücken will. Und ich bin froh, dass ich dabei nicht völlig auf der Strecke blieb.

Auch die vielen Sex-Zombies, die mir in Spezialdemokratien begegneten, verdanken ihre kranke Existenz letztendlich eben der Erziehung, die Engels durch sein puritanisch-pietistisches Umfeld erlitt, und zwar in der Region östlich von Rheinstadt 1‚ der Hauptstadt von Spezialdemokratien, wo jeder, der KEIN verdrehter Zombie ist, glattweg unangenehm auffällt.

Nachdem ich merkte, wohin ich da gezogen war, WO ich da wohnte und alles, nahm ich mich natürlich zusammen - was meine schwache Stelle für bestimmte erotische Aktivitäten betrifft. In der ersten Zeit fiel es mir sogar ausgesprochen leicht, weil ich damals mehrere Jahre lang meiner einzigen Freundin nachweinte‚ weswegen ich anfangs sogar nur knapp an der Magersucht entlang schrammte. Nur später fiel es mir schon verdammt schwer - ganz konsequent allein zu leben, meine ich. Manchmal war es so extrem, dass ich an kaum etwas anderes denken konnte. Ich meine, ich merkte zum Beispiel nicht, dass ich bei Rot über die Straße lief, wenn irgendwo ein süßes Schwesterchen aufgetaucht war, bei der ich mir vorstellte, wie es wohl wäre, wenn sie sich von mir hingebungsvoll mit dem Ladyshave behandeln ließe, um dann später ihre Knie über meine Schultern zu fädeln und all das. Ich wünschte mir dann, ich hätte die Chance gehabt, mit meinem Erzeuger darüber zu sprechen, aber dafür war es natürlich leider zu spät. Alles, was ich noch tun konnte‚ lief darauf hinaus, dass ich mir von Al Portnoy, der Colonel D.B. Singers kleiner Bruder sein könnte, die Hintergründe erklären ließ, wie man so massive Fixierungen entwickeln kann.

Selbstverständlich hätte ich mit meinem Erzeuger auch gern darüber gesprochen, was ich in Spezialdemokratien erlebte. Darüber, dass ich dort tatsächlich letzten Endes aus politischen Gründen allein lebte, weil im spezialdemokratische System Leben so viel bedeutet wie Leiden - eben ganz so wie in alten Ostblock und davor im finsteren Mittelalter und ganz früher in den alttestamentarischen Zeiten. Und ich hätte mit Colonel D.B. Singer sehr gern über die sogenannten 68er gesprochen, die schließlich nach der Pensionierung meines Erzeugers und in den rund zwei Jahrzehnten nach Kanzler Adenauer Schritt für Schritt die wesentlichsten Schaltstellen der Macht in der Bundes­republik übernahmen, und seitdem kommt noch der Einfluss des Seilschaften aus der alten DDR hinzu, die immerhin nur auf dem Papier zu existieren aufgehört hat. Die 68er Nazinachfahren bezeichneten ihre Taktik, die freiheitliche Demokratie und den Rechtsstaat mit der Ideologie ihres selbstzerstörerischen Negativnationalismus zu spalten, als „Marsch durch die Institutionen“. Womit sie eben die politischen und gesellschaftlichen Kräfte und Einrichtungen meinten.

Die meisten Deutschen in ihrer ewigen politischen Naivität merken es nicht einmal - wie ihnen seit dem offiziellen Ende der alten DDR ihr bewährter Rechtsstaat mit seinem Pluralismus und allem wie ein Teppich unter den Füßen weggezogen wird. Die Medien erzählen ihnen, es sei einfach der Zeitgeist, und die Gesellschaft müsste sich schließlich weiterentwickeln und alles Mögliche. Außerdem funktioniert mittlerweile die fatale Brot-und-Spiele-Taktik ganz ausgezeichnet, die Sag-Rolf-zu-mir schon vor einigen Jahren ankündigte.

Seit der Wiedervereinigung können er und seine Freunde ganz legal an ihren Vorhaben arbeiten. Die einen vom Gebiet der alten DDR aus, und die anderen eben von Spezialdemokratien. Die einen im Osten, die anderen im Westen - es läuft wohl auf eine Art Zangenbewegung hinaus. Als gleich nach dem Fall der Berliner Mauer Spezialdemokratien und das Kernland der alten DDR, Brandenburg, diese sogenannte Länderpartnerschaft eingingen, saß ich zwar noch ziemlich weit oben im Elfenbeinturm, aber sogar dort ging mir auf, dass es irgendwie nicht zusammenpasste: Spezialdemokratien ist ein ausgesprochenes Industrieland, in dem es von achtzehn Millionen Einwohnern nur so wimmelt, während Brandenburg völlig ländlich strukturiert ist, und es wohnt dort auch kaum jemand - außer eben die Nomenklatura der alten DDR, und nebenbei auch noch jede Menge arbeitslose Neonazis. Ein großartiger Bevölkerungsquerschnitt - mit diesem Potenzial lässt sich schon einiges anstellen.

Die Millionen, denen in Spezialdemokratien die nötige Connection in die Landeshauptstadt fehlt, müssen wenigstens (noch) nicht als Neonazis herumlaufen - sie haben wenigstens Anspruch auf einen lebenslangen Stehplatz. Neuerdings vor allem auch in den Stadien, diesen vielen neuen Brot-und-Spiele-Sportstätten, die überall aus dem Boden gestampft werden.

Okay - ich wette, mein Erzeuger wäre wenigstens in der Lage gewesen, mich so weit aufzuklären, dass ich noch früher aus dem Elfenbeinturm herausgekommen wäre. Ich hätte dann nicht dermaßen blauäugig auf Leute wie Miss Bildung und Miss Handlung reagiert. Und Sag-Rolf-zu-mir hätte es sich sparen können, mich zu einem Angehörigen der „Generation Golem“ umerziehen zu wollen.

Auf der anderen Seite wüsste ich ohne diese Leute nicht die Hälfte dessen, was mir jetzt alles klar ist. Was jetzt wirklich alles los ist, meine ich. Dass ich damals, als in Spezialdemokratien die Schwierigkeiten abzusehen waren, nicht auf die Idee kam, meinen Erzeuger um Rat anzusprechen, wo er doch immerhin Deutschlandexperte war, ist ganz einfach darauf zurückzuführen, dass wir eben dieses eher unpersönliche Verhältnis hatten. Wir waren nicht aneinander interessiert. Er wollte nur immer seinem Hobby nachgehen und zwischen München und Salzburg blondbezopfte Gretls jagen.

Wenn Sie verstehen wollen, warum er nichts anderes im Kopf hatte, wenigstens in seiner Freizeit, sollten Sie unbedingt diesen absolut großartigen Roman lesen, mein Lieblingsbuch‚ das „Portnoys Beschwerden“ heißt.

Geschrieben hat die Geschichte ein Mensch, der meinem Erzeuger übrigens wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sieht. Jedenfalls hat er, Philip Roth, allen von ihren herrischen Müttern chronisch gebeutelten jüdischen Söhnen damit ein Denkmal gesetzt. Mir ist natürlich klar, es muss Ihnen wahrscheinlich reichlich seltsam vorkommen, dass jemand den eigenen Erzeuger durch irgendein Buch erklärt, und es macht mir auch gar keinen Spaß, in dieser Weise über meinen Erzeuger zu sprechen, aber so liegen die Dinge nun einmal. Ich sollte Sie auch warnen. Wenn Sie „Portnoys Beschwerden“ in die Hand bekommen, sollten sie drauf achten, beim Lesen weder zu essen noch zu trinken. Wegen der ständigen Möglichkeit, dass sie sich vor Lachen ver­schlucken könnten. In diesem Buch steckt all das Lachen, das ich Ihnen in meiner verdammten Dokumentation leider nicht bieten kann. Dafür will ich Sie wenigstens etwas entschädigen. Schade ist auch, dass die deutschsprachige Auflage des Romans gradezu lächerlich niedrig ist. Man könnte sie direkt mickrig nennen. Es konnten bis heute ungefähr so viele Exemplare verkauft werden, wie Juden in Deutschland wohnen. Die anderen Leute wollen mit der Story wenig oder am liebsten überhaupt nichts zu schaffen haben, weil sie sich vor ihr fürchten. Ich meine, „Portnoys Beschwerden“ beschreibt nämlich das Alltagsleben einer stinknormalen jüdischen Familie, die zwar im Großraum New York wohnt, und Philip Roth beschreibt auch nur die 30er bis 60er Jahre, aber es geht darum, WIE er alles beschreibt, nämlich extrem lebensecht und alles, und genau davor haben die meisten Deutschen Angst. Besonders die mit dem schlechten Gewissen.

Warum, ihre Väter gingen damals her und degradierten die Juden systematisch zu Untermenschen, woraufhin die Nazikinder und -enkel sich auch in dieser Hinsicht möglichst demonstrativ von ihren Vorfahren distanzieren wollen. Das tun sie, indem sie jetzt die Juden zu absoluten Übermenschen stilisieren und sich vor lauter pathetischem Philosemitismus überschlagen. Wenn man hergeht und ihnen „Portnoys Beschwerden“ schenkt, wissen sie sich nicht zu fassen vor lauter Empörung, weil der Autor sich und seine Familie so beschreibt, wie Menschen eben sind: einfach stinknormal nach außen hin, und hinter der Fassade bürgerlicher Anständigkeit leicht bis mittelschwer überdreht. Also, man sollte das wirklich unbedingt lesen, wie Portnoy auf der Couch eines Psychiaters liegt, der, nein, nicht Phil Baumgartner‚ sondern Spielvogel heißt, und wie er aus dieser demütigen Rückenlage seine eigene Kindheit und Jugend durchhechelt. Zum Beispiel die Szene, in der Portnoy jun. seinen Vater, der an chronischer Verstopfung leidet, auf der Toilette hockend vorfindet, schlafenderweise, total erschöpft nach dem einzigen Kraftakt des Tages, zu dem dieser arme Mann noch fähig ist, weil nämlich seine Frau mit ihrem dominanten Wesen ihm immer das letzte bisschen Wind aus den Segeln nimmt. Anders der kleine, langsam größer- und geschlechtsreif werdende Sohn der beiden, Al.

Das entsetzliche Gehabe seiner Mutter (am heimischen Herd) setzt ihn nicht matt, sondern es treibt ihn an. Und wie es ihn antreibt. Es befeuert den guten Al gradezu. Wozu? Nun, ganz einfach: blondbezopften Gretls hinterher zu laufen. Selbige werden auch „Schicksen“ genannt und geschimpft. Eben von der cholerischen Mama Portnoy.

Ohjunge, in den USA machte diese Story ihren Autor buchstäblich über Nacht zum Millionär. Hinsichtlich der Buchauflage wie auch in Sachen Geld. Die Leute, besonders die Juden natürlich, von denen damals im Großraum New York mehr lebten als in ganz Israel, rissen den Buchhändlern die druckfrischen Exemplare gradezu aus den Händen. Und nicht zuletzt natürlich wegen der (ich zitiere einen Rezensenten) „... unbefangenen Schilderung sexueller Aspekte.“ Aber, verstehen Sie, das stammt aus dem Jahr 1969, als „Portnoy“ herauskam. Im puritanischen Nordamerika. Damals war noch längst keine Rede davon, dass das „Penthaus-Magazin“ es riskieren konnte, süße Schwesterchen so photographieren zu lassen wie zehn oder zwölf Jahre später.

Diese blonden Gretls. In der Story dann auch als „Schicksen“ bezeichnet bzw. beschimpft, weil sie eben Wert darauf legen, chic auszusehen, mit Makeup und in Nylons und mit hochhackigen Schuhen. Alles logischerweise Accessoires, die ein braves jüdisches Mädchen nicht hat und ablehnt. Oder vielmehr: per Erlass ihrer überdrehten Mutter abzulehnen hat.

Nach Al Portnoys vielfach (mit zunehmend schriller werdender Stimme) geäußerter Mutmaßung ist es wiederum die Bestimmung eines braven jüdischen Jungen, mehr oder weniger ausgeprägt als Eunuch geboren zu werden und auch als solcher zu leben und zu sterben. Oder wenn schon nicht als Eunuch, dann wenigstens als ausgemachter Waschlappen.

Das Dasein von Portnoy jun. gleicht darum einem einzigen Ritt mit der Lanze (Lanze?) gegen die Windmühle dieser von religiösen Traditionen vorbestimmten Rolle. Und was tut er also? Er tut natürlich, was am nächsten liegt: von panischer Verzweiflung gejagt (und von seiner Mama sowieso), knöpft er seine Hose auf und präsentiert sich (was für ein Selbstbewusstsein) der weltweit versammelten weiblichen Zuschauerschaft.

Soll heißen: selbstverständlich nicht braven, neurotischen jüdischen Mädchen mit strengem Haarknoten, sondern eben den Schicksen.

Auf der Flucht vor seiner Mutter treibt deren grenzenloser Wahn, ihren Sohn zu beherrschen (und ihren Mann sowieso), unseren Freund Portnoy von einer blonden Gretl zur nächsten.

Wie er es mit eigenen Worten ausdrückt: „Heute habe ich diese hier in der Mache, aber morgen schon die andere, und übermorgen die nächste...“

Und immer so weiter. Bis zum großen Scherbengericht natürlich, mit dem jeder Wahn irgendwann endet. Aber das ist natürlich ein anderes Thema.

Seit ich also „Portnoys Beschwerden“ las, kann ich meinen Erzeuger viel besser verstehen. Ich meine, seitdem ich mich besser in ihn hineinversetzen kann und alles. Portnoy hat mir sozusagen meinen Erzeuger erklärt - seine Motive, warum er sich damals so verhielt, als er die Region zwischen München und Salzburg unsicher machte, um blondbezopfte Gretls auszuspähen. So wie schließlich auch meine Mutter. Die er sogar abschleppte, als er im Dienst war, weil sie ihm nämlich zufälligerweise als Sekretärin zugeteilt worden war. Sie kam für ihn sozusagen gratis und inklusive.

Sie sollten sich meinen Erzeuger natürlich auch nicht so vorstellen, wie man Vertreter seiner Berufsgruppe in irgendwelchen blödsinnigen Filmen präsen­tiert bekommt. Ich sagte ja, er hatte damals diese Sekretärin - wenn er nicht grade herumreiste‚ versah er seinen Job wie alle anderen auch vom Büro aus. Ich wette, als er vor dem Krieg als Dozent für politische Wissenschaften in Princeton arbeitete, dürfte sein Job bestimmt um einiges spannender gewesen sein. Nur dass es dort in der Nähe von New York, im Staat New Jersey, eben keine blondbezopften Gretls gab.

Die Großeltern meines Erzeugers wanderten dahin aus - 1906; ursprünglich wohnten sie in Tschernowitz. Diese Stadt bildete damals eine Art Außenposten der Habsburger Monarchie.

Mutter Singer muss so herrschsüchtig gewesen sein, dass ihr Sohn einen aus­gewachsenen Weltkrieg brauchte, um endlich von ihr loszukommen. Er meldete sich, um für das O.S.S. zu arbeiten, also für Onkel Sams Geheimdienst im Krieg - alles nur, um endlich den blondbezopften Gretls hinterher hecheln zu können. Und in den 50er und 60er Jahren, als wieder Ruhe war in Europa und ein ganzer Ozean zwischen meinem Erzeuger und Mama S. lag, düste er eben mit seinem Supersportwagen herum und jagte Gretls. So lange, bis es einen Unfall gab - ich meine, bis ich eben plötzlich da war.

Meine Mutter und er verstanden sich natürlich nicht lange, und so landete ich schließlich eine Woche vor meinem sechsten Geburtstag bei Prof senior, dem jüngeren Bruder meines Erzeugers, der eben in London N.W.3 wohnte. Und wo ich vor Prof seniors Adoptivtochter, eben meiner einzigen Freundin, schon nach ein paar Tagen auf den Knien lag. Es ist mir zwar HEUTE etwas peinlich, aber ich gebe es besser gleich zu, dass ich schon als kleiner Junge noch viel schlimmer hinter den Mädchen her war als Colonel D.B. Singer. Bevor ich nach London kam, verbrachte ich die Hälfte des Jahres in der Wohnung meines Erzeugers und Tatsache ist, dass ich schon vor meinem vierten Geburtstag mit Babysittern flirtete. Ich meine, ich BEWUNDERTE sie und alles und erzählte ihnen, wie gut sie aussahen und brachte ihnen Geschenke und so weiter. Wenn ich jetzt daran denke, muss ich sagen, ich war verdammt aufdringlich - nur: Den Mädchen schien es eher zu gefallen. Und mir natürlich erst recht.

Als ich schließlich in Großbritannien lebte, wurde meine besondere Neigung schließlich darum ganz stark beachtet, weil dort in meinem Umfeld‚ der oberen Mittelklasse‚ der männliche Teil der Bevölkerung durch die Einflüsse von Puritanismus und Narzissmus dermaßen durchgeknallt ist, dass sie ziemlich oft ganz hervorragend mit sich selbst zurechtkommen - und mit Ihresgleichen logischerweise auch.

Dass diese Mädchen in London (und wahrscheinlich in ganz Großbritannien) auf der Stelle ihre Freundinnen mitbringen, wenn sie einen Jungen treffen, der Mädchen MAG, liegt vor allem am verdammten Puritanismus. Alle Welt schimpft auf den Katholizismus, weil er über allgemein bekannte sichtbare Institutionen verfügt - eben den Papst und den Vatikan, während der Puritanismus dezentral wirkt. An welche Adresse wollen Sie sich wenden, wenn Sie sich etwa darüber beschweren möchten, dass Ihr Nachbar, ein Mitglied der Presbyterianer, nachts in seinem Keller fünfzehnjährige Anhalterinnen oder siebzehnjährige Amateurcallgirls in Stücke sägt oder sie (sauber und ordentlich, wie es sich für einen Puritaner gehört) im Garagenboden einbetoniert?

Denken sie nur an die Windsors - die königliche Familie, meine ich. Bei dieser Sippe handelt es sich gewissermaßen um die Oberpuritaner. Okay - diese Leute besitzen zwar jede Menge Geld und Paläste und in aller Welt zusammengeraubtes Zeug, aber ich finde, sie haben irgendeine Entschädigung verdient für die erbärmliche Art, wie sie existieren müssen. Seit ich zum ersten Mal vor ihrem Goldenen Käfig stand, kommen sie mir vor wie ein ganz besonderer Fall für Amnesty International.

Das ist kein Witz. Ich halte die Windsors für Gefangene des Systems. Ihre Gefängnisse sind ganz raffiniert als Paläste getarnt - das heißt, sie heißen so: Paläste, aber wenn man genauer hinsieht‚ stellt man fest, sie sind allesamt verrammelt und verriegelt. Nicht für die Besucher natürlich, die dort ein und aus gehen, aber eben für sämtliche Mitglieder der Windsor-Familie. Und drumherum sind Gitter gezogen, und obendrein werden sie von Uniformierten bewacht, rund um die Uhr.

Die Räumlichkeiten sind sozusagen eine Art Antigefängnis, das heißt, unterm Strich kann man darin genauso wenig richtig wohnen, also leben und so weiter, wie in einer verdammten Zelle. Nur eben genau andersherum: es ist einfach alles zu groß und zu sehr vollgestopft mit irgendwelchen Sachen, die irgendein Vorfahr, der sich als Raubritter betätigte, aus anderen Gegenden der Welt mitgebracht hat - von anderen Kontinenten, wo die Sachen besser geblieben wären. Aber zurückgeben dürfen die heutigen Besitzer das Zeug auch nicht mehr, weil es ihnen als ein Zeichen der Schwäche ausgelegt werden würde. Und so schleppen diese Leute jede Menge nutzlosen Krempel mit sich herum - totes Gewicht, immer mehr und immer mehr, von einer Generation zur nächsten.

Und sie dürfen nicht einmal allein in diesen Palästen leben, die Windsor-Leute, sondern sie müssen sich auf Schritt und Tritt mit den Wärtern vom Innendienst herumschlagen und jeden Tag die Form bewahren und scheißfreundlich zu allen und jeden sein, sonst steht alles am nächsten Morgen brühwarm in der Regenbogenpresse.

Die Protokolleute schreiben den Windsors, also ihren eigenen Arbeitgebern, vor, was sie zu tun haben und wann und wo und wie, und was gefälligst nicht. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie möchten etwas ganz einfaches tun, sich vielleicht nur am Kopf kratzen, aber nicht einmal das lässt sich machen, weil Sie bei einem öffentlichen Anlass wieder einen dieser scheußlich aussehenden Hüte tragen müssen, und mehrere tausend Augen­paare starren Sie gnadenlos an. Wenn Sie jetzt einfach den Hut abnehmen und sich am Kopf kratzen, interpretiert das die Öffentlichkeit als Staatsakt. Und die Presse sowieso. Ja, Sie dürfen nicht einmal kurz gähnen.

Stellen Sie sich vor, Sie seien die Queen. Es ist mitten im November - Regen und Nebel und Kälte und alles, und morgens um sechs Uhr ist natürlich auch noch alles ganz finster. Sie sind also die Queen und müssen deshalb seit ungefähr einem halben Jahrhundert in einem furchtbar unbequemen Bett liegen, das zu benutzen Sie sozusagen von der verdammten Staatsräson genötigt werden. Einer dieser uniformierten Lackaffen, die den ganzen Tag vor Ihnen buckeln und Schleimspuren ziehen, hat Ihnen einen Wecker auf den Nachttisch gestellt und Schlag sechs Uhr geht das Ding los und reißt Sie aus dem Halbschlaf. Als nächstes bekommen Sie schreckliche Kopfschmerzen und gähnen und erinnern sich an die letzten Szenen des furchtbaren Albtraums, von dem Sie soeben noch heimgesucht wurden. Der Albtraum hatte irgendetwas mit Ihrer Familie zu tun. Sie erschaudern; davon werden Sie ein Stück wacher. Sie blinzeln mit brennenden Augen einen Spalt breit durch die Vorhänge und sehen, hinter den Fenstern ist noch alles finster, eben Novem­ber, und Sie können genau hören, wie der Regen gegen die Scheiben klatscht. Hierauf möchten Sie sich am liebsten auf die andere Seite drehen und noch ein Stückchen weiter schlafen. Da kommt einer der uniformierten Lackaffen ins Schlafzimmer geschlichen und lauert, ob Sie schon aufgestanden sind. Wenn nicht, wirft er Sie aus dem Bett.

Als Queen spüren Sie jetzt noch viel massivere Kopfschmerzen, und sie müs­sen automatisch daran denken, dass Sie immerhin vielfache Milliardärin sind und alles, und es fällt Ihnen zufällig die Geschichte eines im ganzen Land bekannten Metzgers ein, den Sie kürzlich in den Adelsstand erheben mussten. Der alte Schwindler ist ungefähr Ihr Jahrgang und fing mit einer geerbten kleinen Metzgerei in der Provinz an, stieg nach einer

Weile in den Handel mit Pferdefleisch ein und begann, unverfänglich aussehende Würstchen zu produzieren, womit er jedes Jahr Millionen ergaunert, so dass er nur noch im Rolls Royce herumfährt‚ auf dessen Kühlergrill statt der Rolls-Royce-Figur die Skulptur einer vergoldeten Wurst angebracht ist.

Dieser kleine Gangster kann es sich jedenfalls leisten, an einem solchen Morgen im Bett liegen zu bleiben, und wenn er eventuell einen Butler hat, der versucht, ihn früh um Sechs aus den Federn zu werfen, kann er ihn auf der Stelle feuern. Nur Sie, die Queen, der ein Haufen zynischer Rechtsverdreher die symbolische Verantwortung über beträchtliche Teile des Globus aufgehalst hat, werden wieder gnadenlos vor den Karren gespannt. Zu einer Tageszeit, in der sogar noch Ihre eigenen Pferde schlafen dürfen. (Von Ihren Hunden gar nicht zu sprechen, die können sogar tagsüber schlafen wie sie wollen.)

Und der uniformierte Lackaffe posaunt: „Lizzy‚ heute kommt nach dem Frühstück als erstes der Premierminister zum wöchentlichen Informationsgespräch!“

Sie denken als Queen: Warum denn schon so früh am Tag? Sonst kommt er doch immer später. Und womit muss ich die Zeit zubringen? Nur mit Sorgen. Ich werde garantiert nicht so alt wie Mami...

Und während Sie endlich aufstehen, denken Sie weiter: Nur fünf Stunden Schlaf gehabt. Sie sind zwar schon ausnahmsweise gegen Mitternacht ins Bett gegangen, aber dann lagen Sie bis ein Uhr wach und dachten über ihre verdrehten Kinder nach. Der eine Sohn leidet unter einem Mutterkomplex und spricht am liebsten mit seinen Pflanzen (wenn er nicht beim Polo wieder vom Pferd gefallen ist und sich alle möglichen Knochen gebrochen hat). Der andere Sohn fürchtet sich so nachhaltig vor Frauen, dass er in der Öffentlichkeit am liebs­ten mit einer Marineuniform herumläuft und sich auf Kriegsschiffen versteckt, wo Weiber ausschließlich auf Ausklappbildern in Hochglanzmagazinen exis­tieren.

Was Ihren dritten Sohn angeht, so können Sie sich an diesem entsetzlichen Novembermorgen kaum an seinen Vornamen erinnern. Sie überlegen, als Queen, ob Sie vielleicht Ihren Mann fragen sollen? Aber doch lieber nicht, denn erst gestern Abend‚ beim Dinner mit der afrikanischen Delegation, erzählte er wieder einen seiner peinlichen Witze, für die ihr Mann leider, leider mehr berüchtigt als berühmt ist. Das war schon genug Blamage. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zerreißt sich die Boulevardpresse morgen darüber, um den Beliebtheitsgrad der Winsor-Familie ein weiteres Stück in den Keller zu treiben. Am besten, Sie weisen ihren Pressesprecher noch vor dem Frühstück an, den peinlichen Auftritt Ihres Mannes kategorisch zu dementieren. Und schließlich noch die Sorgen um ihre vielen Hunde! Der kleine Fiffi muss ab heute unbedingt Diät halten, meinte gestern der Tierarzt, sonst hört der Durchfall nie mehr auf, und wehe, heute tritt wieder jemand Hundeschokolade in den Täbris, den der alte Lord Mountbatten aus Hind oder Sind mitbrachte.

Während Sie, als Queen, all diese Probleme wälzen, ist Ihnen die ganze Zeit über bewusst, dass Sie nicht einmal auch nur für eine Sekunde seufzen oder stöhnen dürfen, sonst schreien auf der Stelle sämtliche Revolverblätter: „DIE KÖNIGIN STÖHNT! ZU ALT FÜR IHREN JOB?“

Dabei ist Ihnen bereits seit ewig und drei Tagen klar, dass Sie, die Queen, die einzige Person in dieser degenerierten Sippschaft sind, die noch genug Mumm in den Knochen hat, um tagein, tagaus den ganzen verdammten Laden zu werfen! Sie wissen Bescheid: Ihr Mann oder einer der Söhne brächten es nicht einmal ein Jahr lang fertig, den Betrieb halbwegs über Wasser zu halten. (In diesem Moment fällt Ihnen ein, dass Sie ja auch noch eine Tochter haben, aber es kommt ihnen leider nicht in den Sinn, wie sie heißt, weil sie immer den Zunamen wechselt, wenn sie neu heiratet.) Ein Königshaus, dessen formelles Oberhaupt in aller Öffentlichkeit darüber palavert, dass er sich mit seinen Topfpflanzen unterhält, wäre möglicherweise nicht einmal geschäftsfähig. Man hat schließlich bei den französischen Vettern und Cousinen 1789 erlebt, was mit einer Krone passiert, wenn der Kopf darunter zu spinnen anfängt oder sich nicht mehr dafür interessiert, wie viel ein Pfund Brot kostet.

Darum los jetzt: Zähne zusammenbeißen und rüber ins Bad. Kalt duschen hat noch immer geholfen. Alte britische Weisheit: kaltes Duschen hält Leib und Seele zusammen. Und womöglich auch die Windsor-Familie. Und während das kalte Wasser Ihnen‚ als Queen, fast einen Herzinfarkt zufügt, erinnert Sie der uniformierte Lackaffe daran, dass nach dem Besuch des Premierministers ein Besuch im Heim von St. Pankraz ansteht.

Hätte das nicht jemand anders aus der Familie übernehmen können? Aber womöglich würde man die betreffende Person gleich dabehalten. Warum wird das Wasser heute Morgen eigentlich nicht wärmer?

„Sorry, Liz“, tönt es von jenseits der Badezimmertür, „der Boiler ist kaputt.“ Der Boiler war britische Wertarbeit, Baujahr 1951, aber seit zwanzig Jahren gibt es keine Ersatzteile mehr.

„Betty“, ruft jetzt eines Ihrer Zimmermädchen von draußen, „Dein Prinzge­mahl hat eben wieder Hundeschokolade in den Teppich getreten, den Mountbatten damals aus Bangadingsbums mitgebracht hat.“

Daraufhin überkommt Sie, als Queen, unter der kalten Dusche eine Hitze­welle, und man kann Sie drei Korridore weit schreien hören: „HÖRT WEIIGSTENS ENDLICH AUF, MICH ‚LIZ‘ ODER ‚BETTY‘ ZU NENNEN, RESPEKTLOSES VOLK!“

„Schon gut, Liz“, ertönt es von draußen: „Keine Ursache, Betty!“ Und: „Ganz ruhig bleiben, Queenie!“

Nachdem Sie das Bad verlassen, stellen Sie fest, dass sich die uniformierten Lackaffen davongemacht haben. Das kommt natürlich nur davon, dass Sie, als Queen, Ihr Personal weit unter Tarif bezahlen. Als Sie rufen, biegt nur der kleine Fiffi um die Ecke, der ab heute unbedingt Diät halten muss.

Sie hasten durch die Korridore Ihres 999-Zimmer-Palast-Gefängnisses und hoffen, dass nicht irgendwo ein Attentäter oder sonst ein Irrer eingedrungen ist, was schon vorgekommen sein soll. Einmal hockte sogar jemand in aller Frühe auf der Bettkante. Der Eindringling grüßte ganz höflich, da wussten Sie, Ihr Mann konnte es nicht sein‚ der da saß (wie sie zuerst‚ ohne Brille, gedacht hatten).

Sie wollen grade ins Schlafzimmer abbiegen, da kommt Ihnen wirklich eine Art Landstreicher entgegen; Sie bekommen den Schrecken Ihres Lebens, aber der Hund läuft schwanzwedelnd auf den Mann zu, da ist Ihnen klar, es muss der Prinz sein, mit dem Sie seit mindestens hundert Jahren verheiratet sind - der Vater Ihrer komischen Kinder. Sie haben natürlich getrennte Schlafzimmer; wahrscheinlich wohnt Ihr Mann sogar in einem ganz anderen Gebäudeflügel (man müsste ihn mal fragen) - jedenfalls haben Sie ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Aber trotzdem kommt er Ihnen gleich bekannt vor. Allem Anschein nach hat er die Nacht mit seinen Spezis vom Offiziersclub durchgefeiert und stinkt drei Meilen gegen den Wind nach Gin. Seit ungefähr zwei Tagen hat er keinen Rasierapparat mehr in die Finger bekommen, und sein königsblauer Morgenmantel mit der aufgestickten goldenen Krone links und rechts am Revers ist falsch zugeknöpft. In der einen Hand schwingt Ihr Mann, der Prinz, seinen Spazierstock, in der anderen hält er eine Papierblume sowie die aktuelle Ausgabe eines Revolverblatts.

„Hallo, hallo, hallo, alte Schachtel...“‚ lallt Ihr Mann, der Prinz, und will an der Papierblume schnuppern, dabei rutscht ihm die Zeitung aus der Hand. Sie, als Queen, bücken sich so schnell, wie es Ihr schwer in Mitleidenschaft gezogenes Rückgrat erlaubt, und überfliegen die Titelseite. Die obere Hälfte der Seite besteht praktisch nur aus dem Namen der Zeitung, aber der ersten Schlagzeile entnehmen Sie, dass der Sohn des Premierministers (den Sie insgeheim „Schleiereule“ nennen) am späten Abend im Vollrausch auf einer belebten Kreuzung in der Innenstadt aufgelesen wurde. „ENDLICH MAL KEINER VON UNS!“, können Sie sich seufzen hören.

Aber leider haben Sie sich zu früh gefreut, denn gleich darunter klärt ein Artikel Sie darüber auf, dass Ihre Tochter (deren Name Ihnen im Moment nicht einfällt) wieder Schwierigkeiten mit dem Mann hat, den sie erst kürzlich heiratete. (Oder hat sie gar nicht geheiratet und lebt offiziell in Schande? In diesem Fall kein Wunder, dass Sie ihren Namen vergessen haben.)

Ihr Mann, der Prinz, steckt die Papierblume in das freie Loch des falsch zugeknöpften Morgenmantels und windet Ihnen die Zeitung aus der Hand. „Schau mal her, alte … alte Scharteke“, lallt er und haucht seinen Gin-Atem direkt in Ihr Gesicht, während er zielsicher blättert, „schau … schau hier!“ Ihr Mann, der Prinz, hält Ihnen, als Queen, die Seite mit dem Fotomodell des Tages ziemlich dicht unter die Nase. Der Vater Ihrer komisch geratenen Kinder blinzelt anerkennend: „Sieht mir verdächtig nach einer von Deinen Sch-Schwiegertöchtern aus“, argwöhnt er, „aber sonst wirklich alles dran!“ Ihr Mann, der Prinz, rülpst, während er Anstalten macht, sich zu verziehen. „Wirk-Wirklich“, gibt er noch von sich, bevor Sie die Schlafzimmertür zuschlagen, „was für´n Brummer! Scheint mir keine Spaßbremse zu sein, so wie gewisse andere Anwesende!“

Jetzt möchten Sie auf der Stelle in Tränen ausbrechen, denn solche Grobheiten müssen Sie schon seit Ihrer Hochzeitsnacht ertragen, aber die Termine warten. Sie raffen sich also auf, als Queen, und beißen sich auf die Lippe. Die Kammerzofe hat immerhin den Hut abgestaubt - halleluja. Und der Motor der Daimler Limousine, die Sie zum Behindertenheim St. Pankraz fahren soll, ist warmgelaufen - Sie kommen tatsächlich von der Stelle und das in einem englischen Auto.

Nach Ihrem Auftritt als Hauptattraktion auf der Geisterbahn (das Heim beher­bergt mehr oder weniger stark verstümmelte Opfer danebengegangener Selbstmordversuche) steht pünktlich Schlag zwölf Uhr der nächste Termin im Kalender: Sie, als Queen eröffnen einen neuen Autobahnabschnitt in Schottland. Die Regierung will den dortigen Separatisten zeigen, was eine Harke ist, darum wird die Königin persönlich eingeflogen.

Der Ort in Schottland liegt leider die Kleinigkeit von ungefähr dreihundert Meilen von St. Pankraz entfernt; also wartet auf dem Rasen vor dem Heim schon ein Armeehubschrauber. Vor der Luke, durch die Sie klettern müssen, steht eine Art Liftboy und salutiert; von innen greifen mehrere grobe Hände nach ihren Schultern und zwingen Sie auf einen Sitz. Kaum haben Sie sich selbst angegurtet (niemand hilft Ihnen dabei - „Wo ist denn meine Handtasche?“)‚ erhebt sich die Blechkiste mit einem Nerv tötenden Heulen innerhalb kürzester Zeit auf dreitausend Fuß Flughöhe, so dass Ihnen um ein Haar das Frühstück zurückkommt. Durch die Fugen der Blechkiste zieht es wie Hechtsuppe‚ und Sie wissen genau, nächste Woche müssen Sie sich zu all dem anderen Ärger auch noch mit einer Erkältung herumschlagen. Aber das Protokoll kennt keine Gnade. Die Politiker der Regierung ihrer Majestät (das sind formell gesehen wirklich Sie!), deren Willkür Sie auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind, konfrontieren Sie nach der Landung mit einer Horde schottisch-nationalistischer Separatisten‚ die auf Trillerpfeifen gegen die englische Vorherrschaft protestieren; nebenher fliegen vereinzelt Eier und Tomaten. Nachdem Sicherheitskräfte die Queen vor dem Piktenpöbel in Sicherheit gebracht hat, geht die Reise Richtung fertiggestellte Autobahnbaustelle, eine einzige Schlammwüste - Gummistiefel a la Schloss Belmoral (die flaschengrünen „wellingtons“) wären jetzt nützlich - und Sie haben nur Ihre lächerlichen dünnen Pumps an. Wind von der nahen Küste kommt auf und schnappt sich Ihren Hut, und die Schere, die man Ihnen in die Hand gedrückt hat, damit Sie das Band zur Freigabe der neuen Straße durchschneiden, ist praktisch eingerostet. Sie müssen dreimal kräftig durchdrücken (auwei, auwei, die Arthritis!), bis die Schere doch greift, und beim dritten Versuch klemmen Sie sich natürlich einen Finger. Das bedeutet einen Bluterguss für die kommenden drei oder vier Tage. Anschließend steht ein Essen auf dem Programm, und garantiert gibt es Fisch, wo Sie jetzt doch viel lieber eine Portion Vanillepudding mit Sahne verdrücken möchten… Mit irgendetwas müssen Sie sich schließlich trösten. Ältere Damen nehmen dazu am liebsten Süßes. Aber man gibt Ihnen, als Queen, nur Saures. Auf dem Rückflug stößt der Helikopter fast mit einem Passagierflugzeug zusammen, so dass Sie glauben, mit einem fatalen Herzinfarkt auf der Strecke zu bleiben. Es zieht an Bord immer noch wie Hechtsuppe, und die Burschen vom Sicherheitsdienst lösen Kreuzworträtsel oder halten Nickerchen. Aus Angst, sich dadurch mit dem Innenminister anzulegen, wagen Sie nichts zu sagen, dabei möchten Sie sich am liebsten endlich, ENDLICH einmal mit jemandem über Ihre Sippe unterhalten, eine richtige Aussprache führen‚ das Herz ausschütten nicht wahr, vielleicht sogar WEINEN, und dafür wissen Sie keinen besseren Platz als hier, im Hubschrauber, in ungefähr dreitausend Fuß Flughöhe‚ wo es sowieso dermaßen laut zugeht, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, und schon gar nicht, was der andere sagt.

Sie wären schon zufrieden, wenn Sie, als Queen, einmal in Ruhe ein Selbst­gespräch führen könnten, aber sogar das bleibt ein Traum, weil alle Leute an Bord denken würden, Sie hätten nicht mehr alle Murmeln beisammen. Außerdem weiß man nie, ob es nicht trotz des Lärms Abhöreinrichtungen gibt - ja, Sie als Queen leben in einem Überwachungsgebiet und werden bespitzelt und observiert‚ wo immer Sie sich grade aufhalten.

Oder Sie müssen es wenigstens befürchten. Da sollen Ihnen nicht irgendwann die Tränen kommen? Hinz & Kunz können jederzeit in den Hyde Park gehen und sich dort auf eine Kiste stellen und frei von der Leber weg reden, worüber sie sich auslassen wollen. Jeder verdammte Idiot hat das Recht dazu - nur die Königin nicht. Die Queen als Rednerin im Hyde Park: DER NATIONALE NOTSTAND WÜRDE AUSGERUFEN, PANZER WÜRDEN ROLLEN!

Wenn man vom Goldenen Käfig spricht - was für ein Leben! Wer braucht da noch Feinde, wenn man Windsor heißt?

Die Hölle ist hier und jetzt

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