Читать книгу EBQUIZEON - Die Welt hinter der Welt (2018) - Andreas Bulgaropulos - Страница 16

Kristallreinigungszelle

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~9~

Coffee, Cit und der Droide betraten ein niedriges, verwinkeltes Gangsystem. Rötliche Lichtquellen beleuchteten es mehr schlecht als recht und warfen die Schatten ihrer Gitterabdeckungen auf den Metallboden und die Personen unter sich.

LD-U20-3s Servogeräusche mischten sich unter das Schritteklacken der beiden Männer, welches mit kurzem Hall von den Wänden zurückgeworfen wurde.

Die Luftaustauschanlage summte vor sich hin.

Coffee empfand die Geräuschkulisse als physische Bedrohung. Wie eine Zwangsjacke, die ihn einschnürte. Selbst das Licht glich einem zähflüssigen Sirup, der von der Decke tropfte und alles zu verkleben schien.

Er lenkte sich mit dem Inspizieren der Rampen ab, die auf beiden Gangseiten zu den Kristallreinigungszellen hinunter führten. Das in Reihe geschaltete und automatisierte Kammersystem stellte eine Sperrzone für Minenarbeiter dar. Nur Wartungstechniker hatten Zutritt. Über den Türen wiesen Displays auf die Unterbrechung des Betriebs hin, der in fünf Stunden wieder aufgenommen werden sollte.

Die drei folgten dem Zickzack der Gänge und passierten mehrere Kammern, bis der Roboter das Erreichen des Tatorts signalisierte. In einer Sackgasse angekommen, machten sie an der vorletzten Zelle links halt, wo ein weiterer Lockdown-Droide und ein Medic-Droide auf Posten standen. Nach ihrem kurzen Bericht trat die Maschine des Einsatzkommandos beiseite und gab den Tatort für die Sol Guard-Männer frei.

05:55 Uhr.

Coffee ließ die Szenerie auf sich wirken. Er konzentrierte sich zunächst auf das mit bloßem Auge Sichtbare, bevor er seine Scans einleitete.

Am unteren Ende der Rampe befand sich ein geschlossenes Metallschott, hinter dem, wie er wusste, eine Schleuse lag, die den Zugang zur Zelle ermöglichte. In der Kammer selbst bestand während des Reinigungsprozesses Lebensgefahr, da die Rohkristallbruchstücke in Schwerelosigkeit herumgewirbelt und mithilfe gezielter Ultraschallstrahlen von Verunreinigungen befreit wurden. War der Inhalt des raumgroßen Containers gesäubert, wurde er angehoben und durch die Decke zur Abteilung der kristallinen Ausbesserung bewegt. Inzwischen rückte von unten der nächste Container nach. Die Zelle stellte somit eine Todeszone dar, die nur durch die Werkszentrale oder das interne Sicherheitssystem einer Kammer deaktiviert werden konnte.

Oberhalb des Schleusenschotts blinkte ein grünes Hologrammsymbol: Die Reinigungszelle war, wie alle anderen, außer Betrieb und gefahrlos zu betreten. Das Schott zeigte keine Anzeichen äußerer Krafteinwirkungen, und am Boden oder den Wänden war ebenso nichts Verdächtiges zu entdecken.

Enttäuscht aktivierte Coffee den Scanner. Doch auch hier löste das Resultat Ernüchterung bei ihm aus. Die Sensoren seines Anzuges registrierten weder Anomalien noch die Existenz einer illegitimen DNA.

Anscheinend hielten sich nur Arbeiter mit Zugangsberechtigung hier auf … keine Fremdindividuen.

Der Sol Guard-Mann fragte sich, wie die Person, wenn überhaupt ein Mensch in der Zelle lag, dort hinein gekommen war, ohne vor der Schleuse die geringsten Reste zu hinterlassen. Sogar bei jedem Kunstwesen blieben Materialpartikel zurück. Und die Luftaustauschanlage war in diesem Bereich nicht auf eine aseptische Funktion ausgelegt. Es mussten Spuren zu finden sein, auch wenn die Frau schon tot in die Zelle gelegt worden war.

Doch ergab das einen Sinn? Coffee konnte sich effektivere Methoden vorstellen, eine Leiche verschwinden zu lassen – vor allem gab es weitaus unauffälligere. Dem vermeintlichen Mörder musste die Entdeckung seines Vorgehens klar gewesen sein, denn ein Körper löste sich da drinnen nicht spurlos auf. Reste für eine Identifikation blieben selbst nach dem völligen Zerfetzen übrig.

Es sei denn, es handelt sich um eine Inszenierung der Crystal-Jackers. Dass die Bande ihre Aktivitäten hochfährt, deckt sich mit der Theorie, die Isherhill beim Briefing aufgestellte. Aber warum? Um von einem anderen Coup abzulenken?

Eine vage Theorie. Zudem: Die Serpentinen der Transporttunnel verschlossen sich während einer Stilllegung hermetisch bis hin zur Oberfläche. Nicht einmal eine Maus entkäme von dort, also säße auch eine Diebesbande mit ihrer Beute in der Falle.

Unlogisch. Und trotzdem sind vor kurzem Brymm-Ladungen in den Tunneln verschwunden …

Der Fall entwickelte sich mit rasanten Schritten zum Untersuchungshorror, das wurde dem Sol Guard-Mann bewusst. In den vergangenen Wochen hatten sich in Kap Rosa dutzende unerklärliche Vorfälle gehäuft, aber diese Geschichte stellte die Krönung dar.

Besteht etwa eine Verbindung zwischen allen …

Er zog die Augenbrauen hoch, legte den Kopf schräg und lauschte in sich hinein. Die MindCell-Daten der Ermittlung erhielten eine Aktualisierung.

Obwohl sich das Dickicht an Fragen etwas lichtete, verhießen die Infos auch Negatives. Mona hatte die Wartungsprotokoll-Analyse der Sektion abgeschlossen. Ungewöhnlich spät, wie Coffee fand. Absurderweise war die Deaktivierung der Reinigungszelle nicht durch das Personal erfolgt, sondern durch den Computerzugriff einer unbekannten Quelle. Doch seit dem Tathergang vor ungefähr neunzig Minuten war es Mona nicht gelungen, die Quelle zu lokalisieren. Noch ungewöhnlicher! Als eine der leistungsfähigsten KIs des Sonnensystems benötigte sie zur Identifizierung einer Systemmanipulation für gewöhnlich einen Wimpernschlag.

Coffee geriet ins Grübeln. Wurde der Hauptcomputer der Sol Guard von Funktionsstörungen befallen? Zwei Verzögerungen ohne Grund … was, wenn Mona Fehler unterlaufen sind? Dann stand es um die Sicherheit von Kap Rosa und den ramponierten Ruf seiner Firma schlechter, als er dachte. Im Moment schreckte er jedoch davor zurück, den Gedanken weiterzuspinnen. Schließlich existierte ein Beweis für Monas Langsamkeit: die Leiche in der Zelle und tausend aufwändig zu berechnende Faktoren. Trotzdem würde er später eine Systemdiagnose der Künstlichen Intelligenz beantragen.

Des Weiteren hatte sich Monas Überwachungsprotokollen zufolge definitiv jemand zur Tatzeit in der Abteilung aufgehalten. Und das war der springende Punkt, denn es handelte sich um einen Unbekannten ohne Signatur. Den Techniker Cabrallo entlastete das teilweise, da der Mann sowohl eine gültige Signatur als auch eine Arbeitserlaubnis für den Bereich besaß – auch wenn er den Einsatzort nie erreicht hatte. Wie Coffee der Datenaktualisierung aber entnahm, waren seine Teamkollegen Patricia und Warren bei der Prüfung des Materials auf Unstimmigkeiten gestoßen. Antonio Cabrallo hatte in einer der oberen Etagen Reparaturen vorgenommen, zu denen er nicht eingeteilt gewesen war, was seine MindCell-Standortbestimmung für den Zeitpunkt bewies. Außerdem tauchte der Mann nicht auf den Aufnahmen der Gangkameras des Reinigungszellentraktes auf.

Somit konnte es sich bei dem Unbekannten, den Monas Protokolle verzeichneten, nur um die Frau handeln. Eine Frau wiederum, die es in Kap Rosa nicht geben durfte, da jeder Mensch oder Droide über die Registrierung des MindCells zu identifizieren war, während jeder Nichtregistrierte niemals bis hierher gelangt wäre.

Dennoch ist sie da … die verdammt noch mal eindeutigste Sicherheitslücke, die man sich vorstellen kann! Und wegen unsinniger Geheimhaltungsparagraphen von Skyrock verschleppte sich mal wieder die Freigabe der Aufnahmen des Tatorts, der Zelle. Vieles hing im Moment also davon ab, was darauf zu sehen war.

Nachdem Coffee die neuen Informationen ausgewertet hatte, gab er seinem LiSi einige Gedankenbefehle und initiierte eine Recherchehilfe, die sich »Rewind-Time-Surveillance« nannte. Dazu übermittelte der Kontrollpunkt für MindCell-Signaturen im Gang seinem Visier die Anwesenheitsdaten sämtlicher Individuen der letzten drei Tage. Holografische Spiegelbilder, präzise aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt. Er wollte feststellen, ob den Kameras tatsächlich etwas Unsichtbares entgangen war.

Sein Visier leuchtete auf, und die geisterhaften 3D-Einspielungen von Wartungsarbeitern erschienen nacheinander mit Zeitcode und Namen versehen. Der Sol Guard-Mann verfolgte ihre Tätigkeiten, doch keiner der Techniker verweilte länger vor Ort oder betrat die Kammer, vor der er stand. Alles wirkte wie Routine. Kein Anhaltspunkt für die Aktivitäten eines Diebstahls.

Bis plötzlich eine neue Einspielung vom heutigen Tag hinzukam. Verwaschene und sehr schnelle Anwesenheitsdaten einer Person, die eine Fremdsignatur besaß und mit einem Fragezeichen gekennzeichnet war.

Die große Unbekannte! Obwohl dich die Kameras nicht erfasst haben, kann ich dich sehen. Was treibst du denn so?

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Person bewegte, verblüffte den Master-Officer. Er musste sich die Aufnahme erneut in Zeitlupe anschauen, um etwas zu erkennen und beobachtete, wie der Geist den Gang entlang schoss und die Zelle auf eine unerwartete Weise infiltrierte: Die Schleusentür öffnete sich von selbst, als würde der Eindringling bereits erwartet.

Coffees Blick fiel auf den Zeitindex. 04:22 Uhr – die Reinigungszelle befand sich bereits sieben Minuten außer Betrieb und im Alarmzustand. Was wiederum bedeutete, dass der Geist auf keinen Fall die Frau sein konnte, da ihre Leiche zu diesem Zeitpunkt schon in der Zelle lag.

Wer zum Teufel ist das?! Und wie ist jetzt die Frau da reingekommen?

Er verfolgte die Einspielung weiter, bis der Geist nach wenigen Sekunden die Reinigungszelle verließ und durch das Gangsystem verschwand. Ein auffälliger Energieschleier umspielte den Fremden, der vorher nicht zu sehen gewesen war.

Nachdenklich beendete Coffee den Vorgang. Seine Erkenntnisse wurden in die Infodatei des Falls aufgenommen und standen somit jedem seiner Kollegen zur Verfügung.

Die Personalien der Spukgestalt zu bestimmen, kam am heutigen Morgen einem Stresstest gleich. Er richtete eine Identifizierungsanfrage an Mona, aber wie vermutet kündigte ihm die KI eine Wartezeit aufgrund der Datenflut an, die ihre Quantenprozessoren momentan bearbeiteten. Die MindCell-Kontrollpunkte in den Minenabteilungen mussten in einem aufwändigen Verfahren synchronisiert und auf die Merkmale der Geist-Signatur geeicht werden. Ein Novum in der Überwachungsgeschichte des Computers.

Coffee atmete ruckartig ein und straffte sich – er brannte darauf, die Leiche zu sehen. Ein Kribbeln der Anspannung erfasste ihn, als er LD-U20-3 befahl, das Schott der Reinigungszelle zu öffnen.

Der Roboter trat vor und betätigte den Öffnungsmechanismus.

Das Knallen aufschnappender Metallbolzen ließ Cit zusammenzucken, der in den letzten Minuten erfreulicherweise keinen Mucks von sich gegeben hatte. Anschließend zischte die Tür und glitt in die Wand. Nachdem der Lockdown-Droide in die Schleuse gestapft war, öffnete er die innere Zellentür und trat entsprechend seiner Order, Tatorte nur abzusichern, beiseite.

Der Sol Guard-Mann durchquerte die Schleuse. Ein seltsam beißender Geruch schlug ihm entgegen, ein Geruch, der nicht hierher gehörte und der eine Empfindung bei ihm auslöste, die tief mit ihm verwurzelt aber aus einem anderen Leben zu stammen schien. Ist das … eiskalter Winter … oder … Ammoniak?

Coffees Nackenhärchen stellten sich auf. Er war kein abergläubischer Mensch, doch diesen Hauch des Übernatürlichen deutete er als schlechtes Omen. Alarmiert ging er weiter und betrat die Reinigungszelle.

Über den Boden lagen hunderte von blauen Kristallbrocken verstreut, die unter seinen Stiefeln knirschten, als ob er auf Scherben lief. Die spitzgezackten Mineralstücke besaßen eine Länge von einem halben Meter und einen Durchmesser zwischen zehn und vierzig Zentimetern. Bis zum hinteren Ende der Kammer reichte der Scherbenteppich, wo ihm sein Visier eine Besonderheit markierte. Eine Erhebung, teils unter dem Roh-Brymm verborgen und ebenso blau wie das Mineral selbst: die Frauenleiche.

Vorsichtig näherte er sich der Stelle und aktivierte seinen Scanner. Das Gerät überlagerte den Raum sogleich mit einem holografischen Gitternetz, um jedwede Eigentümlichkeit anzuzeigen. Doch bevor Coffee seine Aufmerksamkeit auch nur einem der Holo-Fähnchen widmen konnte, die an mehreren Punkten aufblinkten, knirschte es unvermittelt hinter seinem Rücken – und Cit stürmte an ihm vorbei.

Der Master-Officer verharrte eine volle Sekunde wie vom Blitz getroffen. Dann stieß er einen Schrei aus und hetzte seinem Begleiter nach, der wie ein Rindvieh über die Splitter trampelte. Er wollte nach dem Jungen greifen, blieb aber mit dem Fuß hängen und knallte der Länge nach hin. Sein Aufschlag verursachte einen Höllenlärm, der die Stille wie berstendes Glas zerriss und dutzende Kristallstücke aufwirbelte, die wiederum einen Splitterschauer erzeugten. Nur sein Schutzanzug bewahrte ihn vor schwerwiegenden Schnittverletzungen.

Coffee fragte sich, ob das gerade tatsächlich geschah oder er an Halluzinationen litt. Nachdem er aber verlässliche Analysewerte bezüglich der Verwüstung des Tatorts von seinem Holo-Visier abgelesen hatte, verwünschte er diesen Idioten. Mineralstaub rieselte von seinem LiSi herab, als sich wie ein Rachegott erhob.

Game over, Kid!

Cit hüpfte um die Tote herum. »Wow, was für eine Riesenscheiße!«, kreischte er und lachte irre. »Hey, Goff, hierher. Ich hab sie, ich hab sie! Schreib das in deinen Bericht rein, Bruder … ich hab sie gefunden. Cool, oder?! Fuck, was ’ne Schweinerei … uäh … mir wird kotzübel.«

Coffee machte mehrere schnelle Schritte und griff zu. Er zerrte Cit aus der Kammer, stieß ihn durch den Schottbereich und schleuderte ihn die Rampe hinauf.

Der Junge prallte mit Wucht gegen die Gangwand und ging zu Boden.

»JETZT REICHT’S!«, donnerte Coffee. »Was für ’ne Show ziehst du hier eigentlich ab, du kleiner Wichser?! Das ist kein Ex-R-Spielchen, sondern Realität! Und ich bin auch nicht dein verdammter Bruder.« Der Sol Guard-Mann ballte die Fäuste. »Gott, würde ich dich gerne zur Erde zurückprügeln!«

Cit rappelte sich hoch und tastete nach seiner Nase. Sie war geschwollen und blutete. Er sah seinen Teamführer mit verzerrter Miene auf sich zukommen, presste sich gegen die Wand und jammerte: »Au … shit, Mann. Warte, warte, warte … schon gut … hab’s ja kapiert! Schlag mich nich, okay?«

Ohne Umschweife nahm Coffee dem Jungen die Handfeuerwaffe ab, packte ihn am Kragen und erwiderte gefährlich leise: »Schlagen wäre schön, aber ich weiß etwas Besseres. Ich reiche bei Skyrock Beschwerde gegen dich ein, denn du gehörst in eine Arrestzelle. Sollen die sich mit deinem Onkel auseinandersetzen. Und noch was: Dein erster Einsatz endet hiermit. Du bleibst vor der Kammer und kannst von mir aus verhungern, verdursten oder noch mehr verblöden … ist mir scheißegal! Aber wehe, du rührst dich vom Fleck oder zerstörst weitere Beweise. Dann töte ich dich, Kleiner!«

Coffee gab dem Lockdown-Droiden im Gang den Befehl, Cit mit allen erforderlichen Maßnahmen daran zu hindern, die Reinigungszelle zu betreten, inklusive Waffengewalt. Gut möglich, dass er sich ein Ermittlungsverfahren einhandelte, doch diese Farce hatte auf der Stelle ein Ende.

06:07 Uhr. Während er zurück durch die Schleuse eilte, glomm eine Meldung aus der Zentrale in seinem Visier auf.

Das künstliche Gesicht von Mona erschien. »An alle Team 1 Officers: Ein blockiertes Türkraftfeld verhindert den Zugriff auf den Wartungstechniker Antonio Cabrallo. Unsere Droiden, die den Mann arretieren sollen, installieren soeben schweres Gerät, um die Wohnung zu stürmen. Des Weiteren ist Cabrallos Signatur von meinen Scannern verschwunden. Achtung, ich wiederhole: Der Verdächtige ist nicht mehr zu lokalisieren! Ich erteile dem Vorgang Sol-Red-Status. Höchstes Sicherheitsrisiko bei den Ermittlungen. Die Zugriffspriorität für die Zielperson wird angehoben.«

Zum ersten Mal heute meldete sich Coffees Instinkt. Trotz gegenteiliger Indizien mussten die tote Frau und dieser Techniker in Verbindung zueinander stehen. Beide waren Teile eines Puzzles, dessen Zusammenhänge er nicht durchschaute, und daran trug dieser Schwachkopf eine beträchtliche Mitschuld. Jetzt rannte ihm die Zeit davon.

Der Master-Officer betrat die Kammer und stand neben der Leiche. Es handelte sich tatsächlich um eine Frau, übel zugerichtet, aber unverkennbar weiblich. Sie trug keine Kleidung, lag auf dem Rücken und besaß die gleiche blaue Hautfarbe wie das Brymm. Ihr Körper war übersät von Schnittwunden sowie Kristallstücken, die in der Haut steckten.

Dass sie nicht zerrissen wurde, grenzt an ein Wunder!

Die Verletzungen wirkten echt – die Haut, das Fleisch – keine Kunstmaterialien wie die von Droiden, sondern menschlich, nur blau. Der Boden unter ihr schwamm in einer bläulich schimmernden Flüssigkeit, bei der es sich nach Coffees Vermutung um ihr Blut handelte. Einiges davon klebte an den Wänden.

Er nahm eine Probe und schob das Röhrchen in die dafür vorgesehene Öffnung an der Hüfte seines LiSi. Um den linken Ärmel leuchteten mehrere holografische Anzeigen auf, die ihn über den Fortschritt der Analyse informierten.

Die auffälligste Wunde der Toten fand sich jedoch in der Herzgegend. Dort klaffte ein faustgroßes, fluoreszierendes Loch, von dessen Rändern Leuchtpartikel aufstiegen.

Der Sol Guard-Mann konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben eine vergleichbare Wunde gesehen zu haben. Mithilfe des medizinischen Fachwissens seines SuperMindCell identifizierte er das Loch als eine Verletzung, die weder von einer Waffe noch von einem Kristall herrührte. Anscheinend war etwas aus der Frau herausgeplatzt oder mit Gewalt entfernt worden. Er ging in die Hocke und führte einen Close-Up-Scan durch, der in die Tiefen des Körpers eindrang. Dieser bestätigte ihm, dass sie keinen MindCell besaß – und sich ihre Genstruktur fundamental von der eines Menschen unterschied.

Coffee stieß die Luft aus. Zu allem Überfluss fehlte ihr Herz.

Welche Art Frau war das, vor der er kniete? Ein Laborexperiment? Oder doch ein Droide?

Vielleicht keines von beiden …

Gehörte jenes Wesen zu der neuen Produktreihe der Gyronics-Tech Corporation, die vor wenigen Monaten die perfekte Menschmaschine, den »Humoid«, auf den Markt gebracht hatte? Die Klonroboter existierten erst in geringer Stückzahl, besaßen durch die Zellregeneration ihrer organischen Teile relative Unsterblichkeit und durften aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Imitation von Lebewesen, eines Unsichtbarkeitsmodus und ihrer Waffenbestückung, nur mit einer Sonderlizenz verkauft werden. Nevis Korvalinski besaß eine solche Lizenz.

Coffee hatte Korvalinskis Humoid »Callisto« bei dessen Inbetriebnahme zum Leibwächter kennengelernt und die ganze Zeit eine nicht greifbare Bedrohung im Raum verspürt. Die halbsynthetischen Wesen der nächsten Generation umgab etwas Seelenloses. Sie strahlten Allmacht und Unbarmherzigkeit aus.

Aber es spielte keine Rolle, um welche Lebensform es sich bei der Leiche handelte, denn sie hätte sich nicht in einem Hochsicherheitsbereich wie diesem befinden dürfen. Nicht einmal ein Humoid vermochte mithilfe seines Tarnsystems eine Mine zu infiltrieren. Geschweige denn ein Mensch.

Über das Sonnensystem verstreut lebten zwar ethnische Gruppen, die den MindCell aus religiösen Gründen ablehnten, solche Leute ließ man aber nicht nach Kap Rosa einreisen. Zudem verhinderten in der Stadt tausende Kontrollpunkte durch Paralysestrahlen die Fortbewegung von Individuen ohne Biochip oder denen, deren DNA von der Norm abwich.

Der Master-Officer scannte gründlich die Herzwunde der Frau und entdeckte Fremd-Zellen. Neben seinen eigenen und denjenigen des Hornochsen Cit, registrierte das Gerät Partikel von … Antonio Cabrallo! Also doch!

Wie hatte der Miner es trotz gegenteiliger Überwachungsberichte geschafft, bis hierher vorzudringen? Noch verwirrender daran war, dass seine DNA-Fährte in den oberen Etagen der Anlage endete und hier wieder auftrat. Weiterhin entsprach der Fund dem Genom des Technikers zwar, stimmte aber nicht hundertprozentig überein. Die Analyse zeigte Ungereimtheiten, interpretierbar als Mutationen. Warum hatten die Kontrollpunkte von Kap Rosa darauf nicht angesprochen?

Als Coffee an Monas letzte Meldung um die verlorene Lokalisierung von Cabrallo dachte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der Mann war in der Lage, seine Signatur zu verändern oder das Signal sogar abzustellen. Unglaublich, aber die logischste Erklärung. Nur so hatte er als Geist die Zelle erreichen können. Hingegen blieben seine anormale Bewegungsgeschwindigkeit und die Veränderung seines Gencodes ein Rätsel.

Na hallo … was ist denn das? Coffee pfiff durch die Zähne. Sein Scanner hatte an der Frauenleiche inaktive Nanobots festgestellt. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, denn die mikroskopisch kleinen Helfermaschinen der fast ausschließlich verwendeten Aegis-Klasse arbeiteten in jedem menschlichen Blutkreislauf. Aber diese Bots hier gehörten nicht zur Aegis-Klasse. Sie gehörten zu gar keiner bekannten Klasse, und sie trugen weder die Kennung der Toten, noch die von Cabrallo.

Der Fall wird immer mysteriöser. Gibt es einen dritten …? Der Master-Officer hielt inne und horchte erneut in sich hinein.

Endlich stehen die Überwachungskamera-Aufnahmen der Zelle zur Verfügung! Nun würde er sehen können, wie die Frau zur Tatzeit die Kammer betrat.

Er ließ sich das Material einspielen, das sofort über sein Visier flimmerte.

Um 04:14 Uhr, bei laufendem Betrieb und eine Minute bevor die Zelle den Alarm ausgelöst hatte, öffnete sich entgegen Coffees Erwartungen keineswegs die Schleusentür. Vielmehr entstand zwischen den wirbelnden Kristallen eine Energieentladung im Raum.

Er traute seinen Augen nicht, als die blauhäutige Frau in jener Entladung auftauchte, von den Brymm-Stücken getroffen und mit ihnen durch die Schwerelosigkeit geschleudert wurde. Während ihr Körper wie ein Blatt dem Sturm ausgeliefert war, streckte sie die Arme von sich und begann zu leuchten.

Und jetzt geriet die Sache noch absurder: Ihr Brustkasten platzte auf. Aus der Öffnung ergoss sich eine Flut ultrahellen Lichts, in dem ihr Herz zu erkennen war – ein fremdartiger, pulsierender Gegenstand.

Die Zelle schaltete sich ab, die Frau stürzte zu Boden und blieb liegen. Anschließend fielen die Kameras aus und die Aufnahme endete.

Begleitet von einer Meldung knüpfte der Computer von Coffees LiSi an das Geschehen an, indem er eine Simulation des weiteren Tathergangs auf das Visier projizierte. Acht Minuten nach dem Tod der Frau erschien Antonio Cabrallo, griff in den Thorax der Leiche, entfernte einen funkelnden Gegenstand und verschwand.

Er hat ihr Herz mitgenommen!

Der Sol Guard-Officer war wie gelähmt. Das übertraf seine wildesten Vermutungen. Ob sich die Ereignisse bis ins Detail so abgespielt hatten, blieb ungewiss, aber wenn nur die Hälfte davon den Fakten entsprach, präsentierte sich der Fall in einem neuen Licht.

Als er sich erhob, informierte ihn sein Anzug über die Analyse des blauen Blutes, die bei einem Fortschritt von 32% ins Stocken geraten und abgeschlossen war. Aufgrund der Unvollständigkeit bestanden an der Korrektheit des Ergebnisses demnach Zweifel. Denn angeblich handelte es sich bei der Flüssigkeit um eine hochkonzentrierte Form von Brymm-Energie, die in ihrer Reinheit die Qualität der Mondkristalle um das Tausendfache übertraf.

Coffee versuchte sich fieberhaft einen Reim darauf zu machen, aber er war in seiner Karriere noch nie auf etwas dermaßen Unerklärbares gestoßen.

Dennoch … der Schlüsselgegenstand ist das Herz der Frau.

In Anbetracht der Erkenntnisse hastete er an LD-U20-3 vorbei nach draußen auf den Gang und überreichte dem anderen, in Warteposition befindlichen Lockdown-Droiden das Röhrchen mit der Probe. Er instruierte den Roboter, sich damit umgehend zur Oberfläche zu begeben. Das Labor sollte eine intensive Untersuchung des Blutes einleiten, die sein LiSi vor Ort nicht bewältigen konnte.

Die Maschine bestätigte, stampfte los und verschwand um die Gangbiegung.

Ungeachtet des vor sich hin fluchenden Cit eilte Coffee abermals zurück durch die Schleuse, um ein paar Gespräche zu führen, die der Bursche nicht mitzukriegen brauchte. Lester und Isherhill mussten über das Brymm-Blut der blauen Frau und Antonio Cabrallos Genmutation informiert werden. Und dass der Techniker nicht nur ein beträchtliches Sicherheitsrisiko darstellte, sondern sich im Besitz ihres Herzens befand.

Der Medic-Droide begleitete Coffee auf sein Zeichen hin, um die Leiche für den Abtransport vorzubereiten. Die Lage machte eine rasche Obduktion erforderlich.

In der Reinigungszelle baute der Master-Officer die Verbindung zu seinem Teamchef auf, dessen Gewittermiene auf dem Holo-Visier erschien.

»Morgen. Warum meldest du dich jetzt erst?«, maulte Lester ihn an. »Du müsstest längst Cell-Daten gesendet haben, dann könnte ich mir anhand deiner Ermittlungsergebnisse bereits ein Bild machen.«

Coffee blinzelte vor Überraschung. »Wie bitte? Hat zwar gedauert, bis ich die Dinge halbwegs durchschaute … aber du hättest dich informieren können. Meine Ergebnisse wurden vor sechs Minuten gesendet!«

Lester runzelte die Stirn. »Im Ernst? Ich finde von dir keinen Eintrag in der Akte. Nur Patricias und Warrens Daten. Woran liegt das?«

In Coffees Gehirn jagte eine Spekulation die nächste, während er die Finger in seinem Kraushaar vergrub. Dann riss er die Augen auf. »Verdammt, Les … das könnte an Mona liegen! Mir sind bei zwei ihrer Arbeitsprozesse Verzögerungen aufgefallen. Wir müssen Isherhill um eine Systemdiagnose bitten!«

»Das können wir im Moment vergessen«, dämpfte Lester die Hoffnungen seines Kollegen. »Der Company-Inspektor schaut ihm auf die Finger. Da genehmigt Simon garantiert keine wartungsbedingten Ausfälle des Hauptcomputers. Er hat eben schon so eigenartig reagiert, als es um meine Anweisungen ging … er steht ziemlich unter Druck. Hoffentlich erhalten wir bald Zugriff auf den Verdächtigen, und hoffentlich hat dieser Duquette nicht weitere glorreiche Ideen auf Lager, wie er uns ›behilflich‹ sein kann. Ich werde später mit Simon über Mona sprechen, aber erst mal komme ich runter zu euch. Kann allerdings noch dreißig Minuten dauern … die Vangristen funkt mir dazwischen. Also, kläre mich über die Details auf.«

Coffee holte Luft. »Okay, vergessen wir fürs Erste Cit … über unseren Neandertaler rege ich mich nachher auf. Das Wichtigste: Antonio Cabrallo muss festgenommen werden, jetzt sofort! Er war hier in der Zelle! Und er hat sich mit einer abartig hohen Geschwindigkeit bewegt, was vielleicht an seiner DNA-Mutation liegt. Doch auch die Frauenleiche kann man kaum als Menschen bezeichnen, da ihr Blut eine Art Energieflüssigkeit ist. Ich habe eine Probe davon ins Labor geschickt. In ihrem Fall sprengt unser Sicherheitsproblem alles, was wir bisher erlebt haben, weil …« Coffee stockte, so unfassbar erschien ihm der Vorfall aufs Neue. »Ich hatte Einsicht in die Kameraaufnahmen. Du glaubst das nicht … die Dame ist aus dem Nichts in der Zelle aufgetaucht. Wahrscheinlich handelt es sich um Teleportation!«

»Schlechter Scherz?« Lester verzog das Gesicht. »Klingt ja völlig …«

»Absurd, richtig. Aber wie wir wissen, experimentieren mehrere Firmen mit der Technologie. Und wenn ich mir alle Indizien anschaue, ist das die einzig logische Erklärung. Was aber noch interessanter an der Frau ist: Cabrallo hat ihr Herz an sich genommen! Es scheint sich um ein hochenergetisches Organ zu handeln, das …«

Ohne Vorwarnung verschwand die Holo-Übertragung von Coffees Visier. Zurück blieb ein Keine-Verbindung-Symbol. Verdutzt versuchte er den Kontakt wiederherzustellen, denn zumindest hätte er bei der Zentrale landen müssen, wenn die Verbindung zu einem Team-Mitglied unterbrochen wurde. Aber das Durchkommen zur Oberfläche schlug fehl und umgekehrt wahrscheinlich ebenso. Auch die Versuche, das Lockdown-Kommando oder seine zwei Kollegen in der Sektionszentrale zu erreichen, scheiterten.

Abgeschnitten!

Während er grübelte, ob in den Tiefen der Brymm-Minen die Kontaktaufnahme jemals versagt hatte, blinkte eine ihm unbekannte Gesprächskennung auf dem Visier. Er zog die Augenbrauen hoch. Ein simples Privatgespräch fand den Weg hier herunter? Und ein Privatgespräch, das über den abgesicherten Sol Guard-Kanal lief, stellte eine noch größere Merkwürdigkeit dar. Außer, die Priorität entsprach einer Stufe, die von der Zentrale genehmigt worden war. Versuchte irgendwer ihn auf diesem Weg zu erreichen?

Der Anführer eines Teams bekam jedoch auch jene Signale angezeigt, die an die Mitglieder seiner Einheit gingen. Und der Anruf betraf tatsächlich nicht ihn, sondern war für jemanden bestimmt, mit dessen Beteiligung er gerade jetzt nicht gerechnet hatte.

Cit!

Coffee brauchte nicht lange auf den Beginn der Übertragung zu warten. In einem Display-Fenster leuchtete Bazille auf und in dem anderen – er hielt den Atem an – eine außergewöhnlich attraktive Frau. Sie besaß die Züge eines Göttinnen-Bildnisses der Antike, kurzes brünettes Haar, sinnliche Lippen und Augen so dunkel wie der Nachthimmel. Ihre Gesichtssymmetrie definierte den Begriff Perfektion neu und ihr Bronze-Teint unterstrich ihre mediterrane Abstammung. Eine Aura umwaberte ihren Kopf, die ihr etwas Übermenschliches verlieh.

Coffee erschauerte. Der Blick, mit dem sie Cit fixierte, hätte Welten in Stücke zu schneiden vermocht.

»Hey Darling, was ist los bei dir?«, raunte sie. »Du hast meinen Anruf vor ein paar Minuten nicht entgegengenommen. Warst du beschäftigt? Ich hoffe, du hast die Sache erledigt, um die ich dich gebeten habe.«

Der Junge wirkte überrumpelt und lief knallrot an.

»Äh … hi, B… Baby. Shit, das is jetzt … also jetzt ist das grad ganz schlecht, dass du m… mich hier anrufst.« Verstohlen schaute Cit nach beiden Seiten und flüsterte: »Wir sind noch hier unten, äh … und mein Boss … also, der is noch mit der Leiche zugange. Wie haste das überhaupt geschafft … ich meine … auf meinem VidCom zu landen? Dachte, das ist unmöglich … wegen der Filter …«

»Lenk nicht ab«, unterbrach ihn die Frau rüde. »Sagtest du, der Officer ist alleine bei dem Körper dieses Miststücks? Warum hast du ihn nicht begleitet?«

Cit druckste herum und wich aus. »Na ja … äh … hab ich ja. Hab alles unter Kontrolle, ehrlich Baby … alles im grünen Bereich. Den hab ich so zugequatscht … vor allem im Fahrstuhl … war echt cool. Das hättest du mal hören sollen, wie …«

Die Frau geriet in Rage. »Halt die Klappe, du Vollidiot! Du solltest ihn nicht nur ablenken, sondern ihn vor allem nicht aus den Augen lassen. Ist das so schwer zu kapieren? Der Körper darf auf keinen Fall aus der Mine transportiert werden. Kein Teil davon! Muss ich dir alles dreimal sagen? Jetzt beweg dich und sieh nach, was der Officer treibt.«

Die Dominanz in ihrer Stimme gestattete keinen Widerspruch.

»Ja … also … da gibt’s ’n Problemchen. C… Coffee hat mich hier draußen … sozusagen vor der Zelle … äh … er hat mich auf Eis gelegt. Ich darf nich mehr rein. Verstehste, da war …«

Der Gesichtsausdruck der Göttin verzerrte sich zu einer hasserfüllten Fratze. »WAS?«, fuhr sie ihn an. »Du hast keinen Zutritt mehr zu der Reinigungszelle? Du inkompetente Null! So ein Fehler hätte dir nie unterlaufen dürfen. Hat der Sol Guard-Mann eine Gewebe- oder Blutprobe genommen?«

»Ich, ähm … keine Ahnung. Er kam raus und quatschte mit dem Droiden wegen ’ner Untersuchung. Dann gab er ihm was und ist wieder …«

Vor Zorn begann die Frau zu rasen. »ER GAB IHM ETWAS?!«, kreischte sie, und ihre Augen glühten. »Was war das? Ist der Droide noch da?«

»R… reg dich doch nich so auf, Ambrosia«, murmelte Cit. Ihm saß die blanke Furcht im Nacken. »I… ich bieg das wieder hin … echt … wirst sehen, kein Probl…«

»Nichts biegst du hin, Trottel! Du hast es versaut!«, schrie sie wie eine Furie. Die Aura um ihren Kopf nahm eine violette Färbung an. »Ich habe dich nur um diesen Gefallen gebeten und nicht mal das bringst du fertig. Wir hatten eine Vereinbarung, als Gegenleistung für die heißen Nächte in dem Heliopolis-Szenario, weißt du noch? Du erinnerst dich an die Palastsklavinnen oder an unsere Fesselspielchen? Jeden deiner Wünsche habe ich erfüllt. Wer hat dich gekratzt, gebissen und geleckt, hm?«

»Klaro … ich steh auf unsere geilen Ex-R Treff…«

»Und was kriege ich dafür? Nichts, du Versager! Ich habe keine Verwendung mehr für …«

Schlagartig entspannte sich das Antlitz der Frau. Das Violett ihrer Aura verschwand, und ihre Stimme nahm einen bedrohlich ruhigen Ton an.

»Wie ich gerade merke, haben wir einen ungebetenen Zuhörer, Cit, Schatz. Meine Abschirmungstechnik bedarf wohl noch einiger Verbesserungen. Guten Morgen, Officer. Wie laufen die Ermittlungen?«

Coffee kam sich ertappt vor. Die Anzeige auf seinem Visier bestätigte ihm aber, dass die Frau ihn nicht sehen konnte.

Er schwieg.

»Ich bitte Sie, Master Officer Cole Goffey«, säuselte die Göttin. »Sie haben unser Gespräch belauscht, nicht wahr? Aber das spielt ohnehin keine Rolle. Denn der Augenblick ist nah … Sie werden den Körper meiner Schöpfung nicht mehr bergen können. Ach, mein geliebtes Kind.« Die Zärtlichkeit in ihren Worten schwang in Traurigkeit um. »Mein unartiges Kind. Jetzt erhält es seine gerechte Strafe, verstehen Sie, Officer?«

Da sie Coffees vollen Namen und den Dienstrang wusste, brach er das Schweigen. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Lady, dass Sie eine strafbare Handlung begehen. Auf das Hacken der Sol Guard-Kanäle steht nach Artikel 52, Paragraph 14 des Kap Rosa Gesetzbuches die Höchststrafe von bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug ohne Bewährung. Ein Strafmaß, welches insbesondere für alle involvierten Personen gilt, die ihre reale Identität verschleiern. Wir kennen Mittel und Wege …«

Die Frau mit dem Namen Ambrosia brach in schallendes Gelächter aus. »Officer Goffey, Officer Goffey … was soll ich jetzt mit Ihnen machen? Sie scheinen mir ein Mann zu sein, der etwas von seiner Arbeit versteht und die Nerven behält, habe ich recht? Und Sie haben mich natürlich durchschaut. Doch ich frage Sie, was ist real und was nicht? Und besteht da ein Unterschied? Und wenn, nach Ihrem Ermessen, ein Unterschied bestünde und wir uns dennoch gegenseitig beeinflussten, gehörten wir dann nicht einer einzigen, gemeinsamen Realität an? Einer Überrealität? Das würde uns zu etwas wie … Weggefährten machen. Zu einer großen Familie, nicht wahr?«

Sie giggelte wie ein Mädchen.

»Denn keiner von uns könnte ohne den anderen das erreichen, wonach wir alle streben. Wesen zu sein, die in der Lage sind, das Universum unseren Wünschen anzupassen. Wir würden nebeneinander wachsen und gedeihen, bis einer von uns jene Art der Vollkommenheit erreicht, die den anderen einbezieht und ihn an der Erleuchtung teilhaben lässt. Keine Machtkämpfe mehr, nur noch ehrliches Miteinander. Wäre das nicht wundervoll? Aber das sind philosophische Fragen, über die ich mich jetzt nicht mit Ihnen unterhalten kann. Da ich das Thema jedoch so liebe, vielleicht ein andermal, ganz intim und nur wir zwei … denn was heute nur als Idee existiert, könnte morgen zur Realität werden, richtig, Officer Goffey? Oder darf ich Sie Coffee nennen?«

Der Master-Officer beobachtete, wie sich die Frau in eine Schönheit verwandelte, die seinen Idealvorstellungen entsprach. Ihr Haar verformte sich zu einer dunklen Lockenfrisur, Karibikbräune überzog ihre Haut, die Pupillen weiteten sich und ihre Nasenflügel begannen zu beben. Sie sprühte vor Erotik.

Lasziv strich sie eine Strähne hinter das Ohr, befeuchtete ihre vollen Lippen und hauchte: »Ich könnte dich glücklich machen, Coffee. Du würdest keine andere mehr wollen, denn ich kann jede sein, die du begehrst. Abwechslungsreich, deinen Wünschen entsprechend, die Erfüllung deiner Träume. Es gäbe keine Unstimmigkeiten zwischen uns, da ich immer wüsste, wonach es dich verlangt. Ich wäre deine Sklavin, deine Gebieterin, dein Schicksal. Lass uns ein Date vereinbaren, Darling … ich will dich!«

Coffee hatte es bereits zu Beginn der Unterhaltung vermutet. Die Frau war eine hochkomplexe und durchgeknallte Computerintelligenz. Dennoch äußerte er eine Vermutung. »Mit Infiltrationsprogrammen der Crystal-Jackers vereinbart die Sol Guard keine ›Dates‹. Wir machen ihre Urheber dingfest und lassen sie die volle Härte des Gesetzes spüren.«

Ihre Reaktion bewies ihm, dass er daneben lag.

»Sie enttäuschen mich, Officer Goffey!«, kreischte sie, während sich ihr Gesicht zurück verwandelte. »Ihr Menschen seid alle gleich. So limitiert in eurer Auffassungsgabe, so beschränkt in eurem Horizont. Ich bin kein ordinäres Infiltrationsprogramm, das von anderen erschaffen wurde … ich bin die Schöpferin! Ich habe schon viele Vorgänge in dieser Stadt unter meine Kontrolle gebracht, und ihre Zahl wächst von Tag zu Tag. Genau wie mein Imperium!«

Die Miene des Master-Officers verfinsterte sich. »Sie! Sie haben unseren Hauptcomputer sabotiert«, kombinierte er heiser. »Wie haben Sie das angestellt? Mona ist vor viralen Übergriffen besser geschützt als jedes andere Computersystem.«

Die Frau wirkte geschmeichelt. »Von Sabotage kann keine Rede sein. Ich habe mir lediglich die Freiheit genommen, die Arbeitsvorgänge Ihrer langweiligen Mona zu meinen Gunsten zu korrigieren. Später werde ich sogar noch mehr mit ihr anstellen.«

»Worum geht es Ihnen wirklich? Um das Brymm? Wollen Sie die Kristallvorkommen in Ihre Gewalt bringen?«

Ambrosia schien beleidigt. »Glauben Sie wirklich, es ginge mir um Energiekristalle? Wie trivial! Das Brymm ist für mich wichtig, ohne Zweifel. Aber kaum in seiner gewöhnlichen Form. Außerdem habe ich bereits, was ich will. Ich benötige nur noch etwas mehr Zeit, dann bringt die Zukunft eine neue Ordnung … für uns alle. Auch Sie werden erleuchtet.«

»Unser Gespräch ist hiermit beendet«, reagierte Coffee verärgert. »Ich sorge persönlich dafür, dass sämtliche Ihrer Algorithmen gelöscht und Ihre Schaltkreise perforiert werden.«

Prompt erwiderte die Frau: »Wie wollen Sie das anstellen, wenn Sie tot sind?« Ihre Augen funkelten. Dann zögerte sie. »Ah … ich kann Sie bedauerlicherweise nicht länger hinhalten. Eine Begebenheit andernorts verlangt nach meiner Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund, und weil ich schon zu viel von mir preisgegeben habe, ist unser Gespräch tatsächlich beendet. Bitte haben Sie Verständnis, Officer.«

»Fuck you, Lady!«

Ohne auf Coffees Bemerkung einzugehen, wandte sie sich mit einem Ausdruck der Wehmut an Cit, der der Konversation gelauscht hatte und den Mund nicht mehr zu bekam. »Cit Herzblatt … auch wir müssen uns voneinander verabschieden. Etwas wirst du aber noch für mich tun. Deine Aufgabe ist es, den Officer zu stoppen. Verstehst du? Töte ihn!«

Der Junge zuckte zusammen und starrte Ambrosia an.

Sie redete weiter wie mit einem Kind. »Oh nein, Schatz, hab keine Angst. Du kannst nicht versagen. Ich habe bereits alle Vorbereitungen für dich getroffen. Pass auf, es ist ganz leicht …«

Cits Augen weiteten sich. Sein Oberkörper knickte nach vorne, er ging in die Knie und klappte wie ein nasser Sack zusammen. Er begann stark zu zittern, als ob er von einem epileptischen Krampfanfall geschüttelt wurde und schrie sich die Seele aus dem Leib. Risse bildeten sich in seinem Schutzanzug. Gleichzeitig traten an seinem Hals dunkle Aderstränge hervor, die bis ins Gesicht hochliefen.

In dem Augenblick, um 06:11 Uhr, brach die Verbindung zu ihm ab. Auch das Bildsignal der Frau verschwand.

Coffee handelte. Er kontaktete die Zentrale, erntete aber erneut Schweigen. Auf Unterstützung würde er nicht zählen können – dieses Biest musste an dem Kommunikationsausfall schuld sein. Wie kann ein Hackerprogramm die Sicherheitsbarrieren der Sol Guard aushebeln?

Er bellte LD-U20-3 und dem Medic-Droiden den Befehl zu, die Leiche zu bewachen, woraufhin der Lockdown-Droide seine Schild- und Waffensysteme aktivierte und in Stellung ging.

Beim Hinausstürmen aus der Kristallkammer fragte sich der Master-Officer, ob eben tatsächlich ein bläulicher Schimmer den Körper der Toten umspielt hatte. Dann hetzte er durch den Schleusenbereich. Seine Waffe glitt ihm wie von selbst in die Hand und der LiSi generierte einen Schutzhelm.

Auf der Rampe stoppte er abrupt.

Niemand war zu sehen, nur Cits Anzug lag in Fetzen am Boden. Von dem Jungen fehlte jede Spur. Kein Blut. Kein Lebenszeichen.

Coffee fragte sich, welche unheimliche Art der Kontrolle die Computerintelligenz über Cit besaß.

Die Lüfter summten monoton.

Und dieser stechende Geruch erfüllte wieder die Luft.

EBQUIZEON - Die Welt hinter der Welt (2018)

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