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Kap Rosa Mining City

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*** 21. Dezember 2207 ***

*** Minenstadt Kap Rosa, Mond ***

Seit mehreren Nächten litt er unter Schlafstörungen. Überwältigte ihn schließlich doch die Müdigkeit, plagte ihn jedes Mal derselbe Traum, wie eine Prophezeiung voller Launen und Andeutungen. Hätte er sich nach dem Aufwachen daran erinnert, wäre ihm vielleicht eine Verbindung zu den gegenwärtigen Geschehnissen aufgefallen.

Aber er erinnerte sich nicht. Noch nicht. Dennoch bemerkte er während des Träumens den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und diesem Traum: Das Szenario erschien klarer, greifbarer.

Er schlenderte über eine belebte Uferpromenade auf den »Real-Seafood« Imbissstand zu. Die Sonne versank am Horizont hinter den Bergen und entzündete sowohl das Meer als auch den Pier mit orangerotem Feuer. Gleißend reflektierten die Fassaden der Häuserreihen das Licht, das sich in den Springbrunnenfontänen der Plätze brach.

Zwischen den Gebäuden pulsierte das Leben – ein eigener, gleichmäßiger Rhythmus. Menschen verschiedener Nationalitäten flanierten auf der Promenade, saßen in Bars oder Cafés, unterhielten sich und lachten. Kinder spielten am Ufer.

Im Hintergrund, auf der anderen Seite der Bucht, schraubten sich Wohntürme in den Himmel empor. Ihre Architektur bestand aus atemberaubend verschlungenen Komponenten und ihre Spitzen durchstießen die Schleierwolken, die von Vogelschwärmen begleitet wurden. Das Abendlicht umflutete die Türme von hinten, weshalb sich ihre Konturen nur dunkel im rot glitzernden Meer spiegelten.

Brückenkonstruktionen verbanden die Buchten der Stadt, und obwohl die Sonne ihn blendete, identifizierte er jene Stege über dem Wasser als Verkehrsrouten, auf denen Fahrzeuge pendelten. Die Betriebsamkeit erstreckte sich über den ganzen Himmel, Gleiter flogen vorbei, landeten auf den Häuserdächern oder starteten von dort.

Und langsam senkte sich die Dämmerung auf die Küstenmetropole herab, um sie in ein Lichtermeer zu verwandeln.

Kannte er den Ort? Er wusste es nicht. Zweifellos weilte er auf einem anderen Planeten, da sich die Stadt deutlich von denen der Erde unterschied. Bei ihrem glanzvollen Anblick verspürte er bereits jetzt Heimweh. Sein Aufenthalt würde viel zu schnell enden.

An dieser Stelle des Traums nahm er sich regelmäßig vor, die Zeit so gut es ging zu nutzen. Er beschleunigte seine Schritte.

Wie immer bestellte er an dem Imbissstand eine Portion Grillfisch, und wie immer versicherte ihm der Service-Droide, dessen Aussehen dem eines dynamischen Jungunternehmers glich, dass es sich um echten, fangfrischen Fisch handelte.

Um die Wartezeit zu überbrücken, begab er sich mit einem Getränk in der Hand zu einem der schwebenden Lichtenergietische. Ein Mann, vermutlich ebenfalls ein Gast, lehnte am Nachbartisch und bewunderte den Abendhimmel, an dem die ersten Sterne aufblinkten.

Der Mann bemerkte ihn, lächelte und nickte nach oben. »Wie viele gibt es wohl da draußen?«

Ihm wollte beim besten Willen nicht einfallen, woher er dieses vertraute Gesicht kannte. Bevor er nachfragen konnte, fügte der Mann hinzu:

»Keine Sorge, du wirst es bald herausfinden. Du bist für die Sterne bestimmt.«

Daraufhin überkam ihn eine unbeschreibliche Sehnsucht.

Während der Droide mit der Zubereitung des Essens beschäftigt war, stach ihm am anderen Ende des Platzes eine Menschenmenge ins Auge, die sich aufgrund eines Polizeieinsatzes bildete. Warnhinweise der Ordnungskräfte schallten zu ihm herüber, die den Schaulustigen Gewalt androhten, sollten sie nicht ihrer Wege gehen.

Er runzelte die Stirn. Der Vorfall wirkte wie eine kalte Dusche und zerstörte die zauberische Abendatmosphäre der Stadt. Dennoch verfolgte er das Geschehen.

Der Droide unterbrach ihn bei seinen Beobachtungen, reichte ihm die Bestellung und verlangte dreißig »Pedrachná«. Ein Preis, der ihm recht hoch erschien, auch wenn ihm die Währung unbekannt war. Er bezahlte mit drei blau schimmernden Münzen, die er aus seiner Jackentasche zog.

Schade … die muss ich jetzt ausgeben, dachte er und nahm die Fisch-Box entgegen.

Er öffnete sie und wollte zugreifen, verharrte aber irritiert, da der Inhalt aus Insekten bestand. Käferartige Insekten, die auffällige Facettenaugen besaßen und sich gegenseitig auffraßen.

Vor Ekel ließ er alles auf den Boden fallen.

Normalerweise endete der Traum an diesem Punkt.

Heute nicht. Die bizarre Situation zerstob nicht durch sein Aufwachen. Stattdessen verspürte er eine Beklommenheit, die ihm in die Glieder kroch und das Verlangen nach einer Erklärung für den schlechten Scherz auslöste. Der Droide beachtete ihn jedoch nicht mehr, widmete sich dem Bratrost und schien guter Dinge.

Erneut beanspruchte die Menschenmenge seine Aufmerksamkeit – sie geriet in Bewegung. Die Leute schrien, liefen auseinander und gaben den Blick auf eine Person frei. Eine Frau, die sich ihrer Verhaftung widersetzte. Sie riss sich los, schlug einen Polizisten nieder und begann zu rennen. Geradewegs in seine Richtung.

Wieder erklangen Warndurchsagen. Sirenen heulten.

Plötzlich fauchten Waffen auf. Violette Energiestrahlen erhellten den Abend und fraßen sich in den Boden und die Häuserfassaden. Mehrere Zierpflanzen an der Promenade gingen in Flammen auf. Zu allem Überfluss traf einer der Schüsse einen Passanten, der in einer amethystfarbenen Wolke verdampfte.

Die blanke Angst packte ihn, weil die Strahlen in seiner Nähe vorbeizischten. Sie verströmten eine Kälte, die auf ihn überzuspringen schien.

Mittlerweile hatte die Polizei die Verfolgung der Frau aufgenommen. Als die Flüchtende ihn erreichte, blickte er in ihr Gesicht: Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, sie schwitzte und war am Ende ihrer Kräfte.

Ihm stockte der Atem – die Frau war er selbst.

In seiner Panik versuchte er wegzulaufen, aber sie hielt ihn am Arm fest. Mit der anderen Hand griff die Frau in ihren Oberkörper hinein, und fassungslos starrte er auf den leuchtend blauen Gegenstand, den sie daraus hervorzog. Ehe er zu reagieren vermochte, rammte sie ihm den Gegenstand mitten in seinen Brustkorb.

Schmerzen durchzuckten ihn. Hitze kochte in ihm hoch.

Sein weibliches Ich stieß ihn weg und brüllte etwas, er verstand jedoch kein Wort. Die Gluthitze raubte ihm die Sinne.

In der nächsten Sekunde riss der Schmerz ab. Er sah seine Doppelgängerin rückwärts taumeln und erkannte an ihrer Schulter eine Schusswunde, die in ihrem blauen Fleisch klaffte. Sie prallte gegen den Real-Seafood-Stand, wo der Droide seine Arbeit verrichtete. Doch der Roboter wirkte nicht mehr wie ein Mensch, sondern hatte sich in eine Bestie samt Krallenhänden verwandelt, die auf dem Grill Kristallbrocken wendete.

Anschließend explodierte der Imbissstand und die Kristallsplitter prasselten auf ihn nieder.

All das war lächerlich konfus, trotzdem wachte er nicht auf.

In dem Splitterregen trafen die Cops ein. Zumindest registrierte er das Abzeichen der POE auf ihren Uniformen. Aber auch die Gesetzeshüter legten ihre menschliche Gestalt ab. Sie verformten sich zu grauen, tintenfischähnlichen Wesen, die schwarze Augen hatten, über der Straße schwebten und auf ihn zu glitten.

Eines der Wesen schnappte nach ihm, dabei stieß es schrille Pfeiftöne aus. Tentakel umschlangen ihn und zerrten an seinen Armen, die wie Feuer zu brennen begannen. Sein Puls raste. Er konnte sich nicht losreißen … wurde herangezogen … verwandelte sich ebenso in eine Bestie …

Und endlich versank das Chaos in gnädigem Nebel.

Lester Benx fuhr im Bett hoch. Die Automatik der Raumbeleuchtung sprang an. Er blickte sich gehetzt um und erkannte den Regen, der lautlos gegen das Kraftfeld vor dem Appartementfenster peitschte.

Alles in Ordnung … typisches Mondwetter …, schoss es ihm durch den Sinn. Gleich darauf registrierten seine Ohren eine Durchsage draußen auf dem Gang und das Murmeln des Aquariums im Nebenzimmer.

Beruhige dich … du bist zu Hause.

Bett und Kissen waren zerwühlt. Er wischte sich über die Stirn und durch die verschwitzten, schwarzen Stoppelhaare. Seine Arme kribbelten. Die Kopfschmerzen pochten stärker als gewöhnlich.

Bestimmt noch früh … außerdem verdammt kalt hier.

Ein Blick auf die Anzeige über dem Bett bestätigte beide Vermutungen: Montag, der 21. Dezember 2207, 05:27 Uhr morgens, und es herrschten nur 16,7 °C in seiner Wohnung. Er tippte auf einen Defekt des Thermostats und ließ sich zurücksinken.

Spitze! Hab mir den Beginn meines freien Tages anders vorgestellt … muss ja ein wilder Traum gewesen sein. Kann nur am Stress in letzter Zeit liegen.

Warum sich die Symptome aber die dritte Nacht in Folge in unruhigem Schlaf äußerten, wunderte ihn. Hatte früher nie solche Probleme.

Obwohl Lesters Spätschicht erst vor drei Stunden geendet hatte, fühlte er sich putzmunter und ausgeruht. Da an Weiterschlafen nicht zu denken war, hievte er seinen athletischen Körper aus dem Bett, streckte sich und richtete beim Durchqueren des Appartements eine Anfrage an die Künstliche Intelligenz, deren Sensoren die Lebensbereiche jedes Towers der Stadt überwachten.

»Selene … die Klimakontrolle spinnt. Wird das ein Dauerzustand bleiben?«

Eine Stimme, deren Klangquelle und Geschlecht unbestimmbar blieb, antwortete in freundlichem Tonfall: »Guten Morgen, Officer Benx. Ich habe den Defekt bereits eingegrenzt. Bevor ich den Reparaturservice verständige, werde ich mich selbst um die Behebung des Fehlers bemühen. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Vielen Dank.«

Unzufrieden mit der Antwort kam Lester im Badezimmer an, wo er durch einen Gedankenbefehl das Licht aktivierte. Er hielt sein Gesicht die üblichen Sekunden in das Rasier- und Zahnreinigungsgerät, entkleidete sich und betrat die Duschkabine.

Während die Wasserdüsen seinen Körper besprühten, verloren die Kabinenwände ihre Transparenz und verwandelten sich in 3D-Bilder. Das CrossStellarNet überschüttete ihn mit Informationsangeboten, und die Nachrichtensprecherin der 5:30 Uhr-News verlas die neuesten Meldungen des Tages.

Er verfolgte die Berichte fünf Minuten, schaltete die Dusche aus und betätigte die Trocknen-Funktion. Durch den Mikrowellenluftstrom verdunstete das Wasser auf seiner Haut und in den Haaren, anschließend verließ er die dampfende Kabine. Seine Schmutzwäsche warf er in den Behälter an der Wand, der zur Bestätigung piepste und ihm zwei Craedos für den Reinigungsauftrag von seinem Konto abzog.

Kritisch begutachtete er im Rundumsicht-Spiegel sein Abbild von allen Seiten und stellte fest, dass er trotz seines risikoreichen Berufs und des Alters von neununddreißig Jahren in Topform war. Gerade angesichts der Tatsache, nur diejenigen Bio-Implantate im Körper verankert zu haben, für die eine Notwendigkeit bestand. Keine Aufwertungen, die mich jünger aussehen lassen oder ähnlicher Schnickschnack. Selbst die grauen Haare an den Schläfen störten ihn nicht – er betrachtete sie als ein Zeichen der Reife und nicht der Vergänglichkeit.

Die Methode, durch die er sich sein Berufswissen angeeignet hatte, erfüllte Lester mit besonderem Stolz: gewöhnliches Lernen. Manche Kollegen rissen deshalb Witze über ihn, den »Dinosaurier«. Er hatte sich nie um Trends in der Jobwelt geschert, schon gar nicht wenn es darum ging, Datenpakete für den MindCell zu kaufen, den zellularen Computerchip, der in das Gehirn jedes Menschen eingepflanzt war. Da konnte man ihm das »Enhancen« noch so sehr als sozialen Statusgewinn und Steigerung der Fachkompetenz anpreisen.

Zugegebenermaßen verflucht zeitsparend. Dennoch war die Prozedur seiner Meinung nach für den Durchschnittsbürger zu kostspielig, außer es handelte sich um die Software-Updates des Allgemeinwissens. Und dir fehlen hinterher all die wundervollen Erfahrungswerte, die das Umfeld des Lernens mit sich bringt. Einige Arbeitgeber bevorzugten sogar den traditionellen Bildungsweg aus eben jenem Grund, so wie in seinem Fall. Doch vor allem hätte er die Rendezvous mit einer Reihe junger Damen in den Jahren der Berufsqualifikation nicht missen wollen. Inzwischen hatte er überhaupt kein Privatleben mehr, geschweige denn eine feste Beziehung.

Lester wandte sich vom Spiegel ab. Die gerötete Schwellung mitten auf seiner Brust war ihm nicht ins Auge gesprungen.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer bemerkte er, dass die Temperatur in der Wohnung weiter sank. Laut Anzeige betrug sie nur noch 12,3 °C. Ohne zu zögern nahm er seinen Multifunktions-Schutzanzug aus der Regenerationskabine.

Von jedermann liebevoll »LiSi« genannt, stellte der Anzug mit der sperrigen Bezeichnung »LiquidSilicon-Nanotubes-BodyShield-GTC/ProTec-6« eine der coolsten Hitech-Entwicklungen der Neuzeit dar. Der goldmetallisch glänzende Stoff des Kleidungsstücks umschlang Lester selbständig und schmiegte sich wie ein lebendiges Wesen an seinen Körper. Nur der Kopf blieb frei – der Anzug generierte erst in Gefahrensituationen blitzschnell einen Helm.

Nachdem das Material eine Verbindung zur Haut eingegangen war, überprüfte es die DNA sowie die MindCell-Signatur des Trägers und meldete volle Funktionsbereitschaft.

Vor Lesters Gesicht erstrahlte ein Hologramm-Visier, auf dem mehrere Symbole zur Auswahl blinkten. Um sich seines freien Tages zu vergewissern, loggte er sich per Gedankenbefehl in das Netzwerk seiner Firma ein. Keine Sekunde später erschien das Erd-Sonne-Kreis-Symbol der Sol Guard als grafische Bestätigung. Mit Mona zu sprechen, der leitenden Künstlichen Intelligenz seiner Zentrale, hielt Lester für unnötig. Er rief lediglich den Dienstplan ab und fand seine Erwartung bestätigt.

Erleichtert klinkte er sich aus dem Netz aus. Das Visier verschwand. Wegen der Kälte in der Wohnung behielt er den LiSi jedoch an, und sein nächster Befehl aktivierte das Thermo-Modul des Anzuges. Die integrierten Hitzefasern im Gewebe spendeten sofort wohlige Wärme.

Am Schreibtisch angelangt, empfing ihn eine dreidimensionale Darstellung seines Wohntowers, die über der Tischplatte aufleuchtete. Alle Bereiche, Punkte von öffentlichem Interesse sowie Verkehrsverbindungen, hob der Computer in unterschiedlichen Farben hervor.

Lester ließ sich in den Sessel fallen, massierte seine kribbelnden Arme und hatte bereits eine Idee, was er heute treiben würde. Virtuelle Welten waren nicht sein Ding. Zumindest nur selten. Es mochte Leute geben, die ihre komplette Freizeit an Transcend-Terminals verbrachten, entweder in einem der Erholungscenter der Stadt oder zu Hause. Aber vorgegaukelten Realitäten konnte er nur wenig abgewinnen, auch wenn sie noch so echt wirkten.

Zudem hatte sich sein gestriger Fall um die Aufklärung eines Ex-R-Unfalls gedreht, der sogar Tote gefordert hatte. Die Ermittlungen waren arbeitsintensiv und nervenaufreibend gewesen und deckten seinen Bedarf nach Digitalwelten für die nächste Zeit. Deshalb rief er das Freizeitangebot auf, da er Fitnesstraining in einer echten Umgebung suchte.

Er wurde schnell fündig. Die Verwaltung hatte einen neuen Erholungsgarten auf Ebene 2 anlegen lassen. Richtig, der soll fantastisch sein. Jeder, der mir davon erzählt, ist begeistert. Wiesen, Bäume, ein See, Ruderboote, Trainingsgeräte … und alles unter einer Schönwetter-Kuppel.

Lester spielte mit dem Gedanken, einen Hostessen-Droiden als Begleitung zu mieten. Schwimmen, flirten, und wer wusste, wohin es einen danach verschlug. Der ganze Spaß würde nicht billig werden, aber nach den Strapazen der letzten Tage brauchte er das.

Gerade als er die Buchung für das Parkparadies abschließen wollte, empfing sein MindCell einen Datensatz von hoher Priorität. Es handelte sich um Details zu einem Zwischenfall in einer der Förderanlagen der Stadt. Und fast im selben Moment summte nachdrücklich das HoloCom im Zimmer nebenan.

Shit! Das war’s mit der Freizeitplanung! Die Datenübermittlung und der Anruf zu dieser frühen Stunde konnten nur eines bedeuten: dass er sich über Erholungsgärten und nette Begleitung keine Gedanken mehr machen musste.

Lester seufzte, stand auf und nahm seine Cynrets vom Tisch. Er ließ sich Zeit, um das Kommunikationsfeld im Wohnraum zu erreichen. Er wusste, was jetzt kam.

Wäre mit dem freien Tag auch zu schön gewesen. Was wollt ihr mir eigentlich noch alles streichen? Vielleicht das Rauchen?

Aus der Packung glitt eine zehn Zentimeter lange, schlangenförmige Kunstzigarette. Er steckte sie sich in den Mund und betätigte den Mikroauslöser, woraufhin die Cynret zu glühen begann. Genüsslich sog er den Rauch ein.

Unwillkürlich musste Lester an seinen Großvater denken. Riesensache damals, als vor dreißig Jahren das Konsumieren von echtem Tabak verboten wurde. Er erinnerte sich vage an die Zeit, an das Ende dieser Nikotin-Ära. Einer der Gründe für das Verbot waren Heere von geschädigten Rauchern gewesen, die sich keine Ganzkörperreinigungen oder Lungenimplantate leisten konnten. Vor allem aber hatte die Zunahme von Millionenklagen gegen die Tabakindustrie die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht, da fast alle Zigarettenhersteller Pleite gegangen und die Steuereinnahmen für die Erdregierung verloren waren.

Also musste etwas Neues her. Die Cynrets repräsentierten nicht nur einen Zigarettenersatz, sondern produzierten verschiedene Gerüche, Rauchfarben und -formen und stellten durch ihr Nikotin-Surrogat keine Bedrohung für die Gesundheit dar. Abhängig machten die »Cyns« nach wie vor, aber die Hersteller hatten aus der Not eine Tugend gemacht und Vitaminpräparate, Impfstoffe sowie Heilmittel integriert, die über die Lunge aufgenommen wurden.

Selbst die herkömmliche Ernährung konnte für mehrere Tage minimiert werden. Rauchen steigerte das Wohlbefinden. Das stand jedenfalls auf den Packungen. Lester vermochte nicht zu beurteilen, ob die Werbeslogans der Wahrheit entsprachen, da es zu viele widersprüchliche Studien zu dem Thema gab und er es über einen längeren Zeitraum nicht ausprobiert hatte. Sein Schutzanzug verabreichte ihm bei Bedarf die fehlenden Nährstoffe, und er musste sich im Prinzip nur um eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr Gedanken machen.

Der geneigte Raucher wusste jedoch, dass die Mikroenergiezelle, die für das Entzünden der Cyns sorgte, ein Strahlungsfeld erzeugte, welches die Debatten zwischen der Nichtraucher-Lobby und der Industrie in schöner Regelmäßigkeit hochkochen ließ. Forschungsstudien entlasteten jene Strahlung zwar hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für das menschliche Nervensystem, doch die dafür zuständigen Labore, deren Namen den Aufdruck der Packungen zierten, standen ganz oben auf den Interessenslisten der Cynret-Lobby.

Indessen hatten die Leute, die das harte Zeug von früher brauchten, keine Probleme, auf dem Schwarzmarkt und zu entsprechenden Preisen an Tabakzigaretten ranzukommen. Bei echtem Alkohol griff der Gesetzgeber nicht ganz so scharf durch.

Lester stellte sich im Wohnraum vor das Holo-Kommunikationsfeld am Boden und dachte »Anruf annehmen«.

Keine Reaktion.

Er versuchte es akustisch, dann manuell, aber auch durch Berühren des Kontrollsensors am Tisch erschien kein Bild des Anrufers.

Das Mistding ist noch immer defekt, obwohl ich dem Techniker des Wartungsteams gestern Bescheid gegeben habe!

Fluchend schlug er mit der Faust auf den Sensor.

In diesem Moment bekam er einen elektrischen Schlag.

Er zuckte zusammen, als die Energie ungehindert in ihn eindrang. Blaue Entladungen knisterten seinen Arm hinauf und verursachten einen Krampf, der ihm die Luft raubte. Die Muskeln seiner Hände und des Kiefers kontrahierten, sodass er sich am Tisch festkrallte und die Cynret-Hülse zerbiss. Instinktiv wartete er auf den Schmerz oder einen Herzstillstand.

Aber beides blieb aus. Es fühlte sich vielmehr gut an – als ob sich sein Körper auflud.

Unvermittelt stoppte der Energiefluss, und die Geräusche um ihn herum verstummten.

Lester keuchte wie nach einem Marathon, spuckte die Cynret aus und hustete. Nachdem er seinen Atem unter Kontrolle gebracht hatte, heftete sich sein Blick an das Fenster: Draußen trafen die Regentropfen auf das Kraftfeld und zerbarsten in graziöser Langsamkeit.

Was zum Teufel …?!

Sein Augenmerk wurde zurück auf das HoloCom-Feld gelenkt, das aufleuchtete. Die Gesprächsübertragung begann. Das Abbild von Lesters Vorgesetztem, der hinter seinem Schreibtisch saß, baute sich auf. Der Mann mit der Glatze und dem kantigen Gesicht öffnete in Zeitlupe den Mund und sagte etwas, doch man hörte nichts.

Perplex starrte Lester die 3D-Projektion seines Chefs an, bis er die Kunstfische im Aquarium am anderen Ende des Zimmers registrierte. Sie schienen im Wasser festgefroren zu sein. Die Cynret, die am Boden lag, brannte zwar, hatte aber bei ihrem Fall Rauchwölkchen produziert, die an einer Kette aufgereiht in der Luft klebten.

Und es roch sonderbar. Nach einer Mischung aus Schnee und … Ammoniak?

Dann war der Dreißigsekunden-Spuk vorbei – die Zeit ruckte nach vorne.

Lester spürte ein Ziehen in seinem Körper, das sich anfühlte, als ob ihn jemand packte und abbremste. Er taumelte und fuhr sich über die Augen. Hatte er halluziniert? War das Phänomen einer Überladung im Schutzschild seines LiSi zuzuschreiben? Möglicherweise ein Kurzschluss, der von dem HoloCom-Schalter herrührte. Doch das Protokoll des Anzugs verzeichnete keinen diesbezüglichen Vorfall. Nichts deutete darauf hin. Nur an sich selbst bemerkte er den Effekt: Er war so ausgepowert, dass ihm die Beine zitterten.

Auch die Geräuschkulisse normalisierte sich.

»… passierte ein Zwischenfall dort unten. Chief-Officer Benx? Benx, verdammt, hören Sie mir zu?«

In seiner Verwirrung blickte Lester vom Aquarium zu den Resten der Cynret, dann reagierte er und wandte sich der holografischen Darstellung seines Chefs zu. »Ja … Sir, ich höre. Ich hatte eben eine … eine Störung meines LiSi. Scheint aber wieder in Ordnung zu sein.« Er stützte sich am Tisch ab. »Entschuldigung, wo ereignete sich ein Zwischenfall, Sir?« Der persönliche Anruf von Nevis Korvalinski überraschte ihn. Es musste wichtig sein.

»Himmel, Benx, werden Sie gefälligst wach! Hat Ihr MindCell die Daten noch nicht empfangen? Ich rufe Sie deshalb so früh …« Korvalinski kniff die Augen zusammen und musterte ihn. »Mensch, Sie sehen ja schlimm aus. Ist Ihr letzter Fall daran schuld? Berichten Sie in aller Kürze.«

Lester straffte seine Haltung angesichts der Gegenwart seines Bosses. »Ich habe die vergangenen drei Nächte kaum geschlafen, Sir, denn es ging um die mysteriösen Todesfälle in Sektor A, Tower 4 im letzten Monat. Wir hatten einen Zusammenhang zu dem Erholungscenter aufgedeckt, da alle fünf Opfer vor ihrem Tod die Einrichtung besucht und die Transcend-Terminals für ihre Ex-R-Freizeitprogramme sowie den Zugang zum CrossStellarNet genutzt hatten. Ich hielt mich zwanzig Stunden in den drei beliebtesten Simulationen auf, hauptsächlich in Traglylon, und habe unter wechselnden Identitäten ermittelt. Unser Verdacht bestätigte sich, Sir … der Hauptserver hat fünf Mal autonom in die Simulationen besagter Terminals eingegriffen! Er gaukelte den Benutzern vor, sie benötigten Energie und müssten sich im Szenario aufladen. So weit, so harmlos.«

Nebenbei griff sich Lester eine Tasse Kaffee aus dem Nahrungsverteiler. »Dummerweise glaubten die Opfer später noch immer daran. Nachdem sie ihre Simulationen beendet hatten, marschierten sie zur Gleiterbahnhaltestelle, verschafften sich Zugang zu dem Bereich unter der Antigrav-Führung der Bahn und stürzten sich in die Hochenergieströme. Der Clou war: Wir fanden in den Leichenresten zwar Nanobots, wunderten uns jedoch, warum sie nach einem solchen Energieschub noch aktiv waren. Wie sich herausstellte, gehörten die Bots nicht zur Aegis-Klasse. Es handelte sich also nicht um Körperfunktion unterstützende Maschinen, sondern um Fremdmodelle. Diese agierten im Endeffekt als clevere Viren, die mittels Gedankenkontrolle die Personen zum Selbstmord animierten.«

Korvalinski runzelte die Stirn und brummte: »Wozu haben die Chips in unseren Köpfen eigentlich Schutzfunktionen? Mir ist unklar, warum die MindCells der Opfer gegen die Virus-Bots nicht ankamen.«

»Weil die Filter der MindCells die ›guten‹ Aegis-Nanobots sahen und nicht die ›bösen‹, denn diese trugen eine maskierte Signatur. Ein Tarnmodus sozusagen! Der Bot hüllt sich in ein Quantenfeld, durch das er seine wahre Natur verbirgt. Eine Fähigkeit, die auf der Quantentheorie basiert, laut der Zustände erst existent werden, sobald man sie beobachtet. Um es kurz zu machen, Sir … jemand, der den getarnten Bot ›betrachtet‹, wird nur das sehen, was er als normal empfindet. So auch die MindCell-Filter. Ich habe Nachforschungen betrieben und konnte mithilfe unserer Experten die Tarnung entschlüsseln und die Herkunft der Maschinen klären. So wie es aussieht, sind die Bots eine Erfindung unseres Vertragspartners, der Gyronics-Tech Corporation, und sogar schon seit drei Monaten unter dem Patent ›Quantumbot‹ auf der Erde angemeldet.«

Während Lester seine Sachen zusammensuchte, vermochte er seinem Boss nicht zu erklären, wie die gefährlichen Maschinen auf den Hauptserver gelangt waren und wieso sie sich durch eine Ex-R-Simulation verbreitet hatten.

»Da scheitere ich an den Sicherheitsbestimmungen des Konzerns, Sir, denn die Sache fällt unter das Betriebsgeheimnis und bietet uns keine Rechtsgrundlage für Nachforschungen. Ist natürlich ärgerlich und ein Riesenskandal, nach dem sich die Presse die Finger lecken wird. Ganz zu schweigen von dem juristischen Nachspiel für GTC, deren Spezialisten momentan die Transcend-Terminals reinigen und den Server austauschen. Leider könnte der Vorfall auch unserem Image schaden, da wir achtzig Prozent unseres Equipments von Gyronics beziehen, inklusive der LiSis. Meinerseits sind die Ermittlungen jedoch abgeschlossen. Ich habe alle Personen untersuchen lassen, die in Kontakt mit besagtem Transcend-Server kamen und kann Entwarnung geben … es gibt keine weiteren Infizierten. An meinem Bericht, der Ihnen demnächst vorliegt, hängt eine MindCell-Updatedatei, die Sie im Detail über die Quantumbots informiert. Tja, das wär’s, Sir.«

»Diese verdammte Traglylon-Scheiße!«, knurrte Nevis Korvalinski angewidert. »Eine Unart, die sich in unserer Gesellschaft etabliert hat, wie zu früheren Zeiten das Surfen im CrossStellarNet. Ich habe ja immer gesagt, uns fliegt der ganze Second-Reality-Mist eines Tages um die Ohren. Und jetzt ist’s soweit. Wir beklagen in der angeblich seriösesten Simulation die ersten Toten! Was, wenn sich das ausweitet?«

»Sir, obwohl ich ebenfalls kein Fan der Materie bin, ist Traglylon die am besten gesicherte Software am Markt. Und da das CrossStellarNet eng mit allen virtuellen Welten verknüpft und das eine vom anderen nicht zu trennen ist, sind die Sicherheitsvorkehrungen dementsprechend streng. Es kann zu keiner Ausweitung kommen. Übrigens lautet der offizielle Begriff ›Extended-Reality‹. Die Variante ›Second-Reality‹ wurde vor geraumer …«

»Ich weiß, Benx! Halten Sie mich für senil?« Sein Chef schnaubte. »Für mich ist das ›offiziell‹ der gleiche Schwachsinn. Und ab heute ist es für mich sogar Eskapismus ohne Wiederkehr! Hoffentlich findet man den Verantwortlichen und macht ihn einen Kopf kürzer. Ich werde den Fall beim nächsten Technologie-Meeting mit GTC zur Sprache bringen, aber im Moment ist das nicht mehr unser Bier.«

Korvalinski tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Mit dem Imageschaden haben Sie recht, Benx. Gyronics bringt uns in eine knifflige Situation, da dies eine weitere Panne innerhalb der letzten Wochen ist, die wir nicht verhindern konnten. Auch wenn der Fall aufgeklärt wurde, mussten Sie Zeit darin investieren, die wir an anderer Stelle hätten gebrauchen können. Wie jedes Jahr treibt der Weihnachtsrummel unsere Firma an die Grenzen ihrer Kapazitäten, nur diesmal ist die Lage wegen der Vorfälle noch angespannter. Doch so läuft der Hase nun mal. Deswegen sind wir die Nummer eins im Geschäft, weil wir die Dinge in den Griff bekommen. Dass Sie heute nur mäßig fit sind, darf daher keine Rolle spielen. Die Kacke ist schwer am dampfen … da kann ich keinen meiner besten Leute beurlauben.«

Lester entschied in dem Augenblick, Korvalinski nicht mit dem Phänomen zu behelligen, das er erlebt hatte. Er würde seinen LiSi vom Wartungscenter überprüfen lassen und gegebenenfalls später zu seinem Boss gehen, bevor er wilde Spekulationen über einen Zusammenhang von fehlerhaften Gyronics-Produkten anstellte.

»Ich weiß, wie viel wir gerade um die Ohren haben, Sir. Wenn es sein muss, stehe ich zur Verfügung.«

Die lebensgroße 3D-Projektion seines Vorgesetzten nickte, erhob sich und umrundete den Arbeitstisch. Während er sich bewegte, fokussierten ihn die Kamerasensoren des Büros, wodurch sein Abbild im Mittelpunkt des vier Quadratmeter durchmessenden HoloCom-Felds auf Lesters Fußboden blieb.

Nevis Korvalinski massierte seine Schläfen. »Die verfluchten Bauarbeiten hier oben treiben mich noch in den Wahnsinn. Dieser Lärm … und ständig muss ich von einem Büro ins nächste umziehen.«

Der Chef des Sol Guard Sicherheitsunternehmens riss sich zusammen und kam in der Pose zum Stehen, für die er bekannt war: Er schnaufte, streckte den kahlen Schädel vor, und sein zerfurchtes Gesicht nahm einen verbissenen Ausdruck an. »Zur Sache. Ich übernehme Ihr Briefing, weil Simon blockiert ist. Er hat Besuch von Edwin Duquette, dem Company-Inspektor bekommen, der gestern Abend eintraf. Und kaum ist Duquette hier, stellt er alles auf den Kopf. Nehmen Sie sich vor dem in Acht, Benx, der ist ein Raubtier! Ich hatte erst eine einzige Unterhaltung mit ihm und hätte ihn fast stranguliert. Kann mir nicht vorstellen, dass wir mit dem Knaben auf einer guten Basis auskommen. Anscheinend sollen wir das auch nicht, denn Skyrock will unsere Arbeit kontrollieren. Bitte sehr, ist ihr gutes Recht. Die brauchen sich aber nicht zu beschweren, wenn es zu Verzögerungen kommt. Einen Gefallen tut sich die Company in der jetzigen Situation bestimmt nicht. Und die gestaltet sich wie folgt: In Ihrem Sektor, Mine C, Förderbereich 4 ereignete sich ein hochkritischer Zwischenfall. Dort wurde vor etwas über einer Stunde eine Frauenleiche in einer Kristallreinigungszelle entdeckt, wahrscheinlich menschlich.«

Lester hatte die Daten bereits im Kopf, trotzdem zog er die Stirn in Falten. Eine Leiche an so einem ungewöhnlichen Ort? Und was bedeutete »wahrscheinlich«?

Bevor er nachfragen konnte, fuhr sein Chef fort: »Zumindest nehmen wir an, dass sie menschlich ist, denn der Körper sieht … ungewöhnlich aus. Die Werksleitung kann sich nicht erklären, wie jemand da reinkam, zumal die Tote keine Angestellte ist. Wie wir feststellten, ist sie nicht mal Bürgerin der Stadt, denn sie trägt keinen MindCell. Das ist ja das Üble, Benx. Handelt es sich um einen Bruch der Minensicherheit, und danach schaut es aus, bedeutet das gewaltigen Ärger für uns.«

Per Gedankenbefehl ließ Korvalinski eine Personalakte aufploppen. »Laut Manager Bricksville, dem Leiter der Sektionszentrale, verursacht die Reinigungszelle einen Alarm und stellt um 04:15 Uhr die Arbeit ein. Die Überwachungskameras sind ausgefallen, weswegen die Zentrale keine Möglichkeit hat, den Grund zu erkennen. Also wird um 04:17 Uhr ein Techniker der Zellenwartung losgeschickt, der aber nie dort ankommt. Als um 04:26 Uhr die Kameras wieder funktionieren, jedoch der Techniker noch immer nicht vor Ort ist, wird ein zweiter Mann beauftragt, sich der Reparatur anzunehmen. Zwei Minuten danach sieht man auf den Monitoren den Frauenkörper zwischen den Kristallbrocken, und der zweite Techniker wird zurückgepfiffen. Der Sektionsleiter gibt an, die Leiche deshalb so spät entdeckt zu haben, weil nicht nur Splitter in ihr steckten, sondern sie die gleiche Hautfarbe wie die Kristalle hätte, nämlich blau. Sie besäße das Aussehen eines Menschen und blute aus Schnittwunden … aber ebenfalls blau, weswegen er sie für einen Droiden hielte.«

Der Sol Guard-Chef schlug mit der Faust auf den Tisch. »Gottverdammt! Fragen sie mich lieber nicht, was ich davon halte, Benx. Wie wir alle wissen, funktionieren Droiden da unten bei laufendem Schürfbetrieb wegen der Strahlung nicht. Zudem verständigt uns Bricksville erst um 04:35 Uhr, was eine Zeitspanne von sieben Minuten vom Entdecken der Toten bis zur Kontaktaufnahme mit uns macht. Warum so lange? Unser Lockdown-Kommando hätte früher am Tatort sein können. Und was ist aus dem ersten Techniker namens Antonio Cabrallo geworden, der zwar losgeschickt wurde, aber unterwegs stecken blieb? Laut den MindCell-Protokollen hat Cabrallo tatsächlich nicht die Zelle erreicht, sondern hielt sich einige Etagen höher auf. Die ganze Zeit. Danach machte er sich auf den Rückweg. Und jetzt kommt der Gipfel: Bricksville behauptet, er hätte den Mann nach dessen Zurückmeldung ›wegen Unwohlsein‹ nach Hause geschickt. Willkommen im Märchenland! Als Verantwortlicher lasse ich keinen Techniker gehen, der meine Anordnung ignoriert hat. Schließlich arbeitet er für die Skyrock Corporation! Welche Vorgänge verschleiert Bricksville? Hat er Cabrallo gedeckt, damit der einen Wertgegenstand aus der Mine schmuggeln konnte? Oder machen beide mit den ›Crystal-Jackers‹ gemeinsame Sache? Mit dieser Gruppe von Kristalldieben außerhalb der Stadt, die es immer wieder schafft, sich den Suchaktionen des Militärs zu entziehen?«

Lester schüttelte den Kopf. »Sir, die Existenz der Crystal-Jackers ist nicht mal nachgewiesen. Meiner Meinung nach handelt es sich bei der Idee, da draußen würden Kriminelle ihr Unwesen treiben, um ein Schreckgespenst, das Skyrock immer dann schlaflose Nächte bereitet, wenn bei der Frachtverladung Kristalle abhanden kommen. Doch das ist ein Problem des nicht vertrauenswürdigen Verladepersonals, das die Company hat. Und falls es wirklich ehemalige Siedlergruppen im Umland gibt, werden ihnen kaum die technischen Mittel zur Verfügung stehen, in die Stadt, geschweige denn in eine Mine einzudringen. Wir überschätzen hier das Kaliber dieser Leute … falls es sie gibt.«

Korvalinski zuckte die Schultern. »Jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ist nun mal unser Job, Benx. Ich möchte deshalb, dass Sie dem Management von Mine C besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Und kümmern Sie sich um Cabrallo, den Techniker. Seit seiner Rückkehr ist er ›unerreichbar‹. Zufälligerweise wohnt der Kerl in Ihrem Tower. Schicken Sie aber eine Einheit zu seinem Quartier und lassen ihn festnehmen, da Ihnen selbst die Zeit fehlt.«

Lesters Boss nahm seine ursprüngliche Position hinter dem Arbeitstisch ein.

»Wie üblich warten wir auf die Genehmigung der Company, bis uns die Aufnahmen der Überwachungskameras der inneren Minensektion zur Verfügung stehen, weil es sich um Material der Geheimhaltungsstufe eins handelt. Dank dieser idiotischen Vorschriften haben wir bis jetzt noch keinen Schimmer, auf welche Art die blauhäutige Frau die Reinigungszelle infiltrierte und wie sie das bei laufendem Betrieb geschafft hat … die Kristallsplitter haben sie jedenfalls übel zugerichtet. Möglicherweise war die Dame, oder was auch immer da unten liegt, mit einer unbekannten Tarntechnologie ausgestattet. Das wäre der blanke Horror!«

Nevis Korvalinski tupfte sich erneut über die Stirn. »Allison Vangristen von der Abteilung für Internes hat mich übrigens kontaktiert. Sie hat eine noch gewagtere Theorie auf Lager. Die Tote könnte zu den Personen gehören, die in Kap Rosa auf ungeklärte Weise verschwanden und denen wahrscheinlich jemand die MindCells entfernt hat. Vielleicht ist das unser erster Hinweis in der Vermisstensache. Schließen Sie sich mit Allison kurz. Ich habe einer Zusammenarbeit mit Ihnen zugestimmt, da sie sich schon seit Längerem mit dem Fall beschäftigt.«

Lester verzog das Gesicht. Er hatte bereits das Vergnügen mit der Vangristen gehabt. Die Frau war zwar fähig, jung und ehrgeizig, aber schlicht und einfach eine Nervensäge. Er würde den Kontakt mit ihr auf ein Minimum beschränken.

Mit rauer Stimme schloss Korvalinski: »Eines noch. Raten Sie mal, wer garantiert nicht der Meinung sein wird, dass der Fall in unseren Zuständigkeitsbereich fällt. Na? Richtig, die Direktion der örtlichen Polizei. Wenn das K.R.P.D. Wind davon kriegt, taucht am Tatort schneller eine POE-Einheit auf, als wir Piep sagen können. Habe ich nicht schon genug Scherereien am Hals? Nein, ständig tanzen mir diese mies gelaunten Clowns auf der Nase herum! Lassen Sie sich auf keine Diskussionen mit denen ein, Benx, wenn die mit irgendeiner Genehmigung anrücken. In Mine C pfuschen uns keine Hampelmänner dazwischen. Ich wage mir nicht auszumalen, wie uns Company-Inspektor Duquette die Hölle heiß macht, klären wir den Fall nicht zügig auf. Skyrock würde die Konsequenzen ziehen, und dann stünde unser Unternehmen mies da. Zur Info: Ihr Team befindet sich bereits auf dem Weg. Goffey, Herst und Spector werden den Tatort sichern beziehungsweise das Personal in der Minenzentrale verhören. Goffey schicken wir heute mit unserem Neuzugang Cit raus.«

Lester riss die Augen auf. »Cit? Das ist nicht Ihr Ernst, Sir! Zuerst die Vangristen und jetzt auch noch dieser Vollversager. Eine Niete wie der gefährdet unser aller Leben. Man sollte ihn sofort aus der Firma entfernen. Wenn es hilft, reiche ich als Team 1 Chief-Officer Beschwerde ein.«

Korvalinski winkte ab. »Daraus wird nichts, Benx. Sein Onkel Aaron Leisman gehört zur Company. Ich kann es mir im Moment mit keinem einzigen Vorstandsmitglied von Skyrock verscherzen. So, und jetzt genug geredet! In dreißig Minuten will ich Sie da unten haben. Geben Sie Ihr Bestes. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.«

Obwohl sich Lester über das in ihn gesetzte Vertrauen geschmeichelt fühlte, konnte er sich, da sein freier Tag das dritte Mal in Folge flachfiel, eine Portion Ironie nicht verkneifen. »Verstanden, Sir. Bin so gut wie unterwegs. Gleich nachdem ich gefrühstückt und mein Fitnessprogramm absolviert habe.«

»Sehr witzig, Benx!«, erwiderte Nevis Korvalinski trocken. »Der Baulärm hier nervt mich genug … da vertrage ich keine Späße. Ach, Benx. Lassen Sie Ihre HoloCom-Anlage checken. Habe Sie vorhin mehrfach gesehen. Ende.«

»Sicher, Sir, wem sagen Sie d…«

Sein Chef hatte die Verbindung unterbrochen – das dreidimensionale Abbild war verschwunden.

Das Organisationstalent dieses Mannes ist zu bewundern! Selbst wenn der Mond in Flammen stünde, Korvalinski würde die Krise meistern.

Lester prüfte nochmals seine Ausrüstung. Die DNA-codierte Handfeuerwaffe, den Scanner und das zusätzliche Schutzschildenergie-Modul waren an den dafür vorgesehenen Stellen seines Anzugs befestigt. Aus Zeitmangel verzichtete er auf ein konventionelles Frühstück. In den letzten Tagen hatte er nur zwei vom Nahrungsverteiler zubereitete Mahlzeiten in Ruhe und an einem Tisch sitzend genießen dürfen. Darum überließ er es auch diesmal dem Bio-Überwachungssystem seines LiSi, ihm die nötigen Vitamin- und Nährstoffpräparate zuzuführen.

Oder ich rauche ein paar Cynrets zusätzlich … und gewöhne mich endgültig an den Mist!

Ihm fiel wieder die Klimakontrolle seiner Wohnung ein. Die Kälte hatte sich sogar verschlimmert. Ausdrücklich gab er Selene den Befehl, einen Techniker oder Droiden des Wartungsdienstes zu bestellen. Der Computer bestätigte und wünschte ihm einen erfolgreichen Tag.

Lester war um 05:52 Uhr bereit zu gehen.

Das opake Kraftfeld, das sein Quartier von dem Stockwerkflur trennte, verschwand auf Gedankenbefehl. Im selben Moment erstrahlte wieder das Anzeigefeld des Holo-Visiers vor seinem Gesicht, das sein Anzug bei jeder Schlüsselsituation projizierte. Es zeigte ihm per Live-Vernetzung, der »Sol-Team-View«, wo sich die Mitglieder von Team 1 aufhielten.

Lester informierte seine Leute, dass er zu dem Fall um die mysteriöse Leiche in Mine C hinzugezogen worden war. Danach initiierte er eine Verbindung zu Mona, die neben ihrer Funktion als Hauptcomputerprogramm der Sol Guard-Zentrale die Einsatzteams im Außendienst koordinierte. Die 3D-Projektionen seiner Kollegen glitten in den Hintergrund des Visiers, während im Vordergrund das Gesicht einer dunkelhaarigen, attraktiven Frau um die dreißig erschien.

»Guten Morgen, Lester«, begrüßte ihn die Künstliche Intelligenz freundlich. »Befehle?«

»Ja, Mona. Wir sind auf der Suche nach einem Minentechniker namens Cabrallo. Er hat seine Wohneinheit hier in Tower 3, Ebene 44. Ist er zu Hause?«

»Positiv, Lester. Die gesuchte Person mit dem vollständigen Namen Antonio Juan Cabrallo-Ferrer, zuständig für die Instandhaltung der Kristallreinigungszellen in Mine C, Sektion 4, hält sich laut meiner MindCell-Überwachungsdatenbank seit achtundvierzig Minuten in seinem Quartier auf.«

»Ich muss ihn sprechen, Mona. Ist der Mann inzwischen erreichbar?«

»Nein, Lester. Ich habe ihn mehrere Male zu kontaktieren versucht, jedoch ohne Erfolg. Jegliche Verbindung zu dem Quartier wurde unterbrochen. Selene informiert mich zwar, dies sei ein technisches Problem, aber meine Sensoren registrierten dort vor kurzem eine hermetische Abriegelung. Soll ich ein Droiden-Kommando zur Festnahme von Mr. Cabrallo losschicken?«

»Unbedingt! Sein Verhalten ist verdächtig. Lass ihn abholen und für eine Vernehmung vorbereiten. Ich bin neugierig, was der Mann zu sagen hat. Schätzungsweise bin ich in zwei Stunden wieder in der Zentrale.«

»Verstanden.«

Das künstliche Gesicht von Mona verschwand, und Lesters Holo-Visier schaltete sich ab. Er trat endgültig nach draußen auf den Flur von Ebene 53.

Viele Menschen strömten durch die Gänge, über die Galerien sowie die Arkaden-Verbindungen der drei Ebenen 53 bis 55.

Sein Nachbar Jerony Pauls kam von der Arbeit nach Hause. Der kleine beleibte Mann mit den Schlabberklamotten quatschte wie ein Wasserfall drauflos, doch Lester setzte sich nach den Begrüßungsfloskeln ab.

Im Weitergehen trat er beinahe auf einen Reinigungsroboter, als ihm bewusst wurde, was ihn an seinem Nachbarn gestört hatte: Der Mann besaß am Hals einen dunkelroten Fleck, der einem Geschwür ähnelte. Pauls war zwar ein echter Freak, der einen Erotik-Nachtclub mit sadomasochistischer Ausrichtung auf Ebene 5 betrieb und selbst jede Menge Piercings trug. Zudem stand er auf die Schmerzen, die mit seinen Vorlieben zusammenhingen. Aber deren Auswirkungen waren Lester bis jetzt nicht aufgefallen. Ihm fehlte jedoch die Zeit, sich über die Sexualpraktiken dieses Vogels den Kopf zu zerbrechen.

05:55 Uhr. Seine Pflicht als Team 1 Chief-Officer der Sol Guard rief.

EBQUIZEON - Die Welt hinter der Welt (2018)

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