Читать книгу Four on Level 4 - Anna Schag - Страница 12

Оглавление

1 Die Willy-Brandt-Schule

Ein gewaltiges Konzert von Vogelstimmen drang durch das angelehnte Fenster. Milli lauschte andächtig. Ob wohl alle Vögel aus Freude sangen oder ob es auch welche gab, die protestierten? Sie drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Eine Woche Koppelitz – und das Chaos in ihrem Zimmer hatte eher zugenommen. Milli schob ein paar Umzugskartons aus dem Weg zum Bad, sprang unter die Dusche und zog sich an. Heute war ihr erster Schultag. Kaum war sie fertig, ging unten schon die Klingel. Sie war mit Chong verabredet und er war offenbar überpünktlich.

Emma hatte zum Frühstück den Tisch im Esszimmer gedeckt. Auf der roten Tischdecke standen grünweiß gemusterte Teller und Tassen, dazu grüne Servietten. Die Farben leuchteten intensiv. Das Esszimmer bestand aus einem großen Tisch mit vor Alter geschwärztem Holz und acht gewaltigen Stühlen drum herum. Es gab ein paar antike Schränke und dazwischen hinter Glas ungerahmte moderne Drucke in hellen Farben. Das Zimmer wirkte hell und einladend, trotz der dunklen Möbel.

Chong sah zerknirscht aus und starrte seine Tasse an.

„Seine Schwester hat ihn geärgert“, erklärte Emma und warf ihm einen ermutigenden Blick zu. Dann musterte sie kritisch Millis Bauch. „Oh Milli, der Pulli ist zu kurz – deine Nieren, du holst dir was weg.“

Milli seufzte. „Nein, die Hose ist nur tiefer geschnitten, und ich zieh noch einen warmen Pullover drüber.“

„Guten Morgen allerseits“, sagte Batori und betrat gut gelaunt das Zimmer.

Bello knurrte zärtlich. Milli setzte sich, um weitere Diskussionen über Bäuche und Pullis zu vermeiden.

„Was für ein schöner Morgen. Chong, alles in Ordnung?“, fragte er leutselig.

„Ich denke nach“, antwortete Chong düster.

„Das ist lobenswert. Und bist du zu einem Ergebnis gekommen?“

„Batori, nun quäl den Jungen nicht." Emma gab ein zwitscherndes Geräusch von sich. „Er hat sich heute schon geärgert.“

„Dann kann es ja nur noch besser werden“, antwortete Batori lächelnd. „Emily – Chong! Eine gute Freundin von mir wohnt jetzt auch in Koppelitz. Ihr jüngster Sohn geht ab heute ebenfalls in die Willy-Brandt-Schule. Sein Name ist Benjamin Rosen. Falls er in eure Klasse kommt, grüßt ihn von mir.“

„Den kenn ich“, sagte Chong zu Milli. „Der war mal hier. Im See badet er nicht, und er redet stundenlang von Computerviren und Nanotechnologie, und er hat zwanzig oder dreißig Allergien.“

Auf Batoris Gesicht machte sich ein Anflug von Belustigung breit.

„Das war im Herbst, Chong, und Benjamin war heftig erkältet. Er ist ein netter Junge. Nicht jeder ist so abgehärtet wie du.“

Es entstand eine Pause. Batori bestrich einen Toast mit Pflaumenmus.

„Ich glaube, wir müssen los“, sagte Milli, die langsam unruhig wurde.

„Chong, du passt mir bitte auf Emily auf“, sagte Batori in einem Ton, der offenließ, ob er sich heimlich über sie amüsierte.

Chong schenkte Milli ein selbstgefälliges Grinsen, die ihre Gedanken besser für sich behielt und genervt die Arme vor der Brust verschränkte.

„Was hat er mit diesem Benjamin Rosen? Ich hatte mir schon einen passenden Namen für ihn ausgedacht – Benni Tulpe, klingt doch gut, oder?“, erklärte Chong, kaum dass sie draußen waren.

„Er wollte bestimmt nur pädagogisch sein“, sagte Milli.

„Was hat er davon? Denkt er, ich hab’s nötig, oder was?“

Milli seufzte. „Er meinte natürlich uns beide. Aber wahrscheinlich hat Benjamins Mutter ihn darum gebeten, damit du ihn nicht dumm anmachst.“

„Anmachen! Sag mal, spinnst du?“

„Na ja, du als großer Kung Fu-Kämpfer.“

„Oh nee!“ Chong schnaubte verächtlich. „Schon mal was von der Ehre des Kriegers gehört? Kung Fu ist eine Geisteshaltung, eine Kunst, da fällt man nicht einfach Leute an.“

Milli schmunzelte heimlich. Sie hatte erreicht, was sie wollte und Chong erfolgreich auf ein anderes Thema gebracht.

Hinter einer Biegung mussten sie mit ihren Fahrrädern unerwartet scharf bremsen. Beinahe wären sie in einem Pulk merkwürdiger Figuren stecken geblieben. Milli sah sich um. Die Typen passten nicht nach Koppelitz. Sie trugen schwarze Hoddies oder Jacken mit Kapuzen. Einige hatten Tücher um den Hals und den Mund gewickelt. Sie sahen beinahe aus wie die Vorhut einer Kreuzberger 1. Mai Demo. Vielleicht kamen sie ja aus Berlin?

„Das sind Autonome“, sagte Milli, „läuft hier ’ne Demo?“

„Nicht, dass ich wüsste. Die nächste offizielle ist am 1. Mai.“

Die Willy-Brandt-Schule bestand im Wesentlichen aus einem langgezogenen Gebäude mit drei Etagen und viel Glas. Es gab verschiedene Gebäudeteile, die zur Abwechslung verschieden angestrichen waren. Auf der rechten Seite war zusätzlich eine Grundschule einquartiert. Der Rest des Bauwerks beherbergte die älteren Schüler. Auf dem Hof vor dem Gebäude gab es Fahrradständer und eine Skulptur, die Willy Brandt darstellte, aber der größere Teil des Schulhofs lag dahinter, mit einem Brunnen und ansehnlich mit Bäumen und Sträuchern bepflanzt. Links gab es eine Turnhalle und einen Sportplatz.

Auf dem Hof war der Teufel los. Von allen Seiten strömten Schüler herbei, mit Mopeds, Fahrrädern, zu Fuß oder mit dem Schulbus.

Sie schoben ihre Räder zu den Unterstellplätzen und trafen auf eine Gruppe Jungen, die Chong begrüßten. Sie sahen Milli und grinsten. Ihr war das unangenehm, aber Chong schien es nicht zu bemerken.

„Ich geh dann schon mal vor“, sagte sie.

Chong ließ seine Kumpel stehen und folgte ihr. „Hey! Wart mal! Ich hab Batori versprochen –“

„Ja, schon gut. Batori wollte bloß nett sein und dein Selbstvertrauen stärken. Auf meine Kosten. Ich pass schon auf mich selber auf.“

„Oh verdammt!“ Chong tauchte hinter einer Gruppe älterer Schüler unter. Dabei stolperte er über Millis Füße und riss sie beinahe mit um. „Tschuldigung. Ich glaub, ich hab ein Problem, und das steht da vorne. Verabredung in den Ferien, vermutlich ausrangiert“, sagte er mit allen Zeichen der Verlegenheit.

Milli fühlte sich gestresst und zappelte, um freizukommen.

„Ausrangiert?“, murmelte sie leise und reckte den Hals. Sie sah nur unbekannte Gesichter, außer einem Mädchen, das mit großen erstaunten Augen direkt in ihre Richtung blickte: Lukrezia Ziggedorn. Milli erkannte sie sofort und winkte ihr lebhaft zu.

Keine Reaktion.

Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Lukrezia verzog keine Miene und ihre Augen wanderten weiter.

Ist ja peinlich, dachte Milli, bestimmt sucht sie Chong und dann stehe bloß ich da. Verunsichert drehte sie sich nach ihm um und sah, wie gerade ein Junge und ein Mädchen auf ihn zusteuerten.

„Hey Alter!“ Ein schlaksiger Junge haute Chong zur Begrüßung auf die Schulter. Er hatte strohblonde Haare, einen Leberflecken auf der Nase und riesige Ohren. Das Mädchen stand etwas schüchtern daneben, mit den Händen in den Taschen.

Chong wirkte überrascht und erleichtert zugleich. Er nahm Milli am Arm und stellte sie einander vor: „... Lukas und Lisa.“

Lisa hatte eine kleine runde Nase und abstehende silberblonde Haare mit ein paar violetten Strähnchen drin. An ihren Ohrläppchen baumelten zwei spindelförmige Ohrringe.

Die unerfreuliche Begegnung mit Lukrezia hatte bei Milli irgendwie eine dunkle Vorahnung hinterlassen, aber Lisa lächelte sie so offen und herzlich an, dass es ihr angeschlagenes inneres Gleichgewicht fast ganz wiederherstellte. Sie wand sich aus Chongs eisernem Griff und sagte: „Hallo.“

In der Klasse gab es nur noch einen freien Tisch, und der war ganz vorn am Fenster.

„Wir kriegen aber drei neue“, sagte Lisa, während sie sich im Raum umschaute. „Einmal Milli … und da hinten neben Sophie Bürger sitzt schon eine Neue. Fehlt also noch jemand.“

In Chongs hellbraune Augen trat ein gewitzter Ausdruck. „Benni Tulpe“, flötete er.

„Er meint Benjamin Rosen“, schaltete Milli sich ein und warf Chong einen missbilligenden Blick zu.

„Obwohl sich Benni Tulpe eigentlich ganz süß anhört“, kicherte Lisa.

Die erste Stunde hatten sie bei ihrer Klassenlehrerin, Frau Breit. Sie unterrichtete Deutsch und Kunst. Frau Breit trug spitze Schuhe, die klackende Geräusche auf dem Boden machten. Ihr Mund stand halb offen. Milli versuchte, nicht unentwegt auf ihre sorgfältig geschminkten Lippen zu starren.

Frau Breit litt scheinbar unter Kopfschmerzen, sie fasste sich mehrere Male schmerzerfüllt an die Stirn. Dann rief sie die neuen Schüler auf. Emily Pietsch, Maria Frost und Benjamin Rosen.

„Benjamin Rosen – nicht anwesend“, notierte sie. „Bei dem Durcheinander da draußen … hoffentlich ist ihm nichts passiert.“

Es entstand eine Pause, von Stimmengewirr und Gekicher erfüllt.

„Gut –“, Frau Breit holte dramatisch Luft und betrachtete beim Ausatmen eingehend ihre lackierten Fingernägel. „Draußen herrscht das Chaos. Wieder so eine unangemeldete Demonstration, ausgerechnet vor der Schule, aber unser Schulleiter Herr Nestor hat schon die Polizei verständigt. Hier sind wir sicher.“

Kurze Zeit später klopfte es an der Tür, und ein großer bärenartiger Mann mit Vollbart und Glatze schob einen dünnen dunkelhaarigen Jungen mit schräg sitzender Brille durch die Tür mit den Worten: „Guten Morgen. Wird hier ein Benjamin Rosen erwartet?“

„Guten Morgen, Herr Nestor“, sagte Frau Breit mit einem strahlenden Lächeln und musterte irritiert den Jungen. Ein kurzes Schweigen trat ein. „Aber natürlich, Benjamin Rosen“, fuhr sie schließlich fort. „Sehr gut. Bist du verletzt, Benjamin?“

Der Junge räusperte sich. „Ähm – offensichtlich nicht. Wieso?“

„Fein. Dann setz dich.“ Frau Breit sah sich um. „Dort neben – Emily.“

Herr Nestor verabschiedete sich, und Benjamin wirkte ein wenig verwirrt. Er fasste seine Tasche, die offen stand, am falschen Ende an und sie entleerte sich neben und unter den Tisch. Beim Einsammeln stieß er von unten mit dem Kopf gegen die Tischplatte, so dass Millis Stifte auch noch runterrollten und der Tisch ins Wanken geriet. Die Klasse brüllte vor Lachen.

„Ich bin heute auch das erste Mal hier“, flüsterte Milli. „Mach dir nichts draus.“

Er lächelte zerstreut und rückte seine Brille zurecht.

„Ich heiße Ben.“

„Okay. Also Ben. Ich bin Milli.“

In der Pause sah Milli sich nach Chong um, aber der war offenbar beschäftigt. Er studierte die Deckenlampen, als wäre dort ein Vogelnest zu besichtigen. Neben ihm stand Lukrezia, die Arme auf seinen Tisch gestützt, und redete leise und eindringlich auf ihn ein.

Millis Blick wanderte zur Decke, aber etwas Besonderes war da nicht. Wenn das Chongs Methode war, sein Problem mit Lukrezia aus der Welt zu schaffen, warum nicht, dachte sie und nahm Lisas Angebot an, sie rumzuführen. Ben schloss sich ihnen an.

„Das hier ist die selbstverwaltete Schulkantine“, erklärte Lisa, „die wird von Schülern und Eltern gemeinsam organisiert, macht aber erst morgen auf.“

Als sie bei den Getränken vorbeikamen, blieben sie in einer Gruppe stecken, die sich um einen Schüler gebildet hatte, der einen der Automaten demolierte. Ein paar andere versuchten zuerst vergeblich, ihn davon abzubringen, bis sie dann gegenseitig aufeinander losgingen. Milli, Lisa und Ben flohen vor dem Tumult nach draußen. Aber da war es auch nicht besser. Eine eigentümliche Gereiztheit lag über allem, die sich anfühlte wie kurz vor der Entladung.

Lisa krempelte ihre Ärmel hoch und fing an, sich zu kratzen. „Mir ist schlecht und alles juckt“, sagte sie dumpf und sah Milli und Ben an.

Auch Milli fühlte sich nicht wohl. Ratlos hob sie die Schultern und stimmte in Lisas Geseufze ein.

„Das liegt an den Demonstranten“, sagte Ben. „Die übertragen ihren Stress auf uns.“ Er machte eine Pause und betrachtete den Himmel. „Hmm, oder ein Gewitter. Der Luftdruck ...“

Vor dem Schulhof war ein Dutzend Polizisten mit ergrimmten Gesichtern aufmarschiert, während sich der Park auf der anderen Seite der Dorfstraße mit Demonstranten zu füllen begann.

In der Ferne hörte man Sirenen. Ganz verschiedenes Volk war unterwegs, in der Mehrzahl normale Leute. Nur wenigen Vermummten war es gelungen, sich darunterzumischen. Es war nicht auszumachen, worum es bei der Demonstration wirklich ging, viel zu viele unterschiedliche Schilder und Transparente waren in Umlauf:

BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN – WO IST ULRICH EBERFELD? – KONZERNE MÜSSEN STEUERN ZAHLEN – ZIGGEDORN EIN KRIEGSTREIBER – HURRA WIR VERBLÖDEN – FREIER UFERWEG IN KOPPELITZ – UNSER WASSER GEHÖRT UNS – TEILEN WIRD DIE WELT RETTEN – KEINE LÜGENPRESSE – STOPP KLIMAWANDEL ...

Lisa sah sich um und rief: „Guckt mal, wer da kommt!“

Chong marschierte quer über den Schulhof wie ein Schlachtkreuzer, ohne zu merken, wie die Umstehenden zur Seite sprangen.

„Ihr haut einfach ab und lasst mich mit diesem Vampir allein zurück!“, rief er schon von weitem.

„Oh Gott“, sagte Lisa und lief rot an. „Was ist denn in dich gefahren?“

„Dumme Frage. In mich fährt nichts.“ Chong schnitt eine Grimasse und schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Seid ihr auch so verspannt?“

Milli nickte. Sie hatte Kopfschmerzen. Überall sah sie nur frustrierte, gereizte oder traurige Gesichter. Vielleicht hat dieses Koppelitz ja doch nicht so gesunde Luft, wie immer behauptet wird, dachte sie. Einige von den Leuten sahen aus wie kurz vorm Umkippen.

„Lasst uns auf den hinteren Hof gehen, zum Springbrunnen. Wasser beruhigt“, sagte Lisa und lief voraus, um ihnen den Weg zu zeigen.

Ben beugte sich über einen Blumenkübel. Er sah elend aus, als müsse er jeden Moment kotzen. Milli hakte sich spontan bei ihm ein und zog ihn mit sich fort.

„Benni Tulpe!“, pfiff Chong hinterher und holte sie ein. „Wir haben heute früh schon von dir gehört.“

„Der wohnt auf dem gleichen Grundstück wie Herr Batori“, keuchte Ben elend. „Den kenn ich.“

Milli fand Chongs Verhalten nicht besonders rücksichtsvoll und zerrte noch entschiedener an Bens Arm. „Batori ist mein Onkel“, verriet sie ihm und holte zu einer längeren Erklärung aus, weil sie Batori ja versprochen hatte, sich um Ben zu kümmern.

Aber daraus wurde nichts, denn am Durchgang zum hinteren Hof trafen sie auf Lukrezia. Sie stand mit drei Mädchen und zwei riesenhaften Jungs zusammen und gestikulierte in ihre Richtung.

„Eine von den Neuen!“, sagte Lukrezia so laut, dass einige der Vorbeigehenden sich neugierig umsahen. „Ich dachte, du kennst hier niemanden … hast ja schnell Freunde gefunden.“

Milli wollte keinen Streit. Sie ließ Ben los und versuchte sich vorbeizudrücken, aber die hünenhaften Jungen standen im Weg.

„Na und, was ist schlecht daran?“, stieß sie gepresst hervor.

„Nichts ist schlecht daran“, sagte Lisa alarmiert, und dann leise zu Milli, „kümmere dich nicht um sie – lass uns weitergehen.“

Lukrezia schenkte Lisa keine Beachtung und blickte kühl auf Milli herab.

„Chong Dachs hat dich zur Schule gebracht; wie hast du denn den rumgekriegt?“

Also hatte Lukrezia sie am Morgen doch gesehen. Aber rumgekriegt!? – Auf so was muss man erst mal kommen, dachte Milli und verspürte den übermächtigen Drang, Lukrezia eine reinzuhauen und zugleich ein ebenso heftiges Verlangen, den Ort zu verlassen, bevor sie etwas Dummes tat.

Lukrezia kam ihrer Entscheidung zuvor. Sie stellte sich Milli direkt in den Weg. Die Hünen lachten wiehernd und behielten Chong im Auge, der sich gerade noch zurückhielt.

„Ich habe dich was gefragt, Emily Pietsch!“

„Lass sie“, sagte Lisa mit bebender Stimme und zog Milli am Arm. „Wir gehen jetzt einfach weiter.“

Aber dafür war es zu spät; in Milli stieg heftiger Zorn auf und ihr Verstand war kurz davor, sich abzuschalten.

„Ich komme zur Schule, mit wem ich will“, sagte sie, scheinbar ruhig. „Und wenn du nicht gleich Platz machst –“

Chong schubste sie zur Seite, baute sich dicht vor Lukrezia auf und fuhr sie an: „Was läuft hier? Hast du ein Problem?“

Lukrezia war einen Augenblick lang verblüfft. Sie trat einen Schritt zurück, bereute es aber sofort und warf Chong einen hasserfüllten Blick zu. „Die Neue hat einen Beschützer“, sagte sie kalt.

„Immer noch besser als deine aufgeblasenen Bademeister!“, fauchte Milli zurück, und ihre Geduld war am Ende. Sie stieß Chong aus dem Weg, rammte Lukrezia höchst unsanft und stampfte wütend davon.

„Mann, wie bist du denn drauf?“, sagte Chong anerkennend, als sie wieder unter sich waren. „Body-check! Das hat sie sicher beeindruckt.“

Milli sah ihn düster an. Sie hatte keine Ahnung, was hier wirklich vor sich ging, aber wie der Ausbruch ernsthafter Kampfhandlungen ablief, wusste sie von ihrer alten Schule. Und sie waren verdammt knapp davor gewesen.

„Das war dumm von dir“, ging Lisa auf Chong los. „Warum kränkst du Lukrezia? Du weißt doch, wie nachtragend sie ist.“

Chong kickte eine leere Milchpackung in ihre Richtung. Lisa hob die Packung auf und warf sie grimmig in den nächsten Mülleimer.

Was wollte der Vamp von dir?“, wandte sich Ben an Chong. „Läuft da was mit euch?“

„Maul halten“, knurrte Chong.

Ben zuckte die Schultern und setzte sich neben Milli auf den Rand des Springbrunnens, ohne Chong weiter zu beachten. Millis Blick verlor sich im Glitzern des Wasserstrahls. Alle wurden ruhiger, und eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach.

„Wer waren diese Riesen bei Lukrezia?“, wollte Milli schließlich wissen.

„Du meinst die Bademeister“, sagte Chong grinsend. „Wulf Keiler und Wido Bismarck. Zwei Vollpfosten, die sich gern mal an Schwächeren vergreifen.“

„Ihre Väter arbeiten bei Ziggedorn“, setzte Lisa fort. „Wulf und Wido sehen sich als Lukrezias Beschützer.“

„Wozu braucht sie Beschützer?“

„Braucht sie nicht. Es ist andersrum.“ Chong machte eine Faust mit nach unten ausgestrecktem Daumen. „Lukrezia hat sie in der Hand.“

Lisa erklärte Ben den Zusammenhang: Lukrezia, Ziggedorn, Ziggedorns Stiftungen in Koppelitz, wie zum Beispiel der Schulspringbrunnen, auf dem sie gerade saßen, oder die Bänke und gelben Lampen am Dorfplatz und all die anderen Dinge in der Stadt, die direkt oder indirekt mit Ziggedorn zusammenhingen.

„So große Konzerne haben ihre Pranken überall drin“, sagte Ben, wenig überrascht. „Kein Wunder, dass sich das Töchterchen so sicher fühlt … Ich wusste, dass er eine hat, aber nicht, dass sie es ist.“

„Ich bin ihr vorher schon mal begegnet“, rückte Milli heraus, „an der Tankstelle mit ihrem kleinen Hund und der Mutter.“

Lisa schnappte nach Luft. „An deiner Stelle würde ich mich vor ihr in Acht nehmen. Sie ist clever und rachsüchtig.“

„Ach was. Lukrezia ist ein Mädchen wie jedes andere – typisch weibisches Getue und zickige Anwandlungen“, mischte Chong sich ein, ehe Milli etwas sagen konnte.

„Soll das heißen, dass zickige Anwandlungen typisch für normale Mädchen sind?“, sagte Lisa und sprang auf.

Chong legte den Kopf ein wenig schräg und lächelte hintergründig.

Es läutete. Sie blieben sitzen und lauschten dem Plätschern des Wassers. Lisa seufzte und setzte sich wieder.

Milli wartete ein paar Sekunden, dann fragte sie: „Warum geht Lukrezia eigentlich nicht auf eine Privatschule?“

„Weil Papa das Abi auch hier für sie kaufen kann“, äußerte Ben scharfsinnig.

„Muss er gar nicht“, sagte Lisa. „Sie ist ziemlich gut in der Schule.“

Milli verdrehte die Augen.

„Das bedeutet nichts“, sagte Ben. „Mein Onkel ist Neurologe und Psychiater und was es sonst noch gibt, und er behauptet, dass gute Schüler meistens sehr anpassungsfähig und gut im Auswendiglernen sind und von den Erwachsenen gemocht werden wollen, und dass viele herausragende Leute nicht gut in der Schule waren, weil ihr Unterbewusstsein oder Überbewusstsein es nicht zulässt, dass man jeden Schrott in sie reinstopft.“

„Klasse! Wenn ein paar mehr so denken würden“, entgegnete Milli, obwohl sie sich nicht sicher war, ob Bens Theorie auch stimmte.

„Also – Papa Ziggedorn will, dass Lukrezia normal groß wird“, fühlte sich Chong zu einer realistischeren Erklärung verpflichtet. „Ihr großer Bruder war auf einer dieser höchst exklusiven Privatschulen und ist nun schwer gestört; er ist Philosoph geworden.“ Er sah in die Runde und kicherte. „So was erzählt Eva Ziggedorn meiner Mutter.“

Konnte Eva Ziggedorn noch einen älteren Sohn haben, ging es Milli durch den Kopf.

„Er ist der Sohn von Ziggedorns erster Frau“, sagte Lisa, die ihren Gedanken erraten hatte.

Sie kamen in Englisch zu spät. Niemand bemerkte es. Frau Ellis, ihre Englischlehrerin, war kurzfristig krank geworden. Der unermüdliche Herr Nestor verteilte einen kopierten Text, mit dem sie sich bis zur nächsten Stunde befassen sollten.

Milli und Ben fingen gar nicht erst damit an. Chong und Lukas Jahn setzten sich zu ihnen auf den Tisch. Lukas war einer von vier Söhnen von Biobauer Jahn. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Ziggedorn für einen Verbrecher hielt. Die Jahns besaßen seit Generationen ein Areal mit Wald und einem kleinen See, das an das Gelände von Ziggedorn-Electronics grenzte. Ziggedorn, seine Anwälte und der Stadtrat setzten seinen Vater unter Druck, es zu verkaufen. Das Gebiet stand teilweise unter Naturschutz. Dort gäbe es einheimische Sumpfschildkröten, seltene Frösche und riesige Fische, meinte Lukas. Der Falegei See wäre was Besonderes, den könne man nicht Ziggedorn überlassen.

Milli stimmte das nachdenklich.

In der Pause meldete sie sich für die Tanz AG an. Frau Ballarin, die Tanzlehrerin, war nicht zu sprechen, weil auch sie sich kurzfristig krank gemeldet hatte. Schon drei kranke Lehrer, ihre Klassenlehrerin Frau Breit mit eingerechnet. Milli fragte sich, ob in Koppelitz vielleicht eine geheimnisvolle Epidemie ausgebrochen war.

Die letzte Stunde hatten sie Philosophie bei Professor Morales. Professor Morales war Privatdozent. An der Schule war man mächtig stolz auf ihn. Die Stunde hatte kaum begonnen, als eine ältere Frau den Kopf zur Tür hereinstreckte: Lukrezia Ziggedorn möge bitte wegen einer dringenden Familienangelegenheit sofort nach Hause kommen.

Lukrezia stöhnte, damit alle wussten, wie ungelegen es ihr kam, und marschierte stilvoll wie eine Diva aus dem Klassenraum.

Von diesem ganzen Vormittag war Milli ernsthaft müde geworden, und sie wollte sich entspannt durch Philosophie hindurchschlafen.

„Fanatismus im Alltag“, gab Professor Morales das Thema bekannt. „Wer hat ein Beispiel?“

Sophie Bürger, ein unscheinbares Mädchen, riss ihren Arm hoch und rief: „Biobauer Jahn ist ein typischer Fanatiker.“

Lena Wuttke, Freundin von Lukrezia, verkündete, dass Biobauer Jahn genauso wie die Islamisten Terror ausübe, indem er den Fortschritt aufhalte. Der Konzern Ziggedorn könne seine Wohltaten nicht weiter verbreiten, da Biobauer Jahn alles, was neu und gut sei, behindere.

Professor Morales, der im Klassenraum auf und ab zu gehen pflegte, blieb stehen und studierte Lena Wuttkes Gesicht. Als er begriff, dass sie es ernst meinte, fing sein linkes Auge an, nervös zu zucken.

Die Klasse geriet außer Kontrolle, als hätte Professor Morales aufgehört zu existieren. Während einige Schüler noch heftig diskutierten, saßen andere deprimiert herum oder beschimpften sich gegenseitig. Stifte und Schnipsel flogen durch die Luft.

„Du behauptest damit, dass Umweltschützer dasselbe sind wie Islamisten, die wahllos Menschen ermorden!“, brüllte Chong durch den allgemeinen Lärm mit einer Stimme, die zum Fürchten war. Dann fluchte er mehrere Minuten lang, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Lisa starrte ihn entsetzt an.

„Alexander – mäßige dich bitte“, krächzte Morales.

„Ihr dürft nicht vergessen, wer dafür gesorgt hat, dass es Koppelitz und den Koppelitzern so gut geht“, sagte Lena Wuttke mit todernster Miene als zitiere sie aus dem Katechismus.

Milli kochte innerlich, konnte aber nichts machen, weil sie niemanden richtig kannte und nicht wusste, was für Argumente sie anbringen konnte. Am liebsten wäre sie Lena Wuttke an den Hals gesprungen und hätte gern einen coolen Spruch losgelassen, aber ihr fiel nichts ein.

„Warum ist ein Konzern überhaupt daran interessiert, dass es diesen Koppelitzer Langweilern und Deppen so gut geht!“, grölte Irma Boxer, das Mädchen mit der wilden Rastamähne. „Die Leute werden gemästet, damit sie träge und feist werden. So ein eingelulltes Pack lässt sich easy ausbeuten und manipulieren!“

„Das, was wir hier gerade abziehen“, sagte ein dunkelblonder, sportlich aussehender Junge, der im Schneidersitz auf dem Tisch saß, „das ist Faschismus pur.“

„Philip Adam kann Fanatismus und Faschismus nicht auseinander halten!“, rief Laura Kutscher und schmiss ihre langen Zöpfe in den Nacken. „Er hält ja auch Alexander den Großen und Kaiser Barbarossa für ein und dieselbe Person!“

Einige trommelten mit den Fäusten auf den Tisch und buhten.

„Faschismus ist es ganz sicherlich nicht, aber eine echte Plage“, stieß Ben gepresst hervor. Man sah, dass es ihm nicht gut ging; er war ganz bleich. Plötzlich stand er auf und erbrach sich quer über den Tisch. Milli riss geistesgegenwärtig Federtasche und Heft hoch, die sie ausgelegt hatte, um einen seriösen Eindruck zu machen. Lisa fing an zu schluchzen und mit ihr noch zwei weitere Mädchen. Einige Schüler standen auf und verließen wortlos das Klassenzimmer, unter ihnen auch Lukas Jahn, der genug Dummheiten über seinen Vater mitanhören musste. Milli manövrierte Ben zur Fensterfront und öffnete eins. Draußen plätscherte gemächlich der Springbrunnen. Der Himmel war beinah wolkenlos, alles schien vollkommen friedlich.

Drinnen herrschte plötzlich drückende Stille.

Milli ekelte das Erbrochene. Lisa und ihre Sitznachbarin Julia halfen ihr beim Wegwischen. Professor Morales schaute ihnen wie gelähmt zu und schüttelte ab und zu den Kopf, als würde er Selbstgespräche führen. Dann stand er auf und blickte verbittert in die Gesichter der übriggebliebenen Schüler.

„Das ist Unfug. Ich begreife das nicht.“ Er nahm seine Brille von der Nase und drückte Mittel- und Zeigefinger auf das zuckende Augenlid. „Ihr werft euch Vorurteile und Halbwahrheiten an den Kopf. Habt ihr nichts bei mir gelernt?“

Es klingelte zum Ende der Stunde.

Die Schüler, die noch da waren, packten ihre Sachen und tobten in Windeseile aus dem Klassenzimmer. Maria Frost, die heute auch das erste Mal da war, blieb wie versteinert auf ihrem Stuhl sitzen. Plötzlich wühle sie in ihrer Tasche und zog eine Packung Vitaminfruchtgummibärchen hervor. Ungeduldig riss sie dran. Die Tüte ging entzwei und der Inhalt verteilte sich über den Tisch und den Fußboden. Wie ein hungriger Bluthund stopfte sie mit beiden Händen Fruchtgummiteilchen in ihren Mund, ohne einen Gedanken daran, dass sie nicht allein war.

Professor Morales bot einen beklagenswerten Anblick; er starrte mit leerem Blick auf die hintere Wand. „Danke für die Hilfe. Geht’s eurem Mitschüler wieder besser?“, sagte er mechanisch. „Kann mir jemand erklären, was hier gerade passiert ist?“ – Dabei sah er zufällig Milli an.

„Sonneneruptionen“, stieß Milli hervor und kicherte nervös. „Sonnenstürme können alles Mögliche beeinflussen. Ich glaube, solche Eruptionen wurden schon länger vorausgesagt.“

Professor Morales kniff die Augen zusammen und fasste sich an die Stirn, als fühle er sich nicht wohl. Dann hatte er es plötzlich sehr eilig. Er schaufelte alles, was rum lag, in seine Tasche und stürmte Hals über Kopf hinaus. Er konnte einem leidtun. Eine Weile sprach niemand. Aus der anderen Ecke des Raums war Schmatzen und das leise Rascheln der Gummibärchentüte von Maria Frost zu hören.

Chong grinste und sagte: „Sonneneruptionen? War das jetzt echt?“

„Irgendwas musste ich doch sagen ...“

„Du hast dir das nur ausgedacht?“, sagte Lisa fassungslos.

„Nur ein bisschen improvisiert“, entschuldigte sich Milli. „Man kann Kopfschmerzen oder Übelkeit und Depressionen von Sonneneruptionen kriegen, und sie können auch Radiosender und Satelliten stören oder die Stromversorgung.“

Im Raum wurde es still.

„Wollen wir zu mir gehen? Ich meine ins Café“, schlug Lisa vor. „Meine Mutter hat Eis und Kuchen“, verlegen musterte sie Ben, „und du kriegst Tee und Salzstangen.“

„Ich geh dann mal“, hörten sie eine fipsige Stimme quer durch den Raum.

Alle drehten sich um. An Maria Frost hatte niemand mehr gedacht.

„Mir ist schlecht. Ich glaube ich muss mal aufs Klo“, keuchte sie und gab einen kläglichen Laut von sich.

„Weißt du denn, wo das ist?“, fragte Lisa höflich.

Sie nickte schwach mit dem Kopf.

„Oder – willst du mit ins Café kommen? Ins Café Siebenrock?“

Maria Frost hielt einen Augenblick inne und sah einen nach dem anderen an. „Ich wohne in Schwalbenwalde und mein Bus kommt gleich. Ein anderes Mal vielleicht.“ Sie nahm ihre Sachen und verließ den Raum schweren Schrittes.

„Die Arme. Wie gebeugt sie geht. Ihr erster Tag … und dann so anstrengend“, sagte Lisa traurig.

Chong mimte ein Lachen. „Bei dem Haufen Zuckergelatine und künstlichen Vitaminen …“, gluckste er und verschluckte den Rest des Satzes. „Egal“, fuhr er fort: „Gehen wir!“

Four on Level 4

Подняться наверх