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Eine Vorlesung in Politischer Philosophie

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»Ist mehr direkte Demokratie die Lösung für den Vertrauensverlust der Bürger in das System?«, frage ich ins Auditorium, aus dem mir verständnislose bis gleichgültige Gesichter entgegenblicken. Ich warte, lasse die Stille bis zur Unerträglichkeit anschwellen, während mein Blick herausfordernd über die Bankreihen gleitet. »Sie sind der Professor, sagen Sie es uns«, kapituliert schließlich einer der Studenten.

»Das nächste Mal, wenn Sie das Gebäude betreten, schauen Sie einmal, was über dem Eingang steht, statt auf Ihre Smartphones. Einige von Ihnen werden überrascht sein, dort das Wort Universität zu sehen. Es impliziert, dass ich es als meine Pflicht erachte, Ihnen selbstständiges Denken und eigenständige Problemlösung beizubringen. Diejenigen, die sich aus dem Gymnasium verirrt haben, mögen bitte den Hörsaal verlassen.«

Für einige Sekunden herrscht ungläubiges Schweigen, dann wagt sich eine Studentin aus den mittleren Reihen vor: »Die grundlegende Bedeutung von Demokratie ist ja, dass die Macht vom Volk ausgeht. Dem wird mehr direkte Demokratie sicherlich besser gerecht als der Umweg über gewählte Volksvertreter.«

»Außerdem bezweifle ich, dass die Politiker wirklich unsere Interessen vertreten«, schaltet sich ihr Sitznachbar ein. Langsam erwachen die Studierenden aus ihrem Dämmerzustand, immer mehr Stimmen fallen in den zustimmenden Chor ein. Sie sind so berechenbar wie das Volumen eines Würfels.

»Es wird auch Zeit, sich von den ganzen aufgeblasenen und geldverschlingenden Institutionen zu verabschieden. Wozu brauchen wir einen Nationalrat und einen Bundesrat?«

»Alle Macht dem Volke? Sie sind also der Meinung, dass es eine gute Sache wäre, das Volk zu wichtigen Entscheidungen direkt zu befragen?«, folgere ich und ernte ein inbrünstiges »Ja«.

»Nehmen wir einmal an, wir lassen die Bevölkerung über folgende Fragen abstimmen: Sollen geistig Behinderte und drogensüchtige Frauen sterilisiert werden? Sollen in Seenot geratene Flüchtlingsboote Hilfe erhalten und in einen sicheren EU-Hafen gebracht werden?«

Stille.

«Entnehme ich Ihrem betretenen Schweigen, dass Sie sich unwohl fühlen, diese Entscheidung den Bürgern zu überlassen?”

»Na ja, es geht hier um fundamentale Menschenrechte«, versucht es eine Studentin.

»Sie sind also unsicher, ob die Mehrheit im Sinne der Menschenrechte, den Basiswerten unserer Zivilisation, entscheiden würde und meinen trotzdem, dass mehr direkte Demokratie eine gute Idee sei?«

»Ich vertraue darauf, dass die Gesellschaft moralisch richtig entscheiden würde«, ruft jemand trotzig aus den hinteren Reihen.

»Moralisch richtig, sehr schön. Schließlich beschäftigen wir uns in der Politischen Philosophie mit der Frage der Ethik von politischen Systemen. Dann kommen wir gleich zu unserem nächsten Beispiel. Stellen Sie sich vor, es gibt wieder einen Terroranschlag, bei dem dutzende Menschen getötet werden. Ein Islamist wird verhaftet, auf den Verdacht hin, einer der Drahtzieher im Hintergrund zu sein. Die Polizei vermutet, dass er Kontakt zu Personen an der Spitze der Terrorzelle hat, aber er leugnet alles. Eine Volksbefragung über die Legitimierung von Folter wird einberufen und medial kräftig von rechtspopulistischen Gruppierungen aufgeheizt. Was meinen Sie, wie wahrscheinlich es ist, dass das Völkerrecht hochgehalten wird?«

»Nur, weil Volksabstimmungen möglicherweise in Völker- und Menschenrechtsfragen gefährlich sind, heißt das noch lange nicht, dass ein Mehr an direkter Demokratie in anderen Bereichen eine schlechte Idee wäre.« Ich erkenne Markus Neumayer, der mir schon in einigen Seminaren als eines dieser seltenen Pflänzchen aufgefallen ist, die eine eigene Meinung äußern und für diese auch logisch konsistent argumentieren können.

»Diese Schlussfolgerung ist korrekt. Wenden wir uns somit Beispielen von wirtschaftspolitischen Fragestellungen zu.« Wir diskutieren darüber, dass die meisten Menschen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Umweltschutz stimmen würden. Wie würden sie aber über Importzölle, deren Höhe sich nach Sozial- und Umweltstandards in den Herstellungsländern richtet und die das Ende von billigen Klamotten, Schuhen, Lebensmitteln, etc. bedeuten würden, entscheiden? Und würden sie die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen solcher Zölle verstehen?

Der Brexit ist ebenfalls ein wunderbares Beispiel für neuzeitliches Demokratieversagen, das nicht nur eine wirtschaftliche Talfahrt, sondern, nach der Abspaltung Schottlands und Nordirlands, auch den Zerfall des Vereinigten Königreichs nach sich gezogen hat.

»Man könnte den Eindruck gewinnen, Sie hätten ein negatives Menschenbild, Herr Professor«, versucht Markus Neumayer mich zu provozieren.

Ich schenke dem Auditorium mein entwaffnendstes Lächeln: »Wahrscheinlich habe ich zu lange mit Studierenden zu tun gehabt. Aber Sie alle haben noch drei Semester, mich vom Gegenteil zu überzeugen.«

Gelächter. Meine Studenten mögen mich, schätzen die Kurzweiligkeit und Unkonventionalität meiner Lehrveranstaltungen, weshalb ich mit derartigen Kommentaren durchkomme.

Als Aufgabe verlange ich eine schriftliche Zusammenfassung der heutigen Erkenntnisse, inklusive einer daraus abgeleiteten persönlichen Meinung. Bei der Korrektur zeigt sich, dass alle die vordergründigen Schwachpunkte direkter Demokratie erfasst haben. Einfallslos zitieren Sie Platon, Nietzsche und Tocqueville, schreiben über die Diktatur von Mehrheiten, die sich über Minderheitsinteressen hinwegsetzen. Fehlentscheidungen aufgrund unvollständiger Informationen und mangelndem Verständnis, Populismus, kurze Wahlzyklen, Selbstinteressen, die kontraproduktiv dem Gemeinwohl wirken – all diese offensichtlichen Demokratie-Wehwehchen plappern sie folgsam nach. Wie erwartet kommen sie zu dem Schluss, dass es nicht ratsam sei, dem Volk mehr Entscheidungen zu überlassen. Die Kernproblematik unserer modernen Demokratie, die Politiker zum Führen zu bewegen, hat hingegen kein einziger meiner Hörer erfasst.

Nur Markus Neumayer tanzt wieder einmal aus der Reihe. In einem flammenden Plädoyer gesteht er zwar die Schwächen der Demokratie ein, betont jedoch mit einer Referenz auf Churchill, dass wir noch kein besseres System gefunden hätten.

Der Schluss, dass diese Schwächen ein Weniger an Demokratie rechtfertigen, ist absurd, genauso als würde man aus den Unzulänglichkeiten unseres Schulsystems eine Abschaffung der Schulpflicht oder die Sinnhaftigkeit von weniger Bildung ableiten.

Weiters argumentiert Neumayer, dass wir, anstatt die Demokratie in Frage zu stellen und einzuschränken, besser daran täten, die Gründe für ihr teilweises Versagen an der Wurzel auszumerzen. Er fordert, Bildungssystem und Informationsverbreitung so zu gestalten, dass nötiges Basiswissen und Fakten bei den Wählern ankommen sowie die Länge der Legislaturperioden zu überdenken.

Zumindest die letzten Punkte sind in meinem Sinne. Ich mag diesen Studenten. Er beweist Kampfgeist und Intelligenz. Einen wie ihn könnte ich gut gebrauchen. Jetzt gilt es, daran zu arbeiten, ihn für meinen Zweck einzuspannen. Mit dem Rotstift schreibe ich einen ausführlichen Kommentar zu seiner Hausarbeit, lobe eigenständiges Denken sowie schlüssige Argumentation und ergänze, dass ich mich freuen würde, ihn in meinen Wahlfach-Seminaren zu sehen.

Der Alpendiktator und Menschenfreund

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