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Studentenexperimente

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Markus Neumayer hat den Köder geschluckt und sitzt in meinen Seminaren Kritische Staats- und Gesellschaftstheorien und Vertiefende Analyse des Wählerverhaltens. In beiden Veranstaltungen bitte ich die Teilnehmer um ihr Einverständnis zu einem Experiment. Jedes Seminar wird in zwei Gruppen unterteilt, die je eine konkrete Aufgabenstellung zugewiesen bekommen. Ich instruiere die Gruppen, für die Dauer einer Woche unter sich zu bleiben, Medieneinfluss zu vermeiden und sich hauptsächlich auf die Lösung ihrer Problemstellung zu konzentrieren. Alle stimmen enthusiastisch zu.

Im ersten Seminar bekommen die beiden Gruppen vordergründig die Aufgabe, von mir zusammengestellte Zeitungsartikel nach unterschiedlichen sozialtheoretischen Meinungen zu durchforsten und diese zu kommentieren. Die Unterlagen habe ich mit Fotos von kopftuchtragenden Musliminnen gespickt. Im ersten Fall sind es Aufnahmen von Frauen in wütender, bedrohlicher Protesthaltung sowie alten Weibern, ganz in schwarz, wobei ich bewusst darauf achtete, dass die Frauen im Bild unattraktiv gemäß unserem gängigen Schönheitsideal sind. Die zweite Hälfte bekommt Dokumente, die mit Bildern von jungen, hübschen und lächelnden Musliminnen mit bunten, modischen Hijabs versehen sind.

Nach Ablauf einer Woche präsentieren die Studierenden ihre Ergebnisse. Danach bitte ich unangekündigt um eine anonyme, nur nach Gruppen identifizierte Abstimmung zum Thema Kopftuchverbot. Wie erwartet spricht sich die erste Gruppe überwiegend dafür aus, während die zweite Gruppe eindeutig dagegen ist. Als ich mein Experiment auflöse und den Teilnehmern die Manipulierbarkeit von Wählern vor Augen führe, schwanken ihre Reaktion zwischen Erstaunen, Betroffenheit und Scham.

In der Lehrveranstaltung zur Analyse von Wählerverhalten bekommen die Teilnehmer die Aufgabe, das Thema Studiengebühren zu diskutieren. Ganz offen fordere ich eine Gruppe auf, für deren Abschaffung und die andere für eine saftige Erhöhung zu argumentieren, und statte beide mit dem entsprechenden Medienmaterial aus. Jede Fraktion hat eine Woche, um fundierte Begründungen für ihre Position auszuarbeiten. Zusätzlich veranstalte ich mit jeder Gruppe einmal täglich eine Diskussionsrunde. Dort präsentiere ich die vorgegebene Meinung als meine eigene und heize die Debatte mit emotionalen Argumenten auf. Der Trick dabei: ein so direkter Bezug wie möglich zur Situation der Studierenden, um persönliche Betroffenheit zu schaffen.

»Seminare wie dieses und Betreuung in Kleingruppen werden ohne eine erhebliche Anhebung der Studiengebühren bald nicht mehr finanzierbar sein. Meiner Einschätzung nach wird die Qualität von Lehre und Forschung massiv leiden und die Anzahl von Bummelstudenten, die Seminarplätze der Ehrgeizigen blockieren, weiter ansteigen. Am Ende haben Sie dann zwar ein Studium gratis, aber auch eine Ausbildung, die immer weniger wert wird, weil ihr Standard gesunken ist und gleichzeitig ein höherer Anteil der Bevölkerung einen akademischen Titel aufweist. Ich bin absolut dafür, Talentierte aus sozial schwachen Schichten zu unterstützen, aber das wäre sinnvoller über Begabtenstipendien zu regeln anstatt durch ein Gießkannenprinzip. Genau diese leistungsfeindlichen Sozigedanken sind schuld, dass unsere Universitäten im internationalen Vergleich abrutschen und Ihr Wert am globalen Arbeitsmarkt sinkt.« Eifriges Kopfnicken begleitet meine Ausführungen.

In der Diskussionsrunde zur Abschaffung von Studiengebühren gebe ich zu bedenken, dass diese in den USA auch nicht verhindert hätten, dass amerikanische Universitäten in internationalen Rankings abgestürzt seien. Abgesehen von den Ivies stünden Absolventen mit einer mediokren Ausbildung und einem Berg Schulden da. Ich warne vor einer Elite, die schamlos das Vorrecht höherer Bildung für sich reservieren will, steigere die Emotionalität meiner Argumente mit jedem Treffen. »Sie alle kennen sicher Studienkollegen aus sozial schwachen Verhältnissen, auf deren Gesellschaft wir dann verzichten müssten. Und einige von Ihnen würden das Privileg, hier zu sein, wahrscheinlich mit einer saftigen Schuldenbürde bezahlen. Bildung muss ein Grundrecht für alle bleiben.«

Wieder ist es Markus Neumayer, der entgegenhält: »Aber könnte man das nicht durch Studienbeihilfen für Bedürftige abfangen?«

»Selbstverständlich«, kontere ich, »das Problem ist nur, dass diese damit als Bittsteller stigmatisiert werden und sich mit bürokratischen Formalitäten und Hürden herumschlagen müssen, während Sie sich voll auf Ihr Studium konzentrieren können.« Zumindest alle anderen habe ich damit hundertprozentig auf meiner Seite.

Nach Ablauf der Wochenfrist findet die Abschlussdebatte zwischen den beiden Fraktionen statt. Da sie sich in dieser Zeit ausschließlich auf ihre eigene Argumentationslinie und deren Verteidigung konzentriert haben, dauert es nicht lange, bis sie sich in die Haare geraten und einander wechselseitig als leistungsfeindliche Sozialschmarotzer und elitäre Egoisten beschimpfen. Die Fronten verhärten sich, beide Parteien vertreten zunehmend extremere Standpunkte. Blind und taub gegenüber Argumenten der gegnerischen Partei liefern sie einander Schreiduelle, in denen einzig die Lautstärke zählt. Von Zuhören, Verständnis- oder Kompromissversuchen keine Spur.

Auch hier enthülle ich die geglückte Gehirnwäsche und ernte geschockte Stille.

»Wie können wir uns gegen derartige politische und ideologische Indoktrination schützen?«, spricht ein Student aus, was allen durch den Kopf geht.

»Schwierig«, antworte ich, »wir alle sind in unseren Entscheidungen wesentlich irrationaler und fremdbestimmter, als uns bewusst ist. Das Einzige, was ich Ihnen raten kann, ist: Lesen Sie unterschiedliche Zeitungen und Medien, linke, rechte, unabhängige, und setzen Sie sich mit konträren Meinungen und Argumenten auseinander. Meiden Sie Social Media-Foren, in denen Sie sich nur mit Gleichgesinnten umgeben. Am allerwichtigsten aber: Checken Sie die Fakten und glauben Sie nicht blind alles, was Ihnen Politiker, Freunde und Bekannte oder Wikipedia auftischen.« Nach einer bewussten Kunstpause ergänze ich mit einem Augenzwinkern: »Auch bei Politikwissenschaftsprofessoren wäre ich an Ihrer Stelle vorsichtig.«

Das Experiment ist damit beendet. Die Verifizierung meiner Hypothese war zu erwarten. Nun habe ich die Bestätigung aus erster Hand, wie einfach Manipulation, selbst bei unserer sogenannten Bildungselite, gelingt. Ich bin an dem Punkt angelangt, an dem ich eine Entscheidung nicht länger vor mir herschieben kann. Zeit zu handeln. Gespannt bin ich auf Camilles Reaktion. Sie zu überzeugen, wird definitiv keine leichte Übung. Aber wie heißt es so schön: Je größer die Herausforderung, desto lohnender der Sieg.

Der Alpendiktator und Menschenfreund

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