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Tödliches Paradies

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»Wach auf, Mädchen.«

War das Papa gewesen – und ich zurück in der Menschenwelt? Mein Herz machte einen Satz, weil endlich wieder jemand mit mir gesprochen und mich damit sofort aufgeweckt hatte, doch seine Stimme klang so leise und undeutlich, dass ich fürchtete, nur geträumt zu haben. Eingerollt blieb ich auf dem weichen, warmen Boden liegen, der sich fast anfühlte wie ein Bett, so sanft gab das Moos unter meinem Körper nach.

»Papa?«, fragte ich flüsternd, ohne die Augen zu öffnen.

Statt einer Antwort berührte etwas Kühles meinen Ellenbogen, das sich anfühlte wie ein glatt polierter Stein. Oh nein, schon wieder ein Stein. Kein gutes Zeichen. Langsam nahm ich die Hände von meinem Gesicht und musste einige Male blinzeln, bis meine tränenverkrusteten Wimpern sich voneinander lösten und ich etwas sehen konnte.

Vor mir kniete der Nebeljunge und blickte argwöhnisch auf mich herab. In der Hand hielt er einen dunkelblau-weiß gemusterten, kugelrunden Kristall, den er aus dem Kreis um mich herum entfernt haben musste.

»Hast du gerade mit mir gesprochen?«, brachte ich krächzend hervor und richtete mich unter Schmerzen auf.

Er nickte nur, weder freundlich noch unfreundlich. Doch auf seinen Lippen lag nicht einmal der Hauch eines Lächelns. Er konnte mich immer noch nicht leiden.

»Steh auf.« Harsch zeigte er auf die Lücke im Kreis. »Dann komm mit mir.«

Seine Stimme klang nach wie vor ungewöhnlich leise und als würde sie von weither kommen, und ich sah, dass es ihn Mühe kostete, seine Worte zu formen. Doch die Betonung und Aussprache waren perfekt.

»Ich … ich bin also wieder frei?«

Der Junge schaute mich forschend an, wobei seine Augen sich so tief in meine versenkten, dass mir heiß wurde. »Nein. Nein, bist du nicht.«

Ich hätte gar nicht erst fragen sollen. Der Kreis war durchbrochen, und jede Sekunde, die ich länger in ihm blieb, war eine zu viel. Hastig sprang ich auf und wollte davonstürzen, doch der Junge war schneller. Ich hatte den Ausgang noch nicht erreicht, da hatte er mich mit einer einzigen Berührung seiner Hand gestoppt.

»Nicht weglaufen. Mitkommen.« Drohend hielt er den Stein vor meine Augen, als wollte er mir sagen, dass er mich damit jede Sekunde außer Gefecht setzen konnte. »Du … hast … Hunger. Hunger?«, vergewisserte er sich, ohne den Stein herunterzunehmen, und deutete mit der anderen Hand auf seinen Bauch. Noch immer sah er aus, als müsste er um jedes Wort kämpfen und hätte beim Sprechen Schmerzen in der Kehle.

»Ja. Großen Hunger.«

»Dann komm mit. Führe dich.«

Entschieden drehte er sich um und griff dabei nach meinem Handgelenk. Obwohl ich seine Finger kaum auf meiner Haut spürte, lag eine Kraft in seiner Berührung, die jeden Widerstand zwecklos machte. Ich folgte ihm wie ein Entenküken seiner Mama, meine Augen fest auf den blau-weißen Stein gerichtet, den er locker in seiner freien Hand hielt. Sogar den Rhythmus meiner Schritte passte ich seinen an, doch er lief so schwerelos und leichtfüßig über das Moos, das ich mir bald vorkam wie ein fettes, ungeschicktes Trampeltier. Außerdem hielt er immer wieder grundlos an, wobei ich jedes Mal gegen ihn prallte, weil ich seine plötzlichen Stopps nicht hatte kommen sehen.

»Hey!«, knurrte ich warnend, als ich schon wieder fast in seinen Rücken gefallen wäre. »Was soll das? Und wieso darf ich nicht allein laufen?«

Sein Blick war so streng und strafend, dass ich sofort das Gefühl hatte, etwas Fürchterliches verbrochen zu haben. Dabei war er derjenige, der mich dauernd zum Stolpern brachte.

»Hier.« Mit dem ausgestreckten Arm wies er auf die dicht wachsenden Farne und Blumen vor uns. Ja, die hatte ich vorhin auch durchqueren müssen, na und? »Aufpassen.«

»Wieso aufpassen? Die tun uns nichts. Sind nur Pflanzen.«

Jetzt war sein Blick nicht nur strafend, sondern überdies fassungslos. »Sie leben!«

»Ja, ist schon klar, Pflanzen leben, aber …« Ich verstummte verwundert, als der Junge sich niederkniete und einem der vorderen Farne sanft über seine eingeknickten Wedel strich. Knisternd glätteten sie sich, und ich glaubte die Pflanze dabei zart seufzen zu hören.

War ich das gewesen? Hatte ich den Farn zerknickt, als ich vorhin hindurchgelaufen war?

Beklommen sah ich dabei zu, wie der Junge einige andere Blätter und Blumen glatt strich, um anschließend den Kopf vor ihnen zu beugen und still zu verharren, als würde er ihnen zuhören. Sekunden verstrichen, in denen nichts passierte.

»Was machst du?«, flüsterte ich angespannt. »Wolltest du mir nicht etwas zu essen organisieren?«

Langsam drehte er sich zu mir um, in seinen Augen noch immer leise Fassungslosigkeit, und forderte mich stumm auf, mich zu ihm auf das Moos zu knien.

»Siehst du sie?«, fragte er mich rau, nachdem ich neben ihm Platz genommen hatte. »Nein, oder?«

»Wen? Die Pflanzen? Klar sehe ich die.«

Kopfschüttelnd streckte der Junge seine rechte Hand aus und drehte vorsichtig eines der großen, fleischigen Blätter, die zu einer dunkelrot blühenden Blume gehörten. »Das hier.«

»Was das?« Waren seine Fragen eine abgedrehte Variante von »Ich sehe was, was du nicht siehst«, oder wollte er mich verarschen?

»Es schläft.«

»Was es?« Ich kam mir langsam vor wie mein eigener Papagei. »Ich sehe nur ein Blatt. Da ist ein Blatt – und dieses Blatt schläft? Ist es das, was du mir sagen willst? Und dass wir warten sollen, bis alle Pflanzen wieder wach sind?«

»Moment.« Der Junge schloss die Augen, atmete tief aus und öffnete sie dann wieder, um seine blaugrün strahlende Iris auf meine Stirn zu richten. Sofort spürte ich einen leichten Schmerz zwischen meinen Augenbrauen.

»Was machst du da? Au!« Der Schmerz hatte sich in ein Stechen verwandelt, ließ aber sofort wieder nach, und die Miene des Jungen hellte sich ein wenig auf, als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte.

»Hmmm«, machte er zögernd. »Elfen?«

»Elfen?« Ja, ich war ein Papagei geworden. Und dieses Gespräch machte mich langsam wahnsinnig.

»So nennt ihr sie. Oder? Elfen?«

Oh nein. Er wollte mir jetzt doch nicht weismachen, dass in dieser Blume eine Elfe lag und schlief.

»In Büchern und Geschichten und Filmen. Ja, da kommen Elfen vor. Aber die gibt es nicht wirklich. Ehrlich. Selbst in Island hab ich keine gesehen, und die haben sogar eine Elfenbeauftragte.«

Wieder schüttelte der Junge den Kopf. Er formte seine linke Hand zu einer Kuhle, die er unter das Blatt hielt, und machte mit der anderen eine Bewegung, als würde er die (extrem unsichtbare) Elfe liebevoll daraufschieben.

»Ist echt. Elfe.«

»Eine Luftelfe. Ja, vielleicht. Aus Luft und in deinem Kopf. Seid ihr hier eigentlich alle so bekloppt wie du?«

»Bekloppt.« Wieder begann die Stelle zwischen meinen Augenbrauen zu schmerzen. Er starrte mich genauso an wie eben schon … Guckte er etwa in meinen Kopf?

»Lass das, okay?«

»Muss es tun, um mit dir sprechen zu können. Nein, wir sind nicht bekloppt.« Erschöpft schloss er seine Augen. Das Reden schien ihn anzustrengen. »Schlafende Elfe. Warte kurz.« Er ließ den Stein zwischen seine Finger gleiten und drückte ihn kurz gegen meine Stirn, wobei er gleichzeitig die andere Hand mit der Luftelfe vor meine Augen hielt.

»Scheiße, was ist das denn?« Ich zuckte so heftig zurück, dass mein Nacken knackte, doch das Bild vor meinen Augen hatte sich schon wieder aufgelöst. Trotzdem hätte ich es nachzeichnen können, so deutlich hatte sich mir eingeprägt, was ich für einen Sekundenbruchteil gesehen hatte: ein winziges, zartes Wesen mit transparenten Flügeln, grün schillernder Haut und einem libellenartigen Leib, das sich vertrauensvoll in die Handfläche des Jungen schmiegte und schlief. Seine Wimpern waren so lang gewesen, dass sie bis zu seinem spitzen Kinn gereicht hatten, und ich konnte unmöglich sagen, ob es männlich oder weiblich gewesen war. Aber mehr Elfe hatte ich ihn meinem Leben noch nicht zu Gesicht bekommen. Es gab sie wahrhaftig!

»In jeder Pflanze lebt eine. Halten Pflanzen am Leben. Okay? Fuß darauf, kaputt.«

Oh mein Gott. Ich hatte vorhin wahrscheinlich Hunderte dieser niedlichen Minielfen getötet, als ich durch den Farnwald marschiert war. Vor Schreck traten mir fast die Tränen in die Augen.

»Ich sehe die nicht! Ich wusste nicht, dass sie da sind, ehrlich …« Verteidigend hob ich meine Hände, während der Junge die Elfe behutsam in ihrer Blume absetzte, wobei das Blatt minimal nachgab. Hätte ich die Elfe nicht gesehen, hätte ich geglaubt, es sei nur der Wind gewesen oder Zufall. »Wie können wir da denn jetzt überhaupt durchlaufen? Ich muss wirklich etwas essen.«

»Ganz einfach.« Der Junge richtete sich wieder auf. »Wir bitten um Erlaubnis.«

»Alles klar«, erwiderte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, was er meinte, und er mir immer noch reichlich irre vorkam.

Doch dieses Mal unterbrach ich ihn nicht, als er seinen Kopf senkte, die Augen schloss und in stumme Zwiesprache mit den Pflanzen trat. Nach ein paar Sekunden – oder waren es Minuten? – bewegten sich die Blätter einiger Farne und Blumen zur Seite, sodass ein winziger Pfad vor uns entstand – gerade breit genug für unsere Füße.

»Jetzt.«

Wieder hielt ich mich dicht hinter ihm, achtete aber auf jede seiner Bewegungen, wobei ich versuchte, meine Füße exakt dorthin zu setzen, wo seine gewesen waren. Denn im Gegensatz zu mir sah er die Elfen, und ganz sicher würde er niemals eine von ihnen zertrampeln, während an meinen Sohlen womöglich schon das unsichtbare Blut ganzer Elfenfamilien klebte. Ich durfte nicht darüber nachdenken, sonst würde ich noch weinend zusammenbrechen – und dabei weiteren Elfen den sicheren Tod bringen.

Erst als wir wieder Moos unter unseren Sohlen hatten, beruhigte ich mich ein wenig, blieb aber von nun an so aufmerksam, dass ich dem Jungen nicht mehr in den Rücken zu fallen drohte. Wann immer wir in einen kleinen Wald, eine Farnwiese oder an eine Wasserstelle kamen, hielt er erst an, um die Pflanzen und Tiere respektvoll um Durchlass zu bitten, und selbst dann setzte er seine Füße so achtsam auf den Boden, als hätte er selbst überhaupt kein Gewicht.

Während wir liefen, gesellten sich immer mehr Tiere zu ihm. Schmetterlinge ließen sich auf seinem Haar nieder, Vögel hüpften neben ihm her, und als wir das Wasser passierten, sah ich, wie sich ein türkisfarbenes Seepferdchen auf seinen Fußrücken setzte und dort blieb, bis wir das Ufer erreicht hatten. Seine Krähe folgte uns derweil im Abstand von wenigen Metern, und wann immer ich mich zu ihr umdrehte, hatte sie ihre blauen Augen fest auf mich gerichtet.

Ich wollte den Jungen gerade fragen, wie lange wir noch gehen mussten, als ich die Landschaft vage wiedererkannte und der Baum mit den schreienden Früchten vor uns auftauchte.

»Da. Essen.«

»Oh nein …« Mutlos blieb ich stehen. »Hier war ich schon. Das kannst du vergessen, diese Frucht schreit, wenn man sie pflücken will.«

Wenn der Junge unsichtbare Elfen sah, hätte er das doch längst wissen müssen, oder?

Zweifelnd sah er mich an. »Du hast sie gehört? Du siehst die Wesen in den Pflanzen nicht, aber hörst die Frucht schreien?«

»Ja. Ich dachte erst, ich irre mich, aber ich hab sie gehört. Deshalb kann ich sie nicht pflücken, das geht nicht.« Nicht nachdem ich so viele Elfen gekillt hatte. Allerdings wollte ich immer noch nicht sterben. Eine echte Zwickmühle.

Der Junge musterte mich nachdenklich. Dieses Mal richteten sich seine gleißenden Augen jedoch nicht auf meine Stirn, sondern wanderten um meinen Körper herum, als hätte ich noch eine zweite Schicht über meiner Haut, die er nun gründlich begutachtete.

»Deine Lebensenergie schwindet.«

Ach, das hatte er aber nett formuliert.

»Ja, richtig. Wenn ich nicht bald etwas esse, sterbe ich. Das hab ich dir doch vorhin schon gesagt! Habt ihr nicht etwas anderes als diese Frucht?« Dabei roch sie noch immer so lecker, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich fürchtete nur, dass sie allein nicht ausreichte.

Anstatt zu antworten, trat der Junge auf den Baum zu, breitete seine Arme aus und legte seine Hände, Brust und Stirn andachtsvoll auf die von winzigen Kristallen durchwachsene Rinde. Raschelnd begannen sich die dunkelgrünen Blätter der Krone zu bewegen und strichen dabei durch sein Haar und über seinen Nacken. Mit einem Knirschen, das mir durch Mark und Bein ging, senkte sich der Ast, an dem die Frucht wuchs. Sie hing jetzt so tief, dass sie beinahe die Wange des Jungen berührte.

Noch in der Umarmung mit dem Baum hob er seine rechte Hand, und nach einigen Sekunden löste sich die Frucht ohne einen einzigen Schrei von ihrem Stängel, um direkt in seine Handfläche zu gleiten. Das Rascheln der Blätter verstummte. Erst als der Baum vollkommen still geworden war, nahm der Junge seine linke Hand von seiner Rinde, kniete sich vor ihn, schmiegte die Stirn an seine riesigen Wurzeln und bewegte sich rückwärts von ihm weg.

Als er sich wieder zu mir herumdrehte, erschrak ich. Sein Blick war leer und traurig geworden und seine Nase blass, doch er streckte mir auffordernd die Frucht entgegen.

»Iss.«

»Sie … Ich glaube, sie wollte nicht … Hast du sie etwa umgebracht?«

»Nein. Ich habe den Baum gebeten, seine Frucht loszulassen, um ein Leben zu bewahren. Sie hat sich freiwillig von ihm getrennt und …« Seufzend drückte er sie mir in die Hand. »Ach, nun nimm schon.«

Freiwillig getrennt? Also stimmte es, dass die Früchte dieser Welt Gefühle hatten und meine hier gerade absichtlich gestorben war, damit ich nicht verhungerte? Einen kurzen Moment lang hatte ich ein miserables Gewissen, doch dann gewann mein Überlebensinstinkt. Außerdem konnten wir sie schlecht wieder an den Baum kleben. Mit geschlossenen Augen bohrte ich meine Zähne durch die samtige Schale und stöhnte erlöst auf, sobald ich die belebende Süße des Fruchtfleisches auf der Zunge spürte. So etwas Leckeres hatte ich nie zuvor gegessen … ich musste mehr davon bekommen, viel, viel mehr …

»Stopp.« Rasch beugte der Junge sich vor und riss mir die Frucht aus der Hand. »Es ist sonst zu stark für dich.«

»Ist es nicht, ich … oh.«

Verwundert hielt ich inne. Jetzt verstand ich, was er meinte. Obwohl ich nur einen kleinen Bissen zu mir genommen hatte, fühlte sich mein Bauch an, als hätte ich zwei Cheeseburger und eine große Portion Pommes verschlungen – satt und wohlig. Gleichzeitig fingen meine Arme und Beine an, kühl zu prickeln, mein Herz schlug schneller, und meine Kopfschmerzen lösten sich in Sekundenschnelle auf. Dieser Herzapfel musste eine echte Wunderfrucht sein!

»He, ich meine das ernst! Finger weg!« Mit einer geschmeidigen Bewegung führte der Junge die Frucht hinter seinen Rücken. »Das ist unser Heilungsapfel. Der Baum bringt alle drei Jahre einen einzigen hervor, und der ist eigentlich dafür da, kranken Schwestern und Brüdern zu helfen.«

»Und ich bin keine Schwester, was?«, erwiderte ich.

»Ganz bestimmt nicht.« Der Junge verzog abschätzig seinen Mund. »Du bist ein Menschenmädchen.«

»Ich weiß. Wieso hast du mir dann trotzdem etwas zu essen gegeben? Wäre es dir nicht lieber, ich wäre tot?« Denn so sah er mich die ganze Zeit an: als würde er es bereuen, mir zu helfen, und sich inständig wünschen, dass ich verschwand. Und zwar endgültig.

»Schon. Aber ich bin der Sohn des Heilers«, nuschelte er undeutlich. »Bin verpflichtet zu helfen, wenn ein Wesen in Not ist. Hat nichts mit dir zu tun.«

»Hast du denn auch einen Namen, Sohn des Heilers?«

»Nalu«, erwiderte er so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. »Ich bin Nalu.«

»Und ich Maja. Wie die Biene, die … die du nicht kennst«, schloss ich wegwerfend, als ich seinen fragenden Blick bemerkte. »Warum hasst du mich so? Und wieso habt ihr mich eingesperrt? Ich tu euch doch nichts.«

Nalu lachte höhnisch auf, wobei sein Gesicht sich zu einer Grimasse verzerrte, und senkte den Kopf, als schämte er sich für seinen Gefühlsausbruch. »Ihr Menschen tut immer irgendetwas. Und macht alles kaputt.«

»Ich hab gar nichts kaputt gemacht«, widersprach ich kühl, obwohl das nicht wahr war. Der Gedanke an die zertrampelten Elfen verfolgte mich immer noch. »Du dagegen hast versucht, mich im Sumpf zu ertränken, und deine … deine Brüder und Schwestern wollten mich in einem Steinkreis verhungern lassen. Also, wenn hier jemand etwas kaputt macht, dann seid ihr das. Nämlich mich.«

»So schnell stirbst du nicht.« Nalu beäugte mich kritisch. »Siehst wieder ziemlich munter aus. Außerdem wollten sie dich nicht für immer einsperren, sondern nur so lange, bis sie sich darüber klar geworden sind, was mit dir passieren soll.«

»Mit mir?« Unbehaglich zog ich die Schultern hoch.

»Ja, mit dir.« Der Vorwurf in Nalus weicher, dunkler Stimme war nicht zu überhören. »Denn du darfst hier nicht sein.«

»Ich wollte auch nicht hierher. Und wo wir gerade beim Thema sind, was ist das eigentlich für ein … ein Land … oder eine Welt?«

Nalu zögerte, gab sich dann aber einen Ruck. »Amuria.«

Dieses Wort hatte ich noch nie gehört, aber es löste sofort angenehm warme Wellen in meinem Bauch aus. Ich fand es wunderschön, und es passte zu all dem, was ich bisher in dieser farbenfrohen Natur hatte entdecken dürfen. Nur Nalu und seinen komischen Brüdern und Schwestern traute ich nicht – und eigentlich hielt ich es auch nicht für möglich, dass es unter der Erdoberfläche eine zweite Welt gab, die die Menschen noch nicht entdeckt hatten.

»Amuria …«, wiederholte ich nachdenklich, und wieder wurde mein Bauch warm. »Kenne ich nicht.«

»Ja. Amuria. Der Himmel unter der Erde.«

Der Himmel unter der Erde. Also hatte ich gar nicht so verkehrt gelegen, als ich überlegt hatte, ob ich tot und im Himmel gelandet wäre. »Was seid ihr denn? Keine Menschen, oder? Und wieso siehst du anders aus als deine Brüder und Schwestern und sprichst meine Sprache?«

Nalu sah mich an, als hätte ich ihn zutiefst beleidigt. Doch es war nun mal eine Tatsache, dass seine Haut dunkler als die der anderen war und er im Vergleich zu ihnen insgesamt griffiger und fester wirkte.

»Neugierde«, murmelte er verächtlich. »Das ist es, womit ihr alles zerstört. Weil ihr es nicht ertragen könnt, Dinge nicht zu wissen. Ihr müsst überall eure Nase hineinstecken. Und ich rede schon wie einer von euch …«

»Das tust du die ganze Zeit«, stellte ich nüchtern fest. »Du vergisst nur manchmal das Ich am Satzanfang.«

»Fällt mir schwer«, entgegnete Nalu schlecht gelaunt. »Ist in unserem Dasein nicht so wichtig wie bei euch, das Ich. Für uns zählt das Wir.«

»Wieso kannst du eigentlich meine Sprache sprechen?«, ignorierte ich seinen erneuten Seitenhieb.

»Hab sie aus deinem Kopf. Konnte die Heulerei nicht mehr ertragen.«

»Aus meinem Kopf?« Das klang so verrückt, dass ich seine Beleidigung wegen meines Tränenausbruchs gleich wieder vergaß, doch es erklärte, warum er mir immer zwischen meine Brauen starrte, wenn er nach einem passenden Wort suchte.

»Ja.« Gelangweilt sah er mir ins Gesicht. »Da sind ja alle Informationen drin.« Er deutete auf meine Stirn.

»Aha.« Ich verstand noch immer nicht genau, wie ihm das gelungen war. Er musste hellsehen können und in der Lage sein, sich sekundenschnell einzuprägen und nachzuahmen, was er in meinem Kopf so fand. »Hast du dann vielleicht auch die Information gefunden, dass ich zurück nach Hause will?«

Nalu antwortete nicht und sah mich auch nicht an.

»Du hast was gegen Menschen, ja?«, bohrte ich weiter. »Ich sag es noch mal: Du siehst fast so aus wie einer, wenn deine Augen nicht so ätzend grell wären.« Sie waren nicht ätzend und auch nicht grell. Ich musste dauernd hineinschauen, so sehr faszinierten sie mich. Aber lieber hätte ich freiwillig weiter gehungert, als ihm das zu sagen. »Warum ist das so?«

»Weil ich zu lange oben war!«, herrschte Nalu mich gereizt an. »Denn da war ein Menschenmädchen, das unbedingt in den Nebel reinlaufen wollte, ganz egal, wie dicht und gefährlich er war … Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

»Du hast schon so ausgesehen, als ich dich entdeckt habe. Oben?«, fügte ich fragend hinzu, und Nalu nickte.

Also stimmte es. Es gab ein Oben und ein Unten. Und ich war im Unten gelandet und wusste den Weg zurück nicht mehr.

»Ja, okay, vielleicht ein bisschen.« Seufzend fuhr sich Nalu durch seine glänzenden, dichten Haare. »Aber ich hab vorher niemals einen Menschen durchs Portalloch fallen lassen.«

Portalloch? Mein Kopf war überfordert, ich bekam die neuen Informationen nicht mehr sortiert. Trotzdem musste ich weiterfragen.

»Du bist also öfter oben bei uns Menschen?«

»Nur wenn ich muss und ein Mensch meinem Portalloch zu nahe kommt. Ich bin Nebelhüter, weißt du?« Nein, wusste ich nicht. Auch dieses Wort hatte ich noch nie gehört, doch ich forderte ihn nickend auf weiterzusprechen. »Aber es war noch nie jemand so eigensinnig wie du und ist in den Nebel hineingelaufen, anstatt ihm auszuweichen. Und das schon zum zweiten Mal.«

»Also erinnere ich mich richtig«, sagte ich und begann trotz der Wärme zu frösteln. »Ich war schon mal hier unten. Als kleines Kind.«

»Ja.« Nalu hatte seine langen schwarzen Wimpern gesenkt, und sein Mund war nur noch ein Strich. »Wir haben dich an deinem Mal erkannt. Und nun kann es sein, dass ich verbannt werde … und … Moment.« Ohne die Augen zu öffnen, richtete er sich kerzengerade auf. »Sie kommen wieder. Schnell!«

Ohne zu erklären, was er meinte, schnappte er sich meine Hand und führte mich in gemächlichem Tempo zurück zu der Lichtung. Wenn dieser Schleichgang für ihn schnell war, bewegte er sich sonst vermutlich wie ein Faultier. Auch jetzt bat er die Pflanzen und Tiere höflich um Erlaubnis, weitergehen zu dürfen, sobald die Landschaft sich veränderte, und in meinem Zeitgefühl dauerte es Stunden, bis wir den geöffneten Steinkreis erreicht hatten.

»Was passiert denn jetzt?«, fragte ich Nalu gedämpft. Mit einem Stupser seines Zeigefingers schob er mich ins Rund der Kristalle zurück, was sich anfühlte, als wäre ich niemals fort gewesen. »Ich muss wissen, was die mit mir vorhaben!«

Bisher hatte ich kaum etwas von dem verstanden, was er mir erzählt hatte. Ich wusste nur, dass es eine andere, verborgene Welt unterhalb der Erdoberfläche gab, in die ich gefallen war, durch ein Portalloch, das er bewachte, und dass … dass er deshalb verbannt werden würde? Was seine Brüder und Schwestern mit mir vorhatten, lag jedoch völlig im Dunkeln.

»Ich weiß es nicht. Das entscheidet der Rat. Und der wird gleich da sein.«

»Die wissen nicht, dass du mir etwas zu essen gegeben hast, oder? Kriegen wir jetzt Ärger?«

Wieder verzichtete Nalu auf eine Antwort. Stattdessen vollendete er den Kreis mit dem blau-weißen Stein, sodass ich erneut gefangen war, und zog sich samt seiner Krähe auf seinen Felsen zurück. Kaum hatte er sich hingesetzt, traten die vier Männer und Frauen aus dem Wald und näherten sich der Lichtung. Doch sie kamen nicht zu mir, sondern begannen einen neuen Lichtaustausch mit Nalu. Die Kreise konnte ich nur noch erahnen, als hätte die Frucht meine Sinne gedämpft.

Dafür sah ich jedoch etwas anderes – und ich täuschte mich nicht. Nalus Haut war noch ein bisschen dunkler, fester und dichter geworden, ein auffälliger Kontrast zu den schillernden, strahlenden Körpern der Erwachsenen. Es stimmte also, was er behauptete. Kontakt mit Menschen veränderte die Amurier, und so, wie Nalu sich benahm, war das für sie nichts Gutes.

Sie mussten ihm ansehen, dass er Zeit mit mir verbracht hatte, und plötzlich hatte ich Angst, dass sie nicht ihn dafür bestrafen würden, sondern mich.

Amuria

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