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Hungersnöte

»Das ist jetzt nicht mehr lustig«, flüsterte ich mit bebender Stimme, zog meine Hand aber wieder zurück. Ich war den Tränen nah und kurz davor, mich vor Schwäche auf den Boden fallen zu lassen und laut loszuheulen wie ein kleines Kind, das nicht bekam, was es wollte.

Aber genau so war es. Ich brauchte dringend etwas zu essen, und direkt vor mir baumelte eine dunkelrote, pralle Frucht an einem Ast, die aussah wie ein herzförmiger Apfel mit samtiger Haut. Ihr milder, verlockender Duft kitzelte meine Nase und ließ das Wasser in meinem Mund zusammenlaufen, doch sobald ich sie umgriff und an ihr zog, begann der Ast zu zittern, und die Frucht schrie verängstigt auf, als wollte ich sie töten. Was ja gewissermaßen stimmte. Ich wollte sie essen, denn sonst würde ich sterben. Einer von uns würde draufgehen. So oder so.

Beim ersten Versuch hatte ich noch geglaubt, mich zu irren. Ich hatte mir gesagt, dass ein Windstoß den Ast hatte erzittern lassen und ich mir das hauchzarte Schreien eingebildet hatte, weil meine Sinne vor lauter Hunger schon ganz durcheinander waren. Ich nahm dieses Schreien außerdem mitten in meinem Kopf wahr und nicht, als würde es aus der Frucht kommen. Was noch schräger gewesen wäre, denn Obst konnte nicht schreien. Zumindest nicht das Obst, das ich kannte. Es lag stumm in einer Schüssel und fing irgendwann an zu gammeln, weil Mama, Papa und ich vergaßen, es aufzuessen. Ich hätte jeden anderen, der behauptet hätte, Obst könne Geräusche von sich geben, für verrückt erklärt.

Doch beim dritten Versuch musste ich einsehen, dass dieser Herzapfel jedes Mal zutiefst erschrak, wenn ich an ihm zog, und mir kam es grausam vor, in ihn hineinzubeißen, während er noch am Ast hing. Wer wusste schon, was er dann für Geräusche von sich gab? Offenbar war er nicht reif genug, um gegessen zu werden, und ich hatte bereits den Boden um den Stamm herum nach heruntergefallenen Früchten abgesucht und keine einzige gefunden.

Dafür hatte ich winzige, bläulich glimmende Kristalle entdeckt, die zwischen den Wurzeln inmitten des Grases aus dem Boden wuchsen. Die Rinde des Baumes war ebenfalls von kleinsten Glitzersteinchen durchsetzt, die schillernd das Licht einfingen, von dem ich noch immer nicht herausgefunden hatte, woher es kam. Bis jetzt hatte ich keine Sonne sichten können, obwohl ich das Gefühl hatte, unentwegt angestrahlt zu werden. Wenn ich mich nicht im Schutz der Bäume, Sträucher, Palmen und Farne bewegte, wurde das Licht sogar so grell, dass ich kaum nach oben schauen konnte. Glücklicherweise gab es unzählige Gewächse mit riesigen Blättern, Blüten und Wedeln und dazwischen Bäume, deren dichte Kronen wie ein festes Dach waren, sodass ich regelmäßig ein schattiges Plätzchen fand, in dessen angenehmem Dämmergrün meine Augen sich ausruhen konnten.

Ich war das viele helle Licht dieser fantastischen Welt nicht gewohnt, so glücklich ich auch war, das Grau der Sümpfe verlassen zu haben. Anfangs hatte ich mich kaum sattsehen können an den zahlreichen Regenbogen, die sich über dem unendlichen Netz aus Bächen, Quellen, Tümpeln, Seen und Wasserfällen spannten und zum Greifen nahe schienen. Immer wieder war ich stehen geblieben, um die Farben und Formen der Blumen zu bewundern, die auf fast jedem Quadratzentimeter des moosartigen, weichen Bodens sprossen und teilweise so schnell nach oben schossen, dass ich dabei zuschauen konnte.

Manche von ihnen hatten ihre Kelche geöffnet und mir zugewandt, als wollten sie mir voller Stolz zeigen, wie hübsch sie waren. Ach, alles hier war so hübsch, dass selbst ein Einhorn nach einer Schönheits-OP verlangt hätte, um mithalten zu können, und hinter jedem Strauch, Felsen oder Wasserfall entdeckte ich neue Wunder.

Ich war vogelgroßen Schmetterlingen hinterhergelaufen, deren Flügel melodisch sangen, während sie sich bewegten, war durch warme, knietiefe Wasserstraßen gewatet und hatte dabei staunend dem Treiben quirliger Fische, Seepferdchen und Miniquallen zugesehen, die in friedlichem Miteinander durch das kristallklare Nass geschossen waren. Ein kreisrunder Teich hatte mich besonders fasziniert, denn auf seinem Grund wuchsen durchsichtige Rosen. Sie hatten ausgesehen, als würden sie aus feinstem Glas bestehen, und sich sacht hin und her bewegt, sobald ich mit meiner Hand durch das Wasser gefahren war.

Doch die größte Überraschung war der hellblau-türkis gefiederte Kiwivogel gewesen, den ich unter einem der Farnbüschel entdeckt hatte. Er hatte sogar noch Flügel besessen und war damit der beste Beweis dafür, dass ich mich längst nicht mehr in der normalen Welt befand. Denn dort hatten Kiwis keine Flügel mehr, weil sie schon seit Ewigkeiten liefen, anstatt zu fliegen.

Obwohl mich der Gedanke an meine Eltern quälte und ich mich danach sehnte, ihnen sagen zu können, dass ich lebte und unverletzt war, hätte ich nichts lieber getan, als dieses verwunschene Paradies in aller Ruhe weiter zu erkunden. Denn ich war mir sicher, bisher nur einen Bruchteil seiner Pracht gesehen zu haben. Doch wenn ich nicht bald etwas in den Bauch bekam, würde ich keine fünfhundert Meter mehr laufen können. Meine Fußsohlen waren wund und blutig, meine Muskeln krampften, und mein Magen schmerzte vor Hunger so stark, dass ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte. Trotzdem brachte ich es auch beim vierten Versuch nicht übers Herz, die Frucht von ihrem Ast zu reißen, und sank stöhnend am Fuß des Baumes in mich zusammen. Dieser Tag hatte verzaubert begonnen – falls es in dieser Welt überhaupt Tag und Nacht gab – und drohte, grauenvoll zu enden.

Noch immer war ich mir sicher, dass es hier nichts gab, was mir gefährlich werden konnte. Alle Tiere und Pflanzen waren mir freundlich begegnet. Doch was nützte das, wenn ich nichts zu essen fand? Weil es hier für einen Menschen gar nichts zu essen gab?

Und das wiederum war so, weil hier … weil hier gar keine anderen Menschen lebten? Mit einem Mal war mir trotz der angenehmen Wärme eiskalt. Konnte das sein? War ich der einzige Mensch in dieser Welt?

Aber da war der Junge gewesen, der ebenfalls in Richtung Wasserfall gelaufen war. Er hatte nicht mit mir gesprochen, kein einziges Wort, und verstanden hatte er mich womöglich auch nicht. Doch sein Körper hatte meinem geähnelt, also musste er essen und trinken wie ich. Wenn ich ihn fand, vielleicht sogar sein Dorf oder seine Stadt, war mein Hungerproblem gelöst. Sobald ich mich ein wenig ausgeruht hatte, würde ich weitergehen und diese Wesen suchen, irgendwo mussten sie schließlich sein.

Schläfrig schaute ich dabei zu, wie sich vor mir ein neuer Regenbogen bildete und dabei liebevoll flüsterte, als wollte er mich trösten. Ich gab mir schon keine Mühe mehr, ihn zu verstehen, denn egal, was er mir sagte: Ich würde ihn nicht essen können. Nachdem er sich leise sirrend aufgelöst hatte, blieb mein müder Blick an einem eiförmigen Felsbrocken in der Ferne hängen, dessen Kuppe von Farnen und dunkelroten Blütenbüschen bewachsen war und über dem sich gerade ein neuer Regenbogen bildete. Trotz meiner schmerzenden Stirn kniff ich die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

Nein, das war kein Regenbogen. Das Gebilde hatte nur eine einzige Farbe, ein intensives Gold, und war außerdem ein Lichtkreis, kein Bogen. Langsam schwebte er über dem Felsen empor, wurde blasser und verschwand, doch unter ihm begann ein neuer goldener Kreis aufwärtszusteigen.

Dieser Nebelheini, dachte ich erschauernd, hatte sein Dunsthokuspokus nicht die gleiche Farbe besessen? Goldgelb? Befand sich hinter diesem Felsen etwa schon die Siedlung, die ich zu finden hoffte? Dann nichts wie los. Die Strecke schaffte ich, ohne mich vorher auszuruhen.

Ächzend zog ich mich am Stamm des Baumes in die Senkrechte und hatte dabei das Gefühl, dass die Kristalle sich in die Rinde schmiegten, um mir nicht die Hände aufzuschlitzen. Doch nach Dankesliedern stand mir nicht der Sinn. Taumelnd und mit schwarzen Sternchen vor den Augen kämpfte ich mich durch zwei Bäche, einen flachen Tümpel voller rosafarbener Libellenlarven und einen kleinen, dichten Wald. Er bestand aus zierlichen Laubbäumen, deren lila Blütenblätter den gesamten Boden bedeckten, und ich ruhte mich kurz in ihm aus, bis ich im Schutz einiger meterhoher Farne die Rückseite des Felsens erreichte.

Inzwischen stiegen nicht nur goldene Lichtkreise über ihm auf, sondern auch rote, kobaltblaue und silberne. Gut verdeckt von den Farnwedeln schlich ich um ihn herum, bis ich mich hinter einem herb duftenden Pilz in der Größe einer Hundehütte verstecken und auf die kreisrunde Lichtung blicken konnte, die sich auf der anderen Seite des Felsens erstreckte. Mein Atem stockte, als ich tatsächlich mehrere Wesen sah, die Menschen ähnelten, aber so hell flimmerten, dass ich die Augen sofort wieder abwandte und meine Stirn gegen den kühlen, leicht feuchten Stamm des Pilzes lehnte, der daraufhin ein leises Brummen von sich gab.

»Keine Bange, ich will dich nicht essen«, versicherte ich wispernd und presste meine linke Hand auf mein laut pochendes Herz. »Was sind das nur für … Dinger?«

Rasch wagte ich einen zweiten Blick. Dieses Mal gelang es mir, etwas länger hinzusehen. Die Wesen besaßen zwar Körper wie Menschen, mit einem Kopf, Rumpf, Armen und Beinen, aber ihre Haut schimmerte, als würde in ihren Adern nicht Blut, sondern Licht fließen. Das machte es schwierig, ihre Umrisse klar zu erkennen, und ich brauchte zwei weitere gründliche Blicke, bis ich mir sicher war, dass sie Kleidung trugen: knielange, fließende Gewänder wie aus taubesetzten Spinnenfäden gewebt, die auf Höhe der Hüfte mit Ketten aus runden, polierten Edelsteinen zusammengehalten wurden.

Die Haut der Wesen sah heller aus als die des Nebeltypen, den ich in ihrer Mitte entdeckte und der kein Gewand, sondern noch immer seine wadenlange, seitlich geschnürte Hose und eine offene Weste trug. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Wimpern niedergeschlagen, als hätte er etwas angestellt und wüsste genau, dass es verkehrt gewesen war. Die Augen der anderen Wesen, in denen das gleiche Strahlen lag, wie ich es bei ihm gesehen hatte, richteten sich fest auf sein verschlossenes, abgewandtes Gesicht, ohne dass irgendeiner von ihnen etwas sagte oder tat.

All diese Wesen waren absolut still, kein Laut kam über ihre Lippen. Aber in ihren Körpern bildeten sich unaufhörlich farbige Lichtkreise, die aus ihren Bäuchen nach oben stiegen, wo sie sich miteinander verbanden und verblassten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Nur goldene Kreise waren nicht mehr dabei. Der Nebeljunge war der Einzige unter ihnen, der keine Lichtgebilde mehr produzierte.

Er schweigt, dachte ich instinktiv. Ja, er schwieg, und die anderen redeten miteinander und auf ihn ein, über diese Lichtkreise! Aber wie konnte das gehen?

»Ich werde noch bekloppt«, flüsterte ich stöhnend und lehnte mich zurück an den Pilz, der erneut brummte – doch es klang zustimmend und nicht drohend. Vielleicht war ich es sogar längst. Schließlich war ich so hungrig, dass ich nicht mehr klar sehen und schon gar nicht mehr klar denken konnte. Ich war mir nur in einem einigermaßen sicher: Diese Wesen waren nicht bewaffnet, und obwohl sie ein Problem mit dem Nebelheini hatten, wirkten sie friedlich auf mich.

Der Mann mit dem langen weißen Haar und seinem zu drei Zöpfen geflochtenen Bart kam mir sogar vertraut vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Wenn ich wirklich zurück in jener Zwischenwelt war, die ich als kleines Kind besucht hatte, war das möglicherweise sogar die Wahrheit.

Deshalb musste ich meine Chance nutzen und mich diesen Wesen zeigen, bevor ich vor Hunger ohnmächtig wurde. In meinen Ohren rauschte es bereits dröhnend, und meine Beine wurden immer zittriger. Obwohl nach wie vor farbige Kreise über der Lichtung aufstiegen und die Wesen den Nebeljungen mit funkelnden Augen fest ansahen, raffte ich mich auf, stürzte mit erhobenen Armen hinter dem Pilz hervor und rannte torkelnd auf sie zu.

»Bitte helft mir, bitte, ich …«

Noch bevor ich meinen Satz ausgesprochen hatte, wurde mein Sichtfeld pechschwarz, und ich fiel vornüber. Den Aufprall spürte ich schon nicht mehr.

Ich fühlte nur eines: nackte Angst.

Doch es war nicht meine eigene.

Amuria

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