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Auf Nimmerwiedersehen

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»Okay, ich gebe es zu, Papa, du hattest doch recht«, wisperte ich und erschauerte am ganzen Körper, weil meine Stimme sich viel zu dünn und kraftlos anhörte. Ja, wäre ich doch nur auf dem Pfad geblieben! Dann wäre ich jetzt längst zurück im Camp bei meinen Eltern, und wir würden uns irgendeine fade Konservensuppe aufwärmen und beim Essen erzählen, was wir den Tag über erlebt hatten. Doch nun bekam ich Angst, ihnen nie wieder von meinen Abenteuern berichten zu können.

Denn dieses hier nahm gar keine gute Wendung. Außerdem war es öde und langweilig geworden, aber das hätte ich liebend gerne in Kauf genommen, wenn ich nur wieder hätte zurückkehren können. Obwohl der Steg nur wenige Biegungen nahm und die meiste Zeit stur geradeaus führte, hatte sich die Landschaft kein bisschen verändert.

Ich lief von einer Nebelschwade in die nächste, umgeben von blubbernden grauen Sümpfen. Alles sah gleich aus, und auch die Dämmerung veränderte sich nicht. Das diffuse schwache Licht um mich herum wurde weder heller, noch schwand es, dabei hätte ich schwören können, schon mindestens vier Stunden unterwegs zu sein.

Überprüfen konnte ich es nicht, denn mein Handy war mir ja verloren gegangen. Ich war auf mein Bauchgefühl angewiesen, und das wurde immer schlechter, je hungriger ich wurde. Doch am schlimmsten plagte mich der Durst. Meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie auf die doppelte Größe angeschwollen, und ständig klebten meine Lippen aneinander fest. Auch meine Nase war wie verstopft.

Wieso war ich an keinem einzigen Schild vorbeigekommen? Der Egmont National Park war bekannt für seine gute Beschilderung, das hatte Mama Papa gestern noch gesagt, als sie darüber diskutiert hatten, ob man mich allein losziehen lassen könne. Wahrscheinlich bereuten sie es ebenso bitter wie ich.

Obwohl ich wusste, dass es zwecklos sein würde, formte ich meine Hände zu einem Trichter und rief laut: »Mama, Papa, hört ihr mich? Ich bin hier, in den Sümpfen! Mama! Papa! Hallo! Ich bin es, Maja!«

Nicht einmal ein Echo schallte zurück und erst recht keine Antwort. Wenn wenigstens ein Vogel gerufen hätte oder davongeflattert wäre! Aber Tiere gab es in diesem Sumpf nicht. Ich war vollkommen allein, und bald würde ich keine Kraft mehr haben weiterzulaufen. Meine Beine zitterten vor Erschöpfung, und jeder Schritt tat mir im ganzen Körper weh. Ich musste Wasser finden, dringend, sonst würde ich im Lauf der nächsten Stunden elend verdursten.

Weil mir so schwindelig wurde, dass ich nicht mehr stehen konnte, ließ ich mich im Schneidersitz auf dem feuchten Holzsteg nieder und stützte meinen Kopf in die Hände, um zu neuer Energie zu kommen. Dieser Steg musste zu einem Ziel führen, sonst war er sinnlos. Er war meine einzige Rettung, und ich durfte jetzt nicht die Hoffnung verlieren, nur weil ich erschöpft und durstig war. Irgendwann hörte jeder Sumpf auf und ging in eine andere Landschaft über, so wie jede Wüste endete und jedes Meer an eine Küste brandete. Einen Moment lang musste ich an meinen Lieblingstraum denken, in dem ich plötzlich eine verwunschene, tropisch wirkende Lagune entdeckte, mitten in einem Wald, und es kaum erwarten konnte, dem glasklaren Wasser entgegenzulaufen und in ihm zu baden. Auch hier konnte die Landschaft sich verändern, heller und freundlicher werden – doch dazu musste ich weiterlaufen.

»Los, weiter, Maja«, sprach ich mir Mut zu, richtete mich stöhnend auf und stemmte mich auf meine Beine. Noch immer fühlten sie sich weich und matschig an, doch der Schwindel im Kopf war verflogen.

Mit gleichmäßigen kleinen Schritten setzte ich meinen Weg fort, ohne jedoch nach rechts und links zu schauen. Meine Augen hafteten an meinen nackten, verschlammten Füßen, deren Sohlen bereits wund und von Blasen übersät waren, aber es beruhigte mich, dabei zuzusehen, wie sie sich über die Holzbohlen bewegten.

»Maja ist zäh«, hatte Mama immer wieder gesagt, wenn Papa sich um mich sorgte, und sie hatte recht: Ich war zäh. Wenn es sein musste, würde ich noch weitere vier Stunden über diesen Steg laufen und …

Moment.

Aufmerksam hob ich meinen Kopf. Da war ein anderes Geräusch zwischen dem andauernden Blubbern und Glucksen des Sumpfes. Heller und klarer und … flüsternd? Flüsterte da etwas oder jemand?

»Hallo?«, rief ich fragend in den Dunst hinein und spitzte die Ohren. Wieder wehte das Geräusch zu mir herüber, als würde es antworten, doch es konnte nicht von einem Mensch stammen, es hörte sich eher an wie … wie Wasser? Oder war ich bereits so ausgehungert, dass ich Halluzinationen bekam?

Zögerlich machte ich ein paar Schritte nach vorne, blieb wieder stehen und hielt sogar die Luft an, um besser lauschen zu können. Nun hörte ich es erneut, näher und deutlicher als eben noch. Ich irrte mich nicht. Es musste Wasser sein, das plätscherte und dabei klang wie ein leises, zufriedenes Summen. Das war merkwürdig, doch ich war zu durstig, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Dort vorne, wo das Wasser sang, musste der Sumpf zu Ende sein, und wenn es aus einem Felsen kam, konnte ich es wahrscheinlich sogar gefahrlos trinken. Quellwasser war fast immer genießbar.

Jetzt konnte ich nicht mehr langsam gehen. Erst begann ich zu marschieren, dann zu laufen, dann zu rennen, bis meine Beine wieder zu zittern anfingen und ich mein Tempo drosseln musste, um nicht hinzufallen. Doch als ich mich umsah, jauchzte ich vor Freude und Erleichterung laut auf.

Endlich, dachte ich überglücklich, endlich! Endlich begann der graue Nebel sich zu lichten, und aus dem Sumpf erhoben sich erste grüne Stellen, bewachsen mit Farnen und zarten, kurzen Blumen, deren Blütenblätter rosa und tiefblau aus dem düsteren Einerlei des Morastes herausleuchteten. Am liebsten wäre ich auf eine dieser kleinen Inseln gesprungen und hätte mir die Blumen aus der Nähe angesehen, doch dieses Mal blieb ich vernünftig. Ich konnte mir jetzt keine Experimente mehr leisten. Deshalb winkte ich ihnen nur fröhlich zu, als könnten sie mich sehen, und blieb stocksteif stehen, weil sie ihre Blütenköpfe zu mir drehten und ganz leicht nickten – fast wie eine freundliche Begrüßung.

»Okay, ich hab Halluzinationen«, stellte ich halblaut fest und legte meine Hand auf mein wild jagendes Herz. War denn alles, was ich sah und hörte, nur Einbildung? Auch das Wasser? Gab es etwa in Wirklichkeit gar keine Quelle, aus der ich trinken konnte?

Im Schleichgang setzte ich mich wieder in Bewegung, bis ich die nächste grüne Insel aus dem Sumpf ragen sah, und ich kam mir reichlich blöde vor, als ich erneut meine Hand hob und den Blumen zuwinkte. Aber es geschah das Gleiche wie eben: Sie drehten ihre hübschen Köpfe zu mir und nickten mir zu.

»Das gibt es nicht. Sorry, aber das …« Es konnte nicht wahr sein. Und doch kam es mir vertraut vor. Plötzlich war mir, als hörte ich mich selbst lachen, aber nicht als dreizehnjährige Maja, sondern als kleines Kind. Hell, perlend und so vergnügt, dass ich automatisch lächeln musste. Hatte ich Mama und Papa und dem Psychologen nicht lang und breit davon erzählt? Dass es in diesem Land unter der Erde Blumen gegeben hatte, die meine Freunde gewesen waren und mich angeschaut hatten?

Was bedeutete das jetzt? Dass ich verrückt wurde und der erste Schub sich schon gezeigt hatte, als ich vier Jahre alt gewesen war, oder … oder dass es die nickenden Blumen wirklich gab? Argwöhnisch starrte ich sie an, doch nach einigen Sekunden drehten sie sich mit eingeklappten Blütenblättern von mir weg, als würden ihnen meine forschenden Blicke nicht gefallen.

»Sorry«, flüsterte ich und kniff meine Augen fest zusammen, um wieder zur Vernunft zu kommen.

Okay, gut, ich sah Blumen, die mir zunickten und auf mein Winken reagierten. Das konnte am Durst und Hunger liegen. Aber das rauschende Wasser musste echt sein. Deshalb schaute ich jetzt am besten wieder stur auf meine Füße, bis es direkt vor mir war und ich davon trinken konnte.

Wenn nicht, war ich sowieso bald tot, und dann war es herzlich egal, ob ich verrückt wurde oder nicht. Und ich hatte vor meinem Dahinsiechen immerhin mit Blumen gesprochen. Das konnte nicht jeder Mensch von sich behaupten.

Doch schon nach wenigen Schritten, die sich unwirklich und wackelig anfühlten, als würden die Holzplanken unter mir beginnen, sich aufzulösen, musste ich meinen Blick von meinen Füßen losreißen.

Direkt vor mir saß etwas auf dem Steg, was ich nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal im mexikanischen Dschungel. Es wirkte wie eine Mischung aus einer langbeinigen Spinne und einem Schmetterling. Schmetterling deshalb, weil es transparente, geschwungene Flügel auf dem Rücken trug, die sich in Zeitlupentempo geschmeidig auf und ab bewegten.

»Ich weiß nicht, ob du eklig oder hübsch bist«, murmelte ich rätselnd und kniete mich nieder, um das Insekt genauer zu betrachten. »Ich hoffe nur, dass du nicht giftig bist.«

Denn es war knallbunt, und die meisten kleinen, knallbunten Tiere waren giftig. Am Amazonas hatte es Frösche gegeben, deren Haut von Giftdrüsen nur so übersät gewesen war und die ich auf keinen Fall hätte anfassen dürfen. Aber sie hatten nicht minder geleuchtet als dieses Exemplar.

Kritisch betrachtete ich seine acht Spinnenbeine, die von hellgrünen Härchen bedeckt waren, unter denen die Chitinhaut dunkelblau schimmerte. Sein wulstiger Panzer hingegen glitzerte schwarz-grün, während die Flügel ebenfalls blau waren, bedeckt von hellroten Tupfen und Minispiralen. Am Kopf saßen zwei lange gelbe Fühler, die sich suchend nach mir ausstreckten, als würde das Tier in Kontakt mit mir treten wollen. Dabei blickten seine vier Augen mich ruhig, wachsam und verwirrend intelligent an.

»Du beißt mich, wenn ich dich anfasse, oder? Okay, ich fasse dich nicht an, kein Thema«, versicherte ich eilig, als es seine langen Beine gleichmäßig in Bewegung setzte und näher kam, dann aber wieder stoppte. Zwischen meinen Zehen und seinen Fühlern befanden sich nur wenige Millimeter.

Noch immer sah es mich direkt an. Spinnen waren nahezu blind, trotz ihrer acht Augen. Doch dieses Wesen musste mich sehen können. Anders konnte ich mir seinen direkten, klugen Blick nicht erklären.

»Ich freu mich auch, dich zu treffen«, sprach ich leise weiter, als könnte es mich verstehen. Es tat gut, mit jemandem zu reden nach meinen aufreibenden, trostlosen Wanderstunden, auch wenn dieser Jemand eine Schmetterspinne war. »Wusstest du nicht genau, was du mal werden solltest? Ach, wenn Papa dich nur sehen könnte …«

Dann wärst du längst in einen Plastikbehälter gesetzt worden, um im Labor untersucht zu werden, dachte ich. Ja, Papa hätte seine Freude an diesem Tierchen gehabt, aber es war zu schade für ein Terrarium.

»Wo bin ich hier gelandet? Kannst du mir das verraten?«

Die Schmetterspinne kam noch ein Stückchen näher, streckte elegant ihren linken Fühler aus und berührte mich damit an meinem rechten großen Zeh. Kichernd zuckte ich zurück. Das kitzelte.

»Ich kann deine Sprache nicht übersetzen. Und ich habe Durst. Ich brauche Wasser, dringend. Deshalb muss ich jetzt weitergehen, aber es war schön, dich … Huch!«, machte ich überrascht, denn die Schmetterspinne hatte sich mit einem tänzerischen Satz umgedreht und bewegte sich halb krabbelnd, halb flatternd von mir weg, ganz so, als wollte sie mir etwas zeigen. Weil ich sowieso hatte weiterlaufen wollen, zuckte ich nur ergeben mit den Schultern und folgte ihr.

Dafür, dass sie nicht größer war als mein Handteller, war sie ziemlich flink auf ihren acht Beinchen, viel flinker als ich, doch sobald ich zu weit zurückfiel, blieb sie ruhig sitzen und wartete, bis ich zu ihr aufgeschlossen hatte. Ich war so beschäftigt damit, sie im Blick zu behalten, dass ich erst an dem weichen, ungewohnten Gefühl unter meinen nackten Sohlen merkte, dass ich den Steg verlassen und festen Grund erreicht hatte. Ja, ich hatte den Sumpf endgültig hinter mir gelassen, und das Rauschen des Wassers dröhnte in meinen Ohren. Weit konnte es nicht mehr sein, und hätte mir nicht wieder eine Nebelschwade die Sicht versperrt, hätte ich es wahrscheinlich schon gesehen.

»Warte einen Moment«, bat ich die Schmetterspinne, kniete mich nieder und drückte meine Hände in das fluffige, dichte Grün, das den elastischen Boden jenseits des Sumpfes bedeckte. Es sah aus wie Moos, aber die glitzernden Tropfen, von denen es bedeckt war, bewegten sich zitternd hin und her. Als ich sie vorsichtig mit den Fingerspitzen berührte, zerplatzten sie nicht, sondern rollten mit einem melodischen Sirren zur Seite und suchten sich einen neuen Platz. Ich musste dreimal hinsehen, bis ich erkannte, dass es gar keine Wassertropfen waren, sondern winzige Käfer, deren durchsichtige Flügel um ihren gesamten kugelrunden Körper verliefen. Jedes Käferchen besaß mindestens acht dieser Flügel, manche auch zwölf. Während ich ihr Treiben beobachtete, blieb die Schmetterspinne geduldig neben meinen Knien sitzen und schlug nur ein paarmal mit ihren bunten Flügeln. Doch wie vorhin ließ sie mich nicht aus ihren Augen.

»Ich weiß wirklich nicht, wo ich bin, aber ich muss endlich etwas trinken.« Seufzend stand ich auf und suchte nach einem Weg zwischen den Mooskäferchen hindurch, aber zu meiner Verwunderung wichen sie meinen Schritten von ganz allein aus. Nicht einer von ihnen geriet in Gefahr, von mir zertreten zu werden, obwohl sie nicht größer als der Kopf einer Stecknadel waren.

Jetzt krabbelte und flatterte die Spinne mir wieder voraus, bis ich sie in der Nebelschwade kaum mehr erkennen konnte. Eifrig folgte ich ihr und stand plötzlich in gleißender Helligkeit, als hätte es all die dunkelgrauen Nebel und Sümpfe niemals gegeben. Blinzelnd versuchte ich, meine Augen vor dem grellen Licht zu schützen, und als ich dabei nach unten schaute, sah ich zum ersten Mal seit Stunden wieder meinen Schatten. Doch er war nicht schwarz, wie ich es von ihm kannte, sondern schimmerte azurblau.

Erst nach Sekunden gelang es mir, meinen Blick zu heben, und wurde dabei mit dem prachtvollsten Wasserfall belohnt, den ich jemals gesehen hatte. Ich vergaß sogar kurz meinen Durst, während ich suchend nach oben schaute, um herauszufinden, woher seine in sämtlichen Regenbogenfarben leuchtenden Fluten kamen. Doch er schien endlos zu sein und sich direkt aus dem wolkenverhangenen Himmel herabzustürzen. Ihn umgaben Felsen, dicht bewachsen von Farnen, lianenartigen Pflanzen und Tausenden von leuchtenden Blumen in allen Farben, aber den Anfang und das Ende dieser Felsen konnte ich nicht sehen. Es war, als würden sie frei in der Luft schweben, genauso wie der Wasserfall, denn er mündete nicht in einen Teich, sondern … Fasziniert beugte ich mich vor und rechnete fest damit, dass sich wenige Schritte vor mir ein Abgrund auftat.

Doch den gab es nicht, zumindest konnte ich ihn nicht sehen. Unterhalb der Felskante bildete das Wasser einen See über dem Nichts und floss seitlich weiter, um von dort aus nach oben aufzusteigen. Das war nicht möglich. Wasser folgte der Schwerkraft, es sei denn, es kam aus einem Geysir. Aber das hier war Wasserfallwasser, rein, klar und ohne stinkende Dämpfe. Trotzdem hatte es einen Klang, der vollkommen neu für mich war. Ich kam mir vor, als stünde ich in einer Kirche aus Wasser, in der vier Orgeln gleichzeitig gespielt wurden. Dennoch war es mir nicht zu laut. Ich hätte sogar dabei einschlafen können.

»Das ist alles so krass«, sagte ich lautlos, ohne mich auch nur eine Sekunde fremd oder verloren zu fühlen. Mir war viel mehr, als würde ich endlich heimkommen, ins Reich meiner Kindheit, jene Erinnerungen, von denen alle geglaubt hatten, ich hätte sie mir nur eingebildet.

Doch noch konnte ich nichts davon sehen außer dem riesigen Wasserfall und den fernen, im Dunst schwebenden Felsen. Der Wasserfall musste eine Pforte sein. Aber wie sollte ich es überleben, ihn zu durchschreiten, wenn er ins Nichts hinabfiel? Auf einen weiteren Sturz ins Unbekannte hatte ich keine Lust, und noch weniger wollte ich in diese öden Sümpfe zurückkehren, die ich gerade erst hinter mir gelassen hatte. Außerdem musste ich etwas trinken, sonst würde ich das Bewusstsein verlieren.

Zögernd trat ich bis an die Kante des weichen, moosigen Bodens, reckte den Hals nach vorne, sodass die Gischt des Wasserfalls mein Gesicht benetzte, und öffnete den Mund. Winzige Tröpfchen legten sich auf meine Zunge, und sie schmeckten so rein und erfrischend, dass ich erleichtert aufseufzte. Doch um auf diese Weise meinen Durst zu stillen, hätte ich Stunden in dieser ungewohnten Haltung stehen bleiben müssen, und meine Oberschenkel begannen bereits zu zittern. Aber ich schaffte es auch nicht, mit meinen Händen Wasser aufzufangen, sie wurden lediglich von Dunst benetzt. Ich kam nicht nah genug dran. Musste ich jetzt etwa direkt vor einem gigantischen Sturzbach frischen Bergwassers verdursten?

Ich wollte schon nach einer anderen Stelle suchen, als wie aus dem Nichts die Schmetterspinne vor meinem Gesicht auftauchte und sich direkt auf mein Feuermal setzte. Blinzelnd versuchte ich sie wegzupusten, da ihre Beinchen meine Augen kitzelten, doch als sie ihren Leib auf mein Mal drückte, wurde ich so kraftvoll nach vorne gezogen, dass ich nicht anders konnte, als dem Abgrund unter dem Wasserfall entgegenzugehen.

»Nein, nicht, ich kann doch nicht fliegen wie du!«, hörte ich mich erschrocken rufen, doch meine Füße machten einen weiteren großen Schritt. Nun musste ich fallen, es ging gar nicht anders, denn ich hatte keinen festen Grund mehr unter dem Boden.

»Was ist das denn?«

Die Schmetterspinne hatte sich von meinem Mal gelöst, und ich befand mich jenseits des Moosbodens, doch ich stürzte nicht. Der Wasserfallsee unterhalb der Felskante trug mich, als würde er aus festem Material bestehen.

Jetzt erst merkte ich, dass ich vor Angst die Augen geschlossen hatte. Zögernd öffnete ich sie und keuchte vor Erstaunen laut auf. Ich schwebte frei inmitten des riesigen Wasserfalls. Um mich herum toste und rauschte es in einem fort, doch meine Füße waren bis zu den Knöcheln von kleinen, sprudelnden Wellen umgeben, die mich von unten stabilisierten. Der gesamte Wasserfall fühlte sich an wie ein kraftvolles, lebendiges Wesen, das meine Not erkannt und mich zu sich genommen hatte, damit ich von ihm trinken konnte.

»Darf ich?«, fragte ich trotzdem schüchtern, denn ich kam mir winzig und zerbrechlich vor in seiner tosenden Umarmung.

Meine Stimme verlor sich so schnell, dass ich sie nicht hören konnte. Dennoch gab der Wasserfall mir sofort Antwort. Aus dem dichten Strömen vor mir schälte sich eine durchsichtige, fingerdicke Fontäne heraus und bewegte sich direkt auf meinen Mund zu. Ich musste ihn nur öffnen, um davon trinken zu können, und es war so einfach, dass ich vor Freude auflachte und meine Hände dabei spielerisch durch die Fluten um mich herum wandern ließ.

Sie waren längst nicht so kalt, wie ich gedacht hatte, und belebten mich trotzdem im Nu. Nachdem mein erster Durst gestillt war, stellte ich mich mitten in eine der Wasserwände, wusch mir den Schlamm aus Haaren und Kleidern, trank erneut, bis mein Bauch spannte, und schritt dann mutig nach vorne.

Bald merkte ich, dass meine Angst zu ertrinken unbegründet war. Immer wenn mir die Luft knapp wurde, öffnete sich das Wasser über mir einen Augenblick, damit ich atmen konnte, und unter mir gab die Wellenbrücke kein einziges Mal nach. Wie das alles funktionierte, verstand ich nicht, doch ich hatte zu große Freude daran, mich durch den Wasserfall zu bewegen, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen.

Nach einigen Metern wurde das Tosen sanfter, die herabfallenden Fluten schwächer, und erste runde Kieselsteine zeichneten sich unter den Wellen zu meinen Füßen ab. Ich hatte das Tor passiert, der Wasserfall hatte mir geholfen, ihn zu durchschreiten, als wollte er, dass ich die Welt dahinter erreichte. Ich konnte es kaum erwarten, sie zu sehen.

Doch als seine Fluten sich hinter mir schlossen und das Wasser aus meinen Kleidern und Haaren zu verdunsten begann, war ich auf einmal so müde, dass ich keine Kraft mehr hatte, mich umzuschauen. Denken konnte ich sowieso nicht mehr. Ich wusste, dass unmöglich war, was in den vergangenen Stunden mit mir geschehen war, aber selbst das wurde mir egal.

Alles flimmerte vor meinen Augen, während ich auf die Knie sank und zu einem meterhohen sattgrünen Farn kroch, der begrüßend seine Fächer hob, sobald ich ihn erreicht hatte. Dankbar schob ich mich in die warme, weiche Höhle unter seinen Wedeln, und sofort schlossen sie sich wieder und gaben mir Schutz vor dem gleißenden Licht.

Ich musste ausruhen, schlafen. Danach konnte ich immer noch herausfinden, wo ich gelandet war. Ich wusste nur eines: Diese Welt würde mir nichts Böses antun.

Deshalb hatte ich als Kind keine Sekunde lang Angst gehabt, als ich in ihr verloren gegangen war, und war völlig unversehrt zurückgekommen. Hier gab es nichts Schlechtes, nichts Gefährliches, nichts, was mir an den Kragen wollte. Selbst die Pflanzen kümmerten sich um mich, so wie die Schmetterspinne mir den Weg gezeigt und der Wasserfall mich getragen und geführt hatte.

An den merkwürdigen Jungen, der versucht hatte, mich in den tödlichen Sumpf zu stoßen, und noch in der Nähe sein musste, dachte ich nicht mehr.

Ich fühlte mich geborgen, getröstet und behütet.

Kaum hatte ich meine Augen geschlossen, war ich fest eingeschlafen.

Amuria

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