Читать книгу Amuria - Bettina Belitz - Страница 6

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Schlammschlacht

Nein. Nein, das war nicht die Welt, in der ich als Kind zwei lichterfüllte Tage verbracht hatte. Der Sturz hatte sich ganz ähnlich angefühlt wie damals, und zum ersten Mal hatte ich mich bewusst daran erinnern können. Ich war nach einem Fehltritt abseits des Hauptpfads gestürzt, Kilometer abwärts, und dabei in schwindelerregender Geschwindigkeit um mich selbst gewirbelt worden.

Doch ich war in einem Paradies gelandet, nicht in einem Dreckloch. Dieser Schmodder, in dem ich nun keuchend darum kämpfte, Luft zu bekommen und mich irgendwo festhalten zu können, war jedoch ein einziges widerliches, stinkendes Dreckloch.

Vor allem aber hatte in der Paradieswelt niemand versucht, mich umzubringen. Was jetzt zweifellos geschah – und mein Möchtegernmörder war kein anderer als der seltsame Nebelheini von eben.

»Hör endlich auf mit dem Mist!«, brüllte ich ihn Schlamm spuckend an, als er zum dritten Mal meine Hände von den feuchten Holzplanken über mir schob, sobald ich sie umklammert hatte. Er musste mich dafür nur sanft mit seinen nackten Zehen anstupsen, und sofort verließ mich meine Kraft. Ein ganz mieser Zauber war das – oder ich durch meinen Sturz so schwach, dass er mich zerdrücken konnte wie eine lebensmüde Fliege, wenn er wollte.

Strampelnd hielt ich mich oberhalb der braunen, modrigen Brühe, in der ich gelandet war, und holte erneut tief Luft, um meine Arme aus dem Schlick zu ziehen und nach den Planken zu greifen. Denn wenn ich mich nicht bald auf den Steg wuchtete, würde ich von diesem Sumpf verschlungen werden, und zwar bei lebendigem Leibe.

Dieses Mal hatte ich mit den Füßen des Jungen ge- rechnet, der stumm über mir stand und nur darauf wartete, dass ich mich zu retten versuchte, und war schneller als er. Ich packte seinen linken Knöchel, um mich daran hochzuziehen und ihm gleichzeitig einen kräftigen Biss zu verpassen, doch meine Zähne schlugen ins Leere und erwischten dabei nur ein Stück meiner Zunge. Es tat so weh, dass ich wütend aufquietschte.

»Hilf mir, verdammt! Ich ertrinke sonst, siehst du das nicht …«, brachte ich noch mühsam hervor, ehe meine Hände wieder abrutschten und ich in diesem fiesen Moder, der mich umgab, nach unten sank.

Ich war eine echt gute Schwimmerin, doch hier nützte mir das überhaupt nichts. Es war, als ob jede Bewegung, die ich machte, mich verspottete, sie zog nur Energie aus mir, ohne dass ich mir mit meinen Schwimmstößen helfen konnte. Trotzdem ruderte ich wie ein Hündchen mit Armen und Beinen, in der Hoffnung, ich könnte mich dadurch mit dem Kopf über Wasser halten. Dabei streckte ich immer wieder einen meiner Füße nach unten und versuchte, etwas Festes zu finden, an dem ich mich abstoßen konnte. Vergeblich. Unter mir befand sich das pure schwarze Nichts.

Okay, dann war es das wohl, dachte ich und presste panisch meine Lippen zusammen, um ja nichts von dieser ekligen Matschbrühe zu schlucken, was jedoch bald passieren würde, wenn mich nicht irgendetwas oder irgendwer rettete. Dieses Mal ging ich nicht nur im Goblin Forest verloren, ich starb auch darin. Vermutlich unauffindbar, denn der Sumpf fraß mich auf, als wäre er ein gieriges Monster, dessen Lieblingsspeise aus rothaarigen Mädchen bestand. Und endlich hatte er wieder eines gefunden. Er schmatzte sogar dabei, ich hörte es, während ich weiter nach unten gesogen wurde, und das machte mich so zornig, dass ich mich ein letztes Mal aufbäumte und wie ein Delfin durch den Morast pflügte. Im gleichen Moment griff etwas – oder jemand? – nach meinen Haaren, zerrte mich unsanft aus dem Schlick und wuchtete mich hinauf auf die feuchten Holzplanken.

Sieh einer an, dachte ich grimmig, als ich zwei nackte Füße vor mir erkannte. Der Nebelheini hatte also doch einen Rest Anstand im Leib, auch wenn er mir bei seinem halbherzigen Rettungsversuch wehgetan hatte. Hustend und würgend hieb ich meine Faust gegen seine Wade, was sich anfühlte, als hätte ich einen Wackelpudding geschlagen, und strich mir mit triefenden Händen die verschlammten Haare aus dem Gesicht, um ihn ansehen zu können.

Sofort wurde mir derart kalt, dass ich zu schlottern begann. Sein Blick … und diese Augen! Sie leuchteten so hell, dass ich mich geblendet fühlte und versucht war, wieder wegzuschauen, doch das allein war es nicht, was mich frösteln ließ. Es war der Ausdruck in ihnen, verächtlich, voller Abscheu und Hass und … Angst?

Reglos stand der Junge neben mir auf dem Steg und schaute auf mich herunter, als wäre ich die Ausgeburt der Hölle und müsste sofort wieder hinab in den Moder gestoßen werden. Erst als meine Stirn unangenehm zu prickeln begann, begriff ich, weshalb er nicht aufhörte, mich anzustarren.

»Jetzt glotz nicht so blöd, das ist ein Feuermal. Hab ich seit meiner Geburt. Das hat nichts zu bedeuten, ist nur eine Anomalie«, leierte ich genervt herunter, was ich in den vergangenen Jahren unzähligen neuen Mitschülern hatte erklären müssen. »Ich bin weder eine Hexe noch dämonisch, da spielen nur ein paar Pigmente verrückt … Sag mal, verstehst du mich eigentlich? Hallo?«

Noch immer klebte sein Blick an meiner Stirn, und seine Augen begannen dabei so intensiv zu leuchten, dass ich meine Wimpern senken musste, weil ich das Gefühl hatte, jeden Moment blind zu werden, wenn ich länger hineinsah.

Doch schon in der nächsten Sekunde streiften meine Blicke sie wieder. Ich konnte nicht anders. Blaugrün waren sie, wie ein Bergsee von oben, nur gleißender und glitzernder.

»Bist auch nicht gerade ein Hingucker, wenn ich ehrlich bin«, setzte ich hinterher, weil er immer noch schwieg.

Ach, ich war nicht ehrlich, ich log wie gedruckt. Dieser Typ hatte zwar versucht, mich zu killen, aber er war der Hingucker schlechthin mit seinen Bergsee-Augen, seiner klaren bräunlichen Haut und den halblangen dunklen Haaren, die durch ein dunkelgrünes Band aus der Stirn gehalten wurden. Man musste ihn anschauen, denn alles an ihm schien zu strahlen, von innen heraus, und auch das erinnerte mich … an damals? Aber warum standen wir dann auf einem feuchten Steg mitten in einem Sumpf? Den Sturz mochte ich mir ja eingebildet haben, und ich war vielleicht auch kurz ohnmächtig gewesen. Außerdem war ich beinahe gestorben, da durfte man ein bisschen durcheinander sein, fand ich. Trotzdem passte hier nichts zusammen. Diese Landschaft kannte ich nicht. Weder aus der Realität noch aus den Erinnerungen von damals. Die ja angeblich alle Einbildung gewesen waren.

Tja, das hier war leider echt. Ich war klatschnass und voller Schlamm, meine Zunge blutete, und meine Hände waren übersät von beißenden Schürfwunden – und allmählich verlor ich die Geduld. Hübsch war mein Mörder/Retter ja, aber ätzend schweigsam.

»Wo sind wir?«, fragte ich ihn betont langsam auf Englisch und übersetzte meine Frage anschließend in sämtliche anderen Sprachen, die ich gelernt hatte.

Keine Regung in seinem Gesicht zeigte, ob er mich verstand oder auch nur hören konnte, und statt zu antworten, hob er nur seine feingliedrigen, aber kräftigen Hände und ließ erneut gelb glitzernden (und äußerst wohlriechenden) Nebel aus ihnen strömen, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Und mich selbst auch nicht.

»Okay, besten Dank, das ist also alles, was du draufhast. Blödmann. Mist, das kann doch nicht sein …«, stöhnte ich und verbarg mein Gesicht in meinen schlammverkrusteten Händen.

Ich hatte schon vieles erlebt. Manches davon war wirklich wunderlich gewesen. Wie der Schamane in Mexiko, den wir nicht fotografieren durften, weil er glaubte, dann auf der Stelle zu sterben, und der den ganzen lieben langen Tag zwischen zwei Pyramiden saß, ununterbrochen rauchte und mit den Geistern sprach (was er sehr ausführlich getan hatte). Auch die Nordlichter hatten auf mich oft wie Zauberei gewirkt, und auf Island nicht an Elfen zu glauben, war kaum möglich.

Aber dieser Typ ließ goldgelben Glitzerrauch aus seinen Fingern strömen und hatte Augen, die aussahen, als würden sie von innen heraus angestrahlt werden. Sie fingen das Licht nicht ein, sondern sendeten es aus. Was schlichtweg nicht sein konnte, denn in jedem Schädel war es dunkel. Wenn ich Mathe lernen musste, herrschte in meinem eigenen sogar finsterste Nacht, ohne jede Aussicht auf Sonnenschein. Das mit dem Nebel konnte ja noch ein blöder Trick sein, aber seine Augen … Ja, seine Augen erinnerten mich vage an damals, auch wenn dieser Sumpf der Welt von damals nicht im Geringsten glich.

Nun tat ich doch das, was Papa mir aufgetragen hatte, falls der Nebel zu dicht wurde, auch wenn er garantiert nicht von dieser Sorte Nebel ausgegangen war. Ich kauerte mich zitternd auf den Steg und wartete, bis der gelbe Dunst sich so weit gelichtet hatte, dass ich wieder etwas sehen konnte. Währenddessen hoffte ich inständig, dass ich danach den Wald erblicken und meinen vertrauten Pfad erkennen würde (und der Nebelheini ein für alle Mal verschwunden war). Denn mein Handy war nicht mehr in meiner Hosentasche, wahrscheinlich war es im Schlamm verloren vergangen. Ich war ganz auf mich selbst angewiesen.

Doch nichts davon traf ein. Die Gestalt des Jungen konnte ich zwar nur noch aus weiter Ferne ausmachen. Er bewegte sich eilig von mir weg, und ich hatte dabei nach wie vor das Gefühl, dass er mich abgrundtief hasste, denn er blickte immer wieder drohend über seine Schulter zurück, wobei seine Gletscheraugen gleißende Blitze in meine Richtung schickten und mir im Kopf wehtaten.

Doch der Wald tauchte nicht wieder auf. Rechts und links des langen Holzsteges blubberte der Sumpf schmatzend und gurgelnd vor sich hin. Ab und zu zerplatzten auf seiner Oberfläche tellergroße Blasen und verströmten dabei einen schimmeligen Gestank.

Obwohl ich bibberte, legte ich mich rücklings auf die Holzplanken und schaute nach oben. Kein Himmel zu erkennen, alles verlor sich in diffusen Dunstwolken. Ich konnte nicht einmal sagen, welche Tageszeit wir hatten. Es herrschte weder Helligkeit noch Dunkelheit, sondern eine Dämmerung, die ich nicht zuordnen konnte und sich kein bisschen veränderte. Beinahe vermisste ich den gelben Nebel, der wenigstens nett ausgesehen und angenehm gerochen hatte.

Nun war alles grau und öde. Keine Farben mehr. Und wie im Wald vorhin fehlten die Stimmen der Vögel. Ob in dem Schmodder unter mir Tiere lebten, wollte ich gar nicht erst überprüfen. Ich war froh, ihm entkommen zu sein, auch wenn ich immer noch keine Ahnung hatte, wo ich mich befand. Außer dem schmalen Steg, der in eine riesige anthrazitfarbene Nebelbank führte – gerade hatte sie den Jungen verschluckt, als wäre er nie da gewesen –, gab es hier nichts. Keine Bäume, an denen ich hochklettern und mir einen Überblick verschaffen konnte, keine Wege, keine Schilder, kein fester Grund. Etwas Trostloseres als diesen Sumpf hatte ich nie gesehen, und nun, da ich den Jungen nicht mehr erkennen konnte, bekam ich es wieder mit der Angst zu tun. Ich war außer Atem und erschöpft von meinem Kampf gegen das Ertrinken, zu gerne hätte ich mich ein wenig ausgeruht. Doch ich musste ihm folgen, und zwar sofort. Er wollte mich nicht bei sich haben, so viel hatte ich verstanden, aber vielleicht konnte ich mich unbemerkt an seine Fersen heften und den Weg zurück auf die beschilderten Pfade finden. Noch immer klammerte ich mich an die Idee, mich lediglich verirrt zu haben, dass der Wald sich in den vergangenen Jahren tatsächlich so stark verändert hatte, dass ich ihn nicht mehr wiedererkannte. Mama hatte mich davor gewarnt. Außerdem befand ich mich auf einem hölzernen Steg, und im Nationalpark am Fuße des Mount Taranaki wimmelte es von Stegen.

Mühsam rappelte ich mich auf, wrang mir die letzte Nässe aus den Haaren und meinem Shirt und befreite notdürftig meine nackten Unterschenkel und Unterarme von der Schlammkruste, die sie inzwischen bedeckte. Es beruhigte mich, dass ich meine Kette mit dem kleinen Feuerstein noch trug, die Papa mir geschenkt hatte. Mein Handy und meinen Rucksack hatte ich im Sumpf allerdings auf Nimmerwiedersehen verloren, und damit auch meinen Proviant, und meine Kehle brannte bereits vor Durst. Auch meine Schuhe hatte der Schlamm mir von den Füßen gezogen. Aber irgendwohin würde dieser Steg führen, und ich hatte schon ganze Tageswanderungen hinter mich gebracht, ohne viel zu essen und zu trinken. Ich würde das schaffen und nach Hause finden.

Doch als ich nach wenigen Schritten in die nächste dichte Nebelbank eintauchte, fühlte ich mich wie der letzte Mensch auf der Welt.

Einsam, verloren, vergessen.

Amuria

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