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Die vier »Grundlagen«

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Als ein an der Strenge exakter Wissenschaften ausgebildeter Geist hat Pascal die Gesamtheit der Wirklichkeit – die physikalische Welt, das menschliche Dasein, die Geschichte – eingehend erforscht, um darin einige unumstößliche Tatsachen aufzudecken, die in entscheidender Weise auf die christliche Weltsicht verweisen. Hierüber erklärt er sich eindeutig: »Ich möchte hier lediglich all diejenigen Grundlagen der christlichen Religion offenlegen, die unzweifelhaft sind und die durch niemanden, wer auch immer es sei, in Zweifel gezogen werden können.« Wenn er auch vor Auschwitz reflektiert, ist er, um ein Beispiel zu nennen, über die eigentümliche Stellung Israels innerhalb der kurzen Menschheitsgeschichte frappiert. Auch setzt er sich zum Ziel, zu »sehen, was an der Gesamtlage der Juden klar ist, und was unstrittig«. Das Wichtige ist in seinen Augen tatsächlich das Klare, das Unzweifelhafte, das Unbestreitbare, »das, was ich faktisch (d’effectif) vorfinde«. Es geht darum, einige umfassende Befunde zu erheben, die Denkanstöße liefern, denen sich kein halbwegs anspruchsvoller Mensch entziehen kann.

Das Projekt der Apologie konzentriert sich auf vier dieser »Grundlagen«: das Rätsel des sich selbst überlassenen Menschen, der blind ist gegenüber dem Licht der Offenbarung; der unübertroffene Charakter der christlichen Ideen; die Eigenart der Juden, und schließlich ein einmaliges Weltmodell: die Milleniumsprozession der Propheten, deren scheinbar ungleiche Orakel sich in der faszinierendsten Gestalt der Geschichte realisiert haben, Jesus von Nazareth.

Pascal war sich bewusst, dass man sich von jeder dieser »Grundlagen« aus auf den Weg zum katholischen Glauben machen konnte, ganz gleich von welcher. Die ersten christlichen Jahrhunderte waren häufig vom Prophetismus ausgegangen. Eine der fruchtbarsten Eingebungen des Schriftstellers ist es gewesen, dass der moderne Mensch es vorgezogen habe, von Fragen auszugehen, die er sich selbst stellte. In diesem Punkt bleibt er unser Zeitgenosse.

Der erste Teil des Werks, »Erkenntnis des Menschen«, wird also das Schwanken des Menschen herausstellen, sein Elend und seine Größe, die Widersprüche, die ihn beherrschen, seine erstaunliche Leichtigkeit, in der Oberflächlichkeit zu leben. Man wird diese anrührende Marionette zunächst an die Philosophen verweisen, dann an die bekannten Religionen (was im 17. Jahrhundert zunächst einmal bedeutet: an den Islam). Aber die widersprüchlichen Reden der Philosophen und die sonderbaren Ideen Mohammeds erweisen sich als unfähig, einen etwas schärferen Verstand zu fesseln. Dem Leser, der sich der Eitelkeit der menschlichen Hirngespinste auf diese Weise bewusst wurde, wird sich dann – wie am Ende des Buches Ijob – die Transzendenz offenbaren, die göttliche Weisheit: Sie allein löst nicht nur das Rätsel des Menschen, sondern bietet einem jeden den Weg der Befreiung und der wahren Größe an. Diese Harmonie zwischen der tiefsten menschlichen Erfahrung und der christlichen Botschaft stellt die erste »Grundlage« dar. Man kann sie intellektuell darlegen, wie Pascal vorschlägt, aber Millionen schriftunkundiger oder wenig gebildeter Menschen sind Christen geworden und geblieben, weil sie das unmittelbare Gefühl einer solchen Harmonie, einer solchen radikalen Richtigkeit lebten.

Auch die zweite »Grundlage« kann zu den schlichtesten Menschen sprechen. Wie soll man leben? Welche der weltweit bestehenden Ideen lässt eine mögliche Transzendenz zu? Sicher weder die Verteidigung der Vergnügungen, die verrinnen wie Sand, noch der Ich-Kult, das Leben für sich, das ans Groteske grenzt. Die menschliche Seele ist von solcher Größe, dass sie sich nur mit einem unendlichen Gut zufriedengeben und dass nichts sie je daran hindern kann. Indem man dem Ich entsagt und sich nicht zum Mittelpunkt von allem macht, indem man sich dem grundlegenden Wert der Liebe öffnet und mit einem Gott der Liebe eins wird, kann jeder ein dauerhaftes Glück erreichen: »Niemand ist so glücklich wie ein wahrer Christ.« Hätte Pascal Indien gekannt, wäre er sicherlich über die Bestätigung verblüfft gewesen, die der zweiten »Grundlage« entgegengebracht wird: dem unübertroffenen Aufruf zur Liebe. Simone Weil, die die Wichtigkeit des Prophetismus verkannte und nur eine Einzelperspektive auf diese Ideale einnahm, versicherte, dass Christus, wäre er im indischen Kulturraum Mensch geworden, die Massen sofort mitgerissen hätte.

Pascal hat nicht die Zeit gehabt, den Teil seiner Apologie zu entwickeln, der dem »wahren Gut« gewidmet ist. Er hat im Gegenzug sehr viel mehr an den beiden letzten »Grundlagen« gearbeitet. Im Vergleich zu den ersten beiden, die weitgehend an die innere Erfahrung appellieren, gelangt man zu Beweisführungen, die eine Geschichtskultur voraussetzen und die unserem Dasein äußerlich zu sein scheinen. Aus diesem Grund hat der Apologet sie als »Beweise von außen« bezeichnet.

»Gewiss ist, dass wir an mehreren Orten der Welt ein besonderes, von allen anderen Völkern der Welt getrenntes Volk sehen, das sich das jüdische Volk nennt […]. Das ist faktisch so […]. Das jüdische Volk zieht meine Aufmerksamkeit zuerst [auf Anhieb] durch die Fülle an bewundernswerten und einzigartigen Dingen an, die sich in ihm zeigen […]. Die Begegnung mit diesem Volk erstaunt mich [bestürzt mich]« (Fr. 269–270; Reihenfolge der Zitate vom Herausgeber geändert). Die historische Existenz Israels veranschaulicht auf paroxystische Weise den Widerspruch zwischen Elend und Größe: einzigartige Größe und beängstigendes Elend. Die jüdische Eigenart klingt wie das Echo der ersten »Grundlage« nach, die Reinheit des Gesetzes Mose kündigt die zweite an, und die »Beständigkeit« dieses Volkes bildet den Rahmen der vierten: Der Prophetismus – auch er weltweit einzigartig in seinem Glanz und seiner Dauer – ist fast ausschließlich israelitisch. Als bibelfester Leser Philons von Alexandria und des Geschichtsschreibers Flavius Josephus, der zudem in einem 1651 in französischer Sprache edierten Werk aus dem 13. Jahrhundert eine umfangreiche Dokumentation, den Glaubensdolch (Pugio fidei), studiert hatte, hat Pascal weite Teile der Gedanken der Meditation über die historische Transzendenz des Volkes Israel gewidmet.

Nichtsdestoweniger ist die Sonne des pascalschen Glaubens, die »Grundlage« par excellence, Christus selbst; ihm weiht der Schriftsteller seine brennende Liebe, ihm gilt sein unversiegbares Wort. Pascals Christus tritt nicht nur als der größte Prophet zutage, sondern als der Konvergenzpunkt einer Vielzahl von Ankündigungen. In Jesus von Nazareth hat sich das Tohuwabohu einer Unmenge von Orakeln in Musik verwandelt. Eine solche – historisch feststellbare – Tatsache bildet ein »fortdauerndes Wunder«, das allen Generationen endgültig unterbreitet wird. Ein Phänomen, das an ein solches Dispositiv hereinreicht, sucht man auf der ganzen Welt vergeblich. Der Mann der Wissenschaft, der die Rechenmaschine erfand, betrachtet den judeo-christlichen Prophetismus als »beweiskräftig«: ihn können nur die umgehen, die nicht sehen wollen. Auch wenn uns seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis der menschlichen Evolution kundgetan hat, dass der Tiefe des Raumes – um die Pascal bereits wusste – ein »dunkler Zeitraum« (P. Rossi) entspricht, erklärt ein solcher Wandel der Weltsicht keineswegs die »Grundlagen« für ungültig, die die Gedanken ans Licht gebracht haben. Sie verpflichtet dazu, sowohl gewisse überholte historische Bezugspunkte als auch die Idee der »Beständigkeit« Israels und des Prophetismus zu korrigieren, lässt aber die »Unbegreiflichkeit« des Menschen, den Glanz der christlichen Ideen, die jüdische Eigenart und mehr noch die Anziehungskraft der Gestalt Jesu intakt, die von so vielen Propheten angedeutet und von einigen mit eigenen Augen gesehen wurde, die aber »in den Augen des Herzens« aufscheint, »die die Weisheit sehen«.

1 A. d. Ü.: Recueil original des Pensées, Bibliothèque nationale, fonds français, n°9202.

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