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2 Abendessen beim Vizerektor

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So ein Mist!«, sagte Curry. Er stand vor dem Kamin in seinen prachtvollen Räumen am Newton-Hof. Er hatte die beste Wohnung im College.

»Etwas von N. O.?«, fragte James Busby. Er, Lord Feverstone und Mark tranken vor dem Abendessen bei Curry miteinander Sherry. N. O. stand für »Non Olet« und war der Spitzname des Rektors von Bracton, Charles Place. Seine Wahl auf diesen Posten, die schon etwa fünfzehn Jahre zurücklag, war einer der frühesten Triumphe des Progressiven Elementes gewesen. Mit dem Argument, das College brauche ›frisches Blut‹ und müsse die ›eingefahrenen akademischen Gleise‹ verlassen, war es ihnen gelungen, einen älteren Verwaltungsbeamten an die Spitze zu bringen, einen Mann, der sich gewiss von keiner akademischen Strömung hatte mitreißen lassen, seit er – noch im vorigen Jahrhundert – sein ziemlich obskures College an der Universität Cambridge absolviert hatte, der jedoch einen monumentalen Untersuchungsbericht über das staatliche Gesundheitswesen verfasst hatte. Das hatte ihn den Fortschrittlichen Kräften sogar eher empfohlen. Sie sahen darin einen Schlag ins Gesicht der Konservativen und Ästheten, die sich revanchierten, indem sie ihren neuen Rektor »Non Olet« tauften. Aber nach und nach hatten auch Places Anhänger den Spitznamen übernommen. Denn Place hatte ihre Erwartungen nicht erfüllt und sich als ein Eigenbrötler mit Hang zur Philatelie erwiesen, dessen Stimme man so selten hörte, dass einige der jüngeren Kollegen nicht wussten, wie sie klang.

»Ja, der Henker soll ihn holen«, sagte Curry. »Will mich gleich nach dem Abendessen in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen.«

»Das bedeutet«, sagte der Schatzmeister, »dass Jewel und Co. bei ihm gewesen sind und nach Möglichkeiten suchen, die ganze Sache rückgängig zu machen.«

»Das kümmert mich verdammt wenig«, erklärte Curry. »Wie kann man einen Mehrheitsbeschluss rückgängig machen? Nein, das ist es nicht. Aber es reicht aus, einem den ganzen Abend zu verderben.«

»Nur Ihren Abend«, erwiderte Feverstone. »Vergessen Sie nicht, uns Ihren speziellen Kognak herauszustellen, bevor Sie gehen.«

»Jewel! Lieber Himmel!«, sagte Busby und vergrub die linke Hand in seinem Bart.

»Eigentlich hat mir der alte Jewel Leid getan«, sagte Mark. Er hatte ganz unterschiedliche Beweggründe für diese Bemerkung. Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass die völlig unerwartete und offensichtlich unnötige Brutalität, mit der Feverstone dem alten Mann begegnet war, ihn abgestoßen hatte. Außerdem verdross ihn die Vorstellung, seinen Lehrstuhl Feverstones Fürsprache zu verdanken und in seiner Schuld zu stehen. Wer war dieser Feverstone? Er meinte, es sei Zeit, seine Unabhängigkeit herauszustellen und zu zeigen, dass seine Zustimmung zu den Methoden des Progressiven Elements nicht als selbstverständlich angesehen werden konnte. Ein gewisses Maß an Unabhängigkeit würde ihm sogar innerhalb dieses Elements zu einer höheren Position verhelfen. Wäre der Gedanke, Feverstone werde eine umso höhere Meinung von ihm haben, wenn er ein wenig die Zähne zeige, ihm in dieser Deutlichkeit gekommen, hätte er ihn wohl als unterwürfig abgetan; aber das war nicht der Fall.

»Mitleid mit Jewel?«, fragte Curry und wandte sich um. »Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie wüssten, wie er in seiner Glanzzeit war.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Feverstone zu Mark, »aber ich halte es mit Clausewitz. Auf lange Sicht ist der totale Krieg am menschlichsten. Ich habe ihn sofort zum Schweigen gebracht. Wenn er den Schock überwunden hat, wird er seine Freude an der Sache haben, denn ich habe ihn in all dem bestätigt, was er seit vierzig Jahren über die jüngere Generation sagt. Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Ihn weiterfaseln zu lassen, bis er sich in einen Hustenanfall oder gar in einen Herzinfarkt hineingesteigert hätte, und ihm dazu noch die Enttäuschung einer höflichen Behandlung zu bereiten.«

»So kann man es natürlich auch sehen«, sagte Mark.

»Verdammt noch mal«, fuhr Feverstone fort, »niemand lässt sich gern sein Kapital nehmen. Was würde der arme Curry hier tun, wenn die Reaktionäre eines Tages aufhörten, reaktionär zu sein? Othello hätte nichts mehr zu tun.«

»Es ist angerichtet, Sir«, sagte Currys ›Schütze‹ – wie man in Bracton die Collegediener nannte.

»Das ist alles Unfug, Dick«, sagte Curry, als sie sich zu Tisch setzten. »Nichts wäre mir lieber, als all diese Reaktionäre und Obstruktionisten loszuwerden und mit der Arbeit voranzukommen. Sie glauben doch nicht etwa, dass es mir Spaß macht, meine ganze Zeit bloß darauf zu verwenden, den Weg freizumachen?« Mark merkte, dass sein Gastgeber über Lord Feverstones Spöttelei ein wenig verärgert war. Letzterer hatte ein männliches und sehr ansteckendes Lachen. Mark fand ihn allmählich sympathisch.

»Und die Arbeit wäre …?«, fragte Feverstone. Ohne Mark direkt anzusehen oder ihm gar zuzuzwinkern, bezog er ihn irgendwie in den Scherz mit ein.

»Nun, manche von uns haben auch noch eine eigene Arbeit«, erwiderte Curry und senkte seine Stimme, um ihr einen ernsteren Ton zu verleihen – etwa so wie manche Menschen ihre Stimmen senken, wenn sie von medizinischen oder religiösen Dingen sprechen.

»Ich wusste nicht, dass Sie so einer sind«, sagte Feverstone.

»Das ist das Schlimme an der Sache«, erwiderte Curry. »Entweder gibt man sich damit zufrieden, dass alles vor die Hunde geht – ich meine: stagniert –, oder man opfert die eigene wissenschaftliche Karriere dieser verfluchten Collegepolitik. Eines Tages werde ich den ganzen Krempel hinwer-fen und mich an mein Buch machen. Das Material habe ich alles beisammen, wissen Sie. Eine lange und ungestörte Ferienzeit, und ich glaube, ich könnte wirklich etwas daraus machen.«

Mark, der Curry noch nie in Bedrängnis gesehen hatte, begann, sich zu amüsieren.

»Verstehe«, sagte Feverstone. »Um den Betrieb des Colleges als Bildungsstätte aufrechtzuerhalten, müssen die besten Köpfe jede Beschäftigung mit ihrem eigenen Fach aufgeben.«

»Genau!«, sagte Curry. »Das ist…« Dann brach er ab, unsicher, ob er nun ernst genommen wurde oder nicht. Feverstone lachte laut los. Der Schatzmeister, der sich bisher ausschließlich dem Essen gewidmet hatte, wischte sich sorgfältig den Bart und ergriff das Wort.

»In der Theorie klingt das alles schön und gut«, sagte er, »aber ich glaube, Curry hat ganz Recht. Angenommen, er gäbe sein Amt als Vizerektor auf und zöge sich in seine Studierstube zurück. Er wäre im Stande, uns mit einem verteufelt guten Buch über Volkswirtschaft zu überraschen …«

»Volkswirtschaft?«, fragte Feverstone mit hochgezogenen Brauen.

»Ich bin zufällig Militärhistoriker, James«, sagte Curry. Er ärgerte sich häufig darüber, dass seine Kollegen anscheinend immer Schwierigkeiten hatten zu behalten, in welchem Fachgebiet er eigentlich arbeitete.

»Ich meine natürlich Militärgeschichte«, sagte Busby. »Aber wie gesagt: er wäre im Stande, uns mit einem verteufelt guten Buch über Militärgeschichte zu überraschen. Das wäre in zwanzig Jahren allerdings überholt. Dagegen wird das College für Jahrhunderte von der Arbeit profitieren, die er jetzt tut. Diese ganze Mühe, das N.I.C.E. nach Edgestow zu holen. Was ist damit, Feverstone? Ich spreche nicht nur von der finanziellen Seite, obwohl ich sie als Quästor natürlich für sehr wichtig halte. Aber denken Sie an das neue Leben, die neuen Perspektiven, die Impulse, die von so etwas ausgehen. Was würde irgendein Buch über Volkswirtschaft …«

»Militärgeschichte«, sagte Feverstone sanft, doch diesmal hörte Busby ihn nicht.

»Was würde irgendein Buch über Volkswirtschaft bewirken, verglichen mit einer solchen Sache?«, fuhr er fort. »Ich betrachte sie als den bisher größten Triumph des angewandten Idealismus in diesem Jahrhundert.«

Der gute Wein tat langsam seine Wirkung. Wir alle kennen die Art von Geistlichen, die nach dem dritten Glas dazu neigen, ihre Amtswürde zu vergessen. Bei Busby war es umgekehrt; nach dem dritten Glas begann er sich seiner geistlichen Würde zu entsinnen. Als Wein und Kerzenlicht seine Zunge lösten, gab der nach dreißig Jahren Abtrünnigkeit noch immer latent in ihm vorhandene Pfarrer seltsame Lebenszeichen von sich.

»Wie Sie wissen«, sagte er, »bin ich keineswegs strenggläubig. Aber ich würde, ohne zu zögern, sagen, dass Curry dadurch, dass er das Institut nach Edgestow gebracht hat, für die Religion in einem weiteren Sinne mehr getan hat als ein Theologe wie Jewel in seinem ganzen Leben.«

»Nun«, erwiderte Curry bescheiden, »das ist natürlich, was man sich erhofft. Ich würde es vielleicht nicht so ausdrücken wie Sie, James …«

»Nein, nein«, sagte der Schatzmeister. »Natürlich nicht. Jeder hat seine eigene Sprache, aber wir meinen wirklich alle das Gleiche.«

»Hat eigentlich schon jemand herausgefunden«, fragte Feverstone, »was das N.I.C.E. eigentlich ist und was es tun will?«

Curry sah ihn überrascht an. »Aus Ihrem Mund, Dick, klingt das merkwürdig«, sagte er. »Ich dachte, Sie gehören selbst dazu.«

»Ist es nicht ein wenig naiv«, sagte Feverstone, »anzunehmen, dass man, wenn man irgendwo dazugehört, auch das offizielle Programm genau kennt?«

»Na schön, wenn Sie Einzelheiten meinen«, sagte Curry und brach dann ab.

»Sie machen ein großes Geheimnis um nichts, Feverstone«, sagte Busby. »Ich dachte, die Zielsetzungen des N.I.C.E. wären völlig klar. Es ist der erste Versuch, die angewandte Wissenschaft auf nationaler Ebene ernst zu nehmen. Der Größenunterschied zwischen dem geplanten Institut und allem, was wir bisher hatten, ist beinahe schon ein qualitativer Unterschied. Allein die Gebäude, allein der Apparat – bedenken Sie, was das für die Industrie bedeutet. Bedenken Sie, in welchem Umfang es die Talente des Landes mobilisieren wird; und nicht nur die wissenschaftlichen Talente im engeren Sinn. Fünfzehn Abteilungsdirektoren, jeder mit einem Jahresgehalt von fünfzehntausend Pfund! Eine eigene Rechtsabteilung, eine eigene Polizei, wie ich höre! Ein eigener ständiger Stab von Architekten, Sachverständigen und Ingenieuren! Die Sache ist kolossal!«

»Karrieren für unsere Söhne«, sagte Feverstone. »Ich verstehe.«

»Was wollen Sie damit sagen, Lord Feverstone?«, fragte Busby und setzte sein Glas ab.

»Ach Gott!«, sagte Feverstone, und seine Augen lachten. »Wie taktlos von mir. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie Familie haben, James.«

»Ich stimme James zu«, sagte Curry, der ungeduldig auf eine Gelegenheit gewartet hatte, wieder das Wort zu ergreifen. »Das Institut steht für den Beginn eines neuen Zeitalters – des wirklich wissenschaftlichen Zeitalters. Bisher war alles mehr oder weniger zufällig. Von nun an wird die Wissenschaft selbst auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt. Es wird vierzig ständige Ausschüsse geben, die jeden Tag zusammentreten und über ein großartiges Gerät verfügen – das Modell habe ich gesehen, als ich das letzte Mal in der Stadt war. Es ist ein Gerät, das die Arbeitsergebnisse eines jeden Ausschusses fortlaufend und selbsttätig auf eine analytische Anzeigetafel projiziert. Jeder einlaufende Bericht stellt sich selbst in seinen sachlichen Zusammenhang und weist durch kleine Pfeile auf die entsprechenden Teile der anderen Berichte hin. Ein Blick auf die Tafel, und die Arbeit des gesamten Instituts nimmt vor unseren Augen Gestalt an. Im obersten Geschoss wird ein Stab von mindestens zwanzig Fachleuten an der Anzeigetafel arbeiten – in einem Raum etwa wie die Kontrollräume der Untergrundbahn. Es ist ein großartiges Gerät. Jeder Arbeitsbereich erscheint in einer anderen farbigen Leuchtschrift. Das Gerät muss eine halbe Million gekostet haben. Sie nennen es ein Pragmatometer.«

»Und daran können Sie sehen«, sagte Busby, »was das Institut bereits für das Land tut. Die Pragmatometrie wird eine große Zukunft haben. Hunderte von Leuten spezialisieren sich darauf. Wahrscheinlich wird diese analytische Anzeigetafel schon veraltet sein, bevor das Gebäude überhaupt fertig ist!«

»Ja, bei Gott«, sagte Feverstone. »Und N. O. selbst hat mir heute Morgen erzählt, dass die sanitären Einrichtungen des Institutsgebäudes ganz außergewöhnlich sein würden.«

»Das stimmt«, sagte Busby mit Nachdruck. »Ich sehe nicht, warum man das für unwichtig halten sollte.«

»Und was halten Sie davon, Studdock?«, fragte Feverstone.

»Ich denke«, sagte Mark, »James hat bereits den wichtigsten Punkt erwähnt, dass nämlich das Institut seine eigene Rechtsabteilung und seine eigene Polizei haben wird. Ich gebe keinen Pfifferling auf Pragmatometer und Luxustoiletten. Das Wesentliche ist, dass wir diesmal wissenschaftlich an die großen sozialen Aufgaben herangehen und dabei von der ganzen Macht des Staates unterstützt werden, ebenso wie in der Vergangenheit Kriege von der ganzen Macht des Staates unterstützt wurden. Es ist natürlich zu hoffen, dass man mit diesen Mitteln weiter kommt als die alte ungebundene Wissenschaft. Auf jeden Fall wird es mehr Möglichkeiten geben.«

»Verdammt«, sagte Curry mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich muss jetzt gehen und mit N. O. reden. Wenn Sie nach dem Wein noch Kognak möchten, die Flasche steht in diesem Schrank. Schwenker sind in dem Fach darüber. Ich werde so bald wie möglich zurückkommen. Sie wollen doch nicht schon gehen, James?«

»Doch«, erwiderte der Quästor. »Ich will früh zu Bett. Aber lasst ihr beiden euch nicht stören. Ich bin schon den ganzen Tag auf den Beinen, müssen Sie wissen. Wer an diesem College ein Amt bekleidet, ist ein Dummkopf. Ständige Sorgen. Erdrückende Verantwortung. Und dann gibt es Leute, die einem erzählen wollen, dass all die kleinen Bücherwürmer, die ihre Nasen bloß in die Bibliotheken und Labors stecken, die eigentliche Arbeit tun! Ich wüsste gern, wie Glossop und seine Freunde ein Tagespensum bewältigen würden, wie ich es heute hinter mir habe. Auch Sie, Curry, hätten ein leichteres Leben, wenn Sie bei der Volkswirtschaft geblieben wären.«

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt …«, begann Curry, doch der Schatzmeister hatte sich bereits erhoben, beugte sich über Lord Feverstone und erzählte ihm irgendeine lustige Anekdote.

Als die beiden Männer den Raum verlassen hatten, sah Lord Feverstone Mark einige Sekunden lang mit einem rätselhaften Ausdruck an. Dann schmunzelte er, und aus dem Schmunzeln wurde ein Lachen. Er warf seinen schlanken, kräftigen Körper in den Sessel zurück und lachte lauter und immer lauter. Sein Lachen war sehr ansteckend, und auch Mark lachte unwillkürlich – ganz aufrichtig und sogar hilflos, wie ein Kind. »Pragmatometer – Luxustoiletten – angewandter Idealismus!«, keuchte Feverstone. Außerordentliche Erleichterung überkam Mark. Alle möglichen Eigenheiten an Curry und Busby, die er in seiner Ehrfurcht vor dem Progressiven Element zuvor gar nicht oder nur flüchtig wahrgenommen hatte, fielen ihm jetzt ein. Er fragte sich, wie er die komischen Seiten an ihnen nicht hatte sehen können.

»Es ist wirklich ziemlich verheerend«, sagte Feverstone, als er sich halbwegs erholt hatte, »dass die Leute, auf die man zur Erledigung der Arbeit angewiesen ist, solchen Blödsinn reden, sobald man sie über die Arbeit selbst ausfragt.«

»Und doch sind sie in gewisser Weise das Hirn von Bracton«, sagte Mark.

»Großer Gott, nein! Glossop und Bill der Blizzard und selbst der alte Jewel sind zehnmal klüger.«

»Ich wusste nicht, dass Sie das so sehen.«

»Ich denke, dass Glossop und seine Freunde im Irrtum sind. Ich halte ihre Vorstellungen von Kultur und Wissen und so weiter für unrealistisch. Sie passen nicht mehr in die Welt, in der wir leben. Es sind reine Hirngespinste. Aber es sind immerhin klare Vorstellungen, und sie versuchen, konsequent danach zu handeln. Sie wissen, was sie wollen. Unsere beiden armen Freunde dagegen kann man zwar überreden, den richtigen Zug zu nehmen und ihn sogar zu lenken, doch sie haben nicht die leiseste Ahnung, wohin der Zug fährt oder warum. Sie werden Blut und Wasser schwitzen, um das N.I.C.E. nach Edgestow zu holen: darum sind sie unentbehrlich. Aber worum es dem Institut geht, worum es bei irgendetwas geht – fragen Sie sie besser nicht danach. Pragmatometrie! Fünfzehn Abteilungsdirektoren!«

»Nun, vielleicht bin ich genauso.«

»Ganz und gar nicht. Sie haben den entscheidenden Punkt sofort erkannt. Ich hatte es auch nicht anders von Ihnen erwartet. Ich habe alles gelesen, was Sie seit Ihrer Bewerbung um den Lehrstuhl hier geschrieben haben. Darüber wollte ich mit Ihnen reden.«

Mark schwieg. Das Schwindel erregende Gefühl, plötzlich von einer Geheimnisebene auf eine andere gewirbelt zu werden, verbunden mit der zunehmenden Wirkung von Currys ausgezeichnetem Portwein, verschlug ihm die Sprache.

»Ich möchte, dass Sie zum Institut kommen«, sagte Feverstone.

»Sie meinen – ich soll Bracton verlassen?«

»Das wäre doch denkbar, oder? Jedenfalls denke ich, dass Sie hier nichts verloren haben. Wenn N. O. in den Ruhestand geht, machen wir Curry zum Rektor und …«

»Es wurde davon gesprochen, Sie zum Rektor zu wählen.«

»O Gott!« sagte Feverstone erstaunt. Mark begriff, dass der Vorschlag sich in Feverstones Augen ausnehmen musste wie die Anregung, er solle Rektor einer kleinen Hilfsschule werden, und er war froh, dass er seine Bemerkung in einem nicht allzu ernsten Ton vorgebracht hatte. Dann lachten sie wieder.

»Sie, Mark, zum Rektor zu machen«, sagte Feverstone, »wäre absolute Verschwendung. Das ist der richtige Job für Curry. Er wird ihn sehr gut machen. Wir brauchen jemanden, der die Tagesgeschäfte und das Drahtziehen als Selbstzweck betrachtet und nicht ernsthaft fragt, wozu das alles gut ist. Wenn er das täte, würde er anfangen, seine eigenen – nun, wahrscheinlich würde er sie ›Gedanken‹ nennen – einzubringen. Wie die Dinge liegen, brauchen wir ihm nur zu sagen, er halte Soundso für einen Mann, den das College braucht, und er wird ihn dafür halten. Er wird dann keine Ruhe geben, bis dieser Soundso einen Lehrstuhl bekommt. Und genau dafür brauchen wir das College: als ein Schleppnetz, ein Rekrutierungsbüro.«

»Als ein Rekrutierungsbüro für das Institut, meinen Sie?«

»Ja, in erster Linie. Aber das ist nur ein Teilaspekt.«

»Ich bin nicht sicher, dass ich Sie verstanden habe.«

»Bald werden Sie verstehen. Die richtige Seite und all das, Sie wissen schon. Typisch Busby, zu sagen, die Menschheit stehe am Scheideweg. Aber im Moment ist die entscheidende Frage, auf welcher Seite man steht – Obskurantismus oder Ordnung. Es sieht wirklich so aus, als könnten wir als Spezies jetzt endlich für recht lange Zeit eine feste Stellung beziehen und unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Wenn der Wissenschaft wirklich freie Hand gelassen wird, kann sie jetzt die menschliche Rasse beherrschen und umformen, den Menschen zu einem wirklich leistungsfähigen Tier machen. Wenn sie es nicht schafft – nun, dann sind wir erledigt.«

»Fahren Sie fort.«

»Es gibt drei Hauptprobleme. Erstens: das interplanetarische Problem.«

»Was in aller Welt wollen Sie damit sagen?«

»Nun, das tut nichts zur Sache. Hier können wir gegenwärtig nichts tun. Der einzige Mann, der uns da weiterhelfen konnte, war Weston.«

»Er kam bei einem Bombenangriff um, nicht wahr?«

»Er wurde ermordet.«

»Ermordet?«

»Ich bin ziemlich sicher, und ich denke, ich weiß sogar, wer der Mörder war.«

»Großer Gott! Und da kann man nichts machen?«

»Es gibt keine Beweise. Der Mörder ist ein angesehener Professor in Cambridge, hat schlechte Augen, ein lahmes Bein und einen blonden Bart. Er war schon hier bei uns zu Gast.«

»Und weshalb wurde Weston ermordet?«

»Weil er auf unserer Seite stand. Der Mörder ist einer von der feindlichen Seite.«

»Wollen Sie allen Ernstes behaupten, er habe ihn deshalb ermordet?«

»Jawohl!«, sagte Feverstone und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das ist der springende Punkt. Leute wie Curry oder James plappern über den Kampf gegen die Reaktion. Dabei kommt ihnen nie in den Sinn, dass es ein wirklicher Kampf mit wirklichen Verlusten sein könnte. Sie denken, der gewaltsame Widerstand der anderen Seite habe mit der Verfolgung Galileis und alledem aufgehört. Glauben Sie das bloß nicht. Jetzt geht es überhaupt erst richtig los. Die andere Seite weiß, dass wir endlich über tatsächliche Kräfte verfügen; dass die Frage, welchen Weg die Menschheit gehen wird, in den nächsten sechzig Jahren entschieden wird. Sie werden um jeden Zollbreit kämpfen und vor nichts zurückschrecken.«

»Sie können nicht gewinnen«, sagte Mark.

»Hoffen wir es«, sagte Lord Feverstone. »Ich glaube es auch nicht. Aber gerade darum ist es von so immenser Bedeutung für jeden von uns, die richtige Seite zu wählen. Wenn Sie versuchen, neutral zu bleiben, werden Sie einfach zu einer Schachfigur.«

»Oh, ich habe nicht den leisesten Zweifel, auf welcher Seite ich stehe«, sagte Mark. »Zum Teufel – der Fortbestand der Menschheit ist eine verdammt grundsätzliche Verpflichtung.«

»Nun, ich persönlich teile Busbys Begeisterung nicht«, sagte Feverstone. »Es ist ein bisschen versponnen, sich in seinem Handeln leiten zu lassen von der angeblichen Sorge darum, was in ein paar Millionen Jahren geschehen wird; und Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die andere Seite behauptet, das Wohl und den Fortbestand der Menschheit zu verteidigen. Beide Haltungen lassen sich psychologisch erklären. Der praktische Aspekt ist, dass Sie und ich nicht gern anderer Leute Schachfiguren sind und lieber kämpfen – besonders auf der Seite der Gewinner.«

»Und welches ist der erste praktische Schritt?«

»Ja, das ist die eigentliche Frage. Das interplanetarische Problem muss, wie gesagt, einstweilen beiseite gelassen werden. Das zweite Problem sind unsere Konkurrenten auf diesem Planeten. Ich meine damit nicht bloß Insekten und Bakterien. Es gibt viel zu viel Leben jeglicher Art, tierisches und pflanzliches. Wir haben noch nicht richtig aufgeräumt. Zuerst konnten wir nicht, und dann hatten wir ästhetische und humanitäre Skrupel. Und wir haben die Frage des Gleichgewichts in der Natur noch immer nicht gelöst. All das muss noch untersucht werden. Das dritte Problem ist der Mensch selbst.«

»Fahren Sie fort. Dies interessiert mich sehr.«

»Der Mensch muss sich des Menschen annehmen. Das bedeutet natürlich, dass einige Menschen sich des Restes annehmen müssen – und dies ist ein weiterer Grund, so bald wie möglich einzusteigen. Schließlich wollen Sie und ich zu denen gehören, die sich der anderen annehmen, nicht zu denen, derer man sich annimmt.«

»Und was haben Sie vor?«

»Am Anfang stehen ganz einfache und nahe liegende Dinge – Sterilisierung der Untauglichen, Liquidierung rückständiger Rassen (Ballast können wir nicht gebrauchen) und Zuchtwahl. Dann richtige Erziehung, einschließlich pränataler Erziehung. Unter richtiger Erziehung verstehe ich eine, die mit dem Prinzip der Freiwilligkeit und ähnlichem Unsinn aufräumt. Eine richtige Erziehung bringt den Schüler unfehlbar dorthin, wo sie ihn haben will, was immer er oder seine Eltern auch dagegen unternehmen mögen. Natürlich wird sie zuerst hauptsächlich psychologisch sein müssen; aber am Ende werden wir mit biochemischer Konditionierung und direkter Manipulation des Gehirns arbeiten.«

»Aber das ist ja umwerfend, Feverstone.«

»Es ist das einzig Wahre: ein neuer Menschentyp. Und Leute wie Sie müssen den Anfang machen.«

»Da liegt ein Problem für mich. Bitte halten Sie es nicht für falsche Bescheidenheit, aber ich weiß nicht, was ich dazu beitragen könnte.«

»Nein, aber wir wissen es. Sie sind genau, was wir brauchen: ein ausgebildeter Soziologe mit radikal realistischen Ansichten, der sich nicht scheut, Verantwortung zu übernehmen. Außerdem ein Soziologe, der schreiben kann.«

»Sie wollen doch nicht, dass ich dies alles niederschreibe?«

»Nein. Wir wollen, dass Sie es umschreiben – es verschleiern. Natürlich nur für den Anfang. Ist die Sache erst einmal in Gang gekommen, werden wir uns um die Großherzigkeit der britischen Öffentlichkeit nicht weiter kümmern brauchen. Wir werden daraus machen, was wir wollen. Aber bis es soweit ist, kann uns nicht gleichgültig sein, wie die Dinge dargestellt werden. Würde zum Beispiel nur andeutungsweise bekannt, dass das Institut Vollmachten für Experimente an Kriminellen will, so hätten wir sofort alle alten Weiber beiderlei Geschlechts mit ihrem Gezeter über Humanität am Hals. Nennen Sie es dagegen Umerziehung der Nichtangepassten, und schon geifern sie vor Freude, dass die Zeit des vergeltenden Strafrechts endlich zu Ende ist. Ein seltsames Phänomen: Das Wort ›experimentieren‹ zum Beispiel ist unpopulär, nicht aber das Wort ›experimentell‹. Mit Kindern darf man nicht experimentieren: aber bieten Sie den lieben Kleinen kostenlose Erziehung in einer experimentellen Schule, die dem Institut angeschlossen ist, und alles ist in bester Ordnung.«

»Wollen Sie damit sagen, dass diese — hm – journalistische Tätigkeit meine Hauptaufgabe sein würde?«

»Es hat nichts mit Journalismus zu tun. Ihre Leser wären in erster Linie die Ausschüsse des Unterhauses, nicht die Öffentlichkeit. Aber das wäre in jedem Falle nur ein Nebenaspekt. Was die Stelle selbst angeht – nun, es ist unmöglich vorauszusagen, wie sich das entwickeln wird. Bei einem Mann wie Ihnen brauche ich die finanzielle Seite nicht eigens zu betonen. Sie würden in einem relativ bescheidenen Rahmen anfangen, vielleicht fünfzehnhundert Pfund im Jahr.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Mark, der dennoch vor Aufregung ganz rot wurde.

»Natürlich muss ich Sie warnen«, sagte Feverstone. »Die Sache ist gefährlich. Vielleicht jetzt noch nicht, aber wenn die Dinge wirklich ins Rollen kommen, dann ist es durchaus möglich, dass man versuchen wird, Sie um die Ecke zu bringen, wie den armen alten Weston.«

»Ich glaube, daran habe ich auch nicht gedacht«, sagte Mark.

»Hören Sie zu«, sagte Feverstone. »Ich fahre Sie morgen zu John Wither. Er hat mir gesagt, ich solle Sie am Wochenende mitbringen, wenn Sie interessiert wären. Sie werden dort alle wichtigen Leute kennen lernen, und es wird Ihnen helfen, Ihre Entscheidung zu treffen.«

»Was hat Wither damit zu tun? Ich dachte, Jules stehe an der Spitze des N.I.C.E.« Horace Jules war ein bekannter Schriftsteller und Autor populärwissenschaftlicher Bücher, dessen Name in der Öffentlichkeit fast immer in Verbindung mit dem neuen Institut genannt wurde.

»Jules! Er ist das Aushängeschild«, sagte Feverstone. »Sie glauben doch nicht, dass dieses kleine Maskottchen im Ernst etwas zu sagen hätte! Er ist der richtige Mann, um dem britischen Publikum in den Wochenendzeitungen das Institut nahe zu bringen, und dafür bezieht er ein üppiges Gehalt. Für die eigentliche Arbeit taugt er nicht. In seinem Kopf hat er nichts als sozialistische Ideen des neunzehnten Jahrhunderts und dummes Zeug über die Menschenrechte. Er ist ungefähr so weit wie Darwin gekommen!«

»Kann ich mir denken«, sagte Mark. »Ich habe mich immer gewundert, dass er überhaupt mit von der Partie ist. Nun, da Sie so freundlich sind, werde ich Ihr Angebot annehmen und das Wochenende mit zu Wither fahren. Wann wollen Sie los?«

»Gegen Viertel vor elf. Sie wohnen draußen in Sandawn, nicht wahr? Ich könnte vorbeikommen und Sie abholen.«

»Vielen Dank. Nun erzählen Sie mir von Wither.«

»John Wither«, begann Feverstone, brach aber plötzlich ab. »Mist!«, sagte er. »Da kommt Curry. Jetzt müssen wir uns alles anhören, was N. O. gesagt hat und wie geschickt unser Obertaktiker ihn eingewickelt hat. Laufen Sie nicht weg. Ich werde Ihre moralische Unterstützung brauchen.«

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