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1 Du sitzt hier doch genauso fest wie ich

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5 Jahre später

Die Sperrstunde war bereits verstrichen und Maya wünschte sich, die drei verbliebenen Gäste würden endlich zahlen und ihr Café verlassen. Nicht nur, weil es spät war. Es lag auch an dem Thema, um das es sich an diesem Tisch bereits den ganzen Abend drehte. Maya konnte sich keinen Ärger leisten. Und in Zeiten wie diesen war es so einfach, sich Ärger einzuhandeln. Da reichte es schon, wenn irgendjemand ausplauderte, dass man Gäste in seinem Laden duldete, die die falschen Gedanken dachten. Die Mocovic–Brüder hatten schon Leute für Weniger einsperren oder schlicht verschwinden lassen. Wie immer bei dem Namen Mocovic stellten sich sämtliche Härchen an Mayas Körper auf. Wenn sie sich vor ein paar Jahren dem Willen ihrer Familie gebeugt hätte, wäre sie jetzt auch Teil der Mocovics. Wäre dann alles anders gekommen? Das fragte sie sich oft. Aber die Tatsache, dass die Dinge sich so entwickelt hatten, konnte nicht alleine an ihrer Entscheidung gelegen haben. Zu viel hatte sich verändert, seit ihre Familie – die Familie Stratov – den Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt Oziljak verloren hatte.

Maya hatte sich geweigert, Victor, den jüngeren der beiden Mocovic-Brüder zu heiraten. Ohne ihn vorher auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben. Jetzt wusste sie natürlich, wer Viktor Mocovic war. Sein Bild war ständig in allen Zeitungen. Schließlich war er der neue Patron der Stadt. Ein junger Patron, ein brutaler, gnadenloser Patron. Anders, als es zuvor ihr Vater gewesen war.

Die Stratovs hatten ihr Geld mit einem undurchschaubaren Geflecht von Geschäften gemacht, hatten klug taktiert, Bündnisse geschlossen und waren zur ersten Familie Oziljaks aufgestiegen. Mit mehr Einfluss, als es zuvor jemals eine Unternehmerdynastie gehabt hatte. Alle hatten nach der Pfeife ihres Vaters getanzt. Politik, Justiz, Medien. Er hatte sie alle bezahlt und die Stadt als „guter Patron“ quasi regiert. »Mafiöse Strukturen« hatten einige Kritiker angemerkt. Sicher. Denn Markus Stratov hatte im Schatten die Fäden gezogen. Die Menschen hatten lange nicht gemerkt, wer eigentlich über sie bestimmte. Doch als sie es begriffen hatten, hatte sich niemand mehr gewehrt. Zu gut war es vielen seither gegangen. Denn die Gewinne ihres Vaters waren gestiegen. Das hatte den Menschen in Oziljak Arbeit verschafft und niemand konnte oder wollte sich gegen ein System wehren, das Arbeitsplätze schaffte - selbst, wenn es undemokratisch war. Die Zeitungen hatten von rosigen Zeiten berichtet. Die nicht so strahlenden Seiten seiner Regentschaft hatte er seinem neuen Freund Gabriel Mocovic und dessen Familie überlassen. Sie hatten die schlimmen Ecken gesäubert, hatten für Mayas Vater aufgeräumt. Die Männer fürs Grobe. Eine eigene Schutztruppe - zusätzlich zur gekauften Polizei. Doch Gabriel Mocovic war nicht dumm gewesen. Er hatte gewittert, dass bei Mayas Vater mehr zu holen war, als nur Geld. Er hatte Einfluss haben wollen. Und ihr Vater war bereit gewesen - oder auch gezwungen - Mocovic mehr zu geben. Seine jüngere Tochter für Mocovics jüngeren Sohn. Als Maya sich geweigert hatte, waren die Dinge in Schieflage geraten.

Aber wie hätte Maya sich auch nicht weigern können? Schließlich hatte sie nicht die geringste Ahnung gehabt, wie die Dinge in Oziljak liefen. Vier Jahre war sie im Ausland gewesen, hatte studiert, sich ihrer Kunst gewidmet und nicht einen Moment an ihre Familie gedacht. Es war ihr schon immer suspekt gewesen, Mitglied einer so einflussreichen Dynastie zu sein. In Ihrer Kindheit hatte ihr Vater sie und ihre Geschwister benutzt, um seinem Aufstieg ein menschliches, weiches Gesicht zu verleihen. Ständig waren Michael, Mia und Maya für die Gazetten der Stadt abgelichtet worden. Mia als „die Große“, Michael als „der Nachfolger“ und Maya als Nesthäkchen. Es war ihr unangenehm gewesen, fotografiert zu werden. Dann, als Maya vierzehn Jahre alt war, war ihre Mutter an Krebs gestorben und Maya hatte begonnen, sich abzukapseln. Sie hatte gegen den Drill ihres Vaters rebelliert und bei der ersten Gelegenheit Reißaus genommen. Ihr Vater hatte ihr, scheinbar kommentarlos, ihren Willen gelassen. Sie hatte im Ausland eine Kunstschule besuchen dürfen, war nicht zu Familienfesten zitiert worden und fortan auch nicht mehr Gegenstand der Klatschpresse. Die Tatsache, dass diese Freiheiten ihren Preis haben würden, und dass ihr Vater diesen Preis einfordern würde, hatte sie verdrängt. Ahnungslos war sie zurückgekommen. Und war aus allen Wolken gefallen, als ihr Vater ihr seine Pläne erklärte.

„Ich brauche dich. Du wirst das für die Familie tun!“, hatte er gefordert. Maya konnte sich mühelos ins Gedächtnis rufen, wie ihr Vater in der Bibliothek des riesigen Stratov-Anwesens vor ihr gestanden hatte. Unnachgiebig und autoritär. Dabei war er nicht einmal sehr groß oder sehr stark gewesen. Seine Haltung hatte es ausgemacht. Und sein messerscharfer Verstand. Solchen Menschen widersprach man nicht.

„Ich weiß nicht, was du hast“, hatte es ihr Bruder Michael versucht. Um einiges sanfter als ihr Vater. „Viktor ist doch eine glänzende Partie. Er sieht ziemlich gut aus. Die Frauen reißen sich um ihn und du? Du willst ihn nicht!“ Er hatte die Hände in die Luft geworfen, wie um zu sagen. „Ich verstehe sie nicht, ich kann ihr auch nicht helfen.“ Dabei hatte er Mayas Schwester einen vielsagenden Blick zugeworfen.

Doch Mia hatte nur geschwiegen. Ihre Ehe mit Richard Krik war zwei Jahre zuvor arrangiert worden. Sie hatte ihr nicht helfen wollen. Vielleicht hatte sie auch nicht gekonnt.

Maya zuckte mit den Schultern. Wie es auch gewesen sein mag, es war egal. Sie hatte sich noch am selben Abend erneut davon gemacht. Zuerst ins Bett eines gutaussehenden Fremden, dann wieder außer Landes, zurück an ihre Schule. Sie musste lächeln, als sie an die Nacht mit Sebastian dachte. An die schwarzen Haare und die blitzenden blaugrauen Augen. Damals hatte die Welt, wie sie sie kannte, gerade eben den ersten Riss bekommen. Seitdem war es unaufhörlich bergab gegangen.

Wieder in ihrem Studienexil angekommen, hatte sie erwartet, ihre Familie würde hartnäckig versuchen, sie doch noch zu dieser Ehe zu zwingen. Jeden Morgen hatte sie damit gerechnet, die Männer ihres Vaters würden schon bald vor ihrer Tür stehen und sie mitnehmen. Aber das war nie geschehen. Stattdessen waren in den Zeitungen Berichte aufgetaucht – Randnotizen über Bandenkriege und organisiertes Verbrechen in ihrer Heimatstadt. Maya hatte sich gefragt, ob ihr Vater die Kontrolle verloren hatte.

Wenig später hatte sie den Anruf erhalten. Mias Stimme hatte beherrscht geklungen, aber Maya war die Verzweiflung dahinter nicht entgangen.

„Vater und Michael sind tot. Die Mocovics haben alles an sich gerissen. Maya, komm nicht hier her! Komm auf gar keinen Fall hier her! Nicht einmal zur Beerdigung, hörst du?“

Düster blickte Maya in ihrem Café vor sich hin. Sie sollte endlich aufhören, sich selbst zu geißeln. Das führte doch zu nichts. Es war, wie es war. Und so würde es auch noch für eine ganze Weile bleiben, denn Viktor Mocovic sorgte schon dafür, dass jeder, der seinen Sturz forderte, schon bald sein eigenes Blut zu schlucken bekam. Maya atmete tief durch. Es war jetzt wirklich Zeit, hier Schluss zu machen. Sie legte das Geschirrtuch, das sie gedankenverloren geknetet hatte, auf den Tresen und trat an den Tisch mit ihren verbliebenen Gästen.

„Das ist so ungerecht!“, schimpfte die Frau mit den langen mausbraunen Haaren gerade zum wiederholten Mal. Ihre zwei Begleiter, ein hagerer, großer Blonder und ein etwas Kleinerer mit dunklen Haaren, nickten - ebenfalls nicht zu ersten Mal an diesem Abend.

„Leute, ich wäre euch dankbar, wenn ihr die Ungerechtigkeiten dieser Welt wann anders und vor allem woanders klären könntet“, begann Maya. Die Gruppe verstummte und die beiden Männer sahen ertappt drein. Die Frau jedoch warf ihre strähnigen Haare zurück und blickte Maya herausfordernd an.

„Ich dachte, dieses Lokal sei anders“, schnappte sie.

„Und selbst wenn, kommt die Besitzerin dieses anderen Lokals trotzdem nicht ohne Schlaf aus. Im Ernst, es ist schon spät“, erwiderte Maya so freundlich wie möglich. Doch es half nichts gegen die Streitlust dieser Frau. Ihr schmaler Mund verzog sich spöttisch.

„Ich bin der Meinung, es ist nie zu spät, sich über die Dinge zu unterhalten, die in dieser Stadt schief laufen.“

„Cordula!“, der große Hagere legte seiner Freundin warnend die Hand auf den Arm. Sie wagte sich eindeutig auf zu gefährliches Gebiet. In Oziljak konnte man niemandem trauen. Maya seufzte.

„Meinetwegen. Aber geht dafür woanders hin, bitte.“ Sie zückte demonstrativ ihren Geldbeutel.

Die beiden Männer beeilten sich zu zahlen. Ihre Freundin dagegen ließ sich Zeit und murmelte halblaut vor sich hin, während sie die Münzen aus ihrer Börse zählte.

„Woanders hingehen… am besten auswandern… als ob das so einfach wäre… ohne Geld kommst du doch nur bis zur nächsten Stadt... da ist es auch nicht viel anders.“ Und mit einem bitteren Lächeln sah sie Maya in die Augen und ergänzte:

„Du sitzt doch hier genauso fest wie wir.“ Damit erhoben sich Mayas Gäste und ließen sie endlich allein. Maya schloss hinter den Dreien ab und räumte das restliche Geschirr in die Spüle. Abwaschen würde sie morgen. Dazu fehlte ihr heute die Lust. Mit einem feuchten Lappen wischte sie die restlichen Tische ab und stellte die Stühle nach oben.

Natürlich saß sie hier fest. Auf ihre eigene Weise. Sie hielt sich selbst hier fest und wusste nicht einmal so recht wieso. Sie verband keine sentimentalen Gefühle mit der Stadt, in der sie geboren worden war. Noch dazu war es hier für sie gefährlicher, als an jedem anderen Ort der Welt. Sicher, die Mocovics hatte es schon lange aufgegeben nach den Stratov-Schwestern zu suchen. Aber wenn sie jemand wiedererkannte und darüber redete….

Wahrscheinlich würde der Patron einfach die Gelegenheit nutzen, noch ein Mitglied der Familie Stratov hinzurichten. Der falsche Name und die Tatsache, dass sie als erwachsene Maya Stratov früher so gut wie nie in Oziljak unterwegs gewesen war, schützten sie vorerst. Von Maya Stratov gab es, soweit sie wusste, keine Bilder. Aber sicher fühlen konnte sie sich trotzdem nie. Was war es also dann?

Da waren die Kinder, für die sie Verantwortung hatte. Nicht ihre eigenen, selbstverständlich. Es waren Kinder – Teenager eigentlich – die nirgends anders hinkonnten. Ihre Eltern hatten mehrere Jobs und wenig Zeit oder waren schlicht und einfach nicht mehr da. In Mayas Atelier hinter dem Café verbrachten sie ihre Nachmittage oder die Stunden zwischen Schule und den Billiglohnjobs in den Fabriken am Stadtrand. Sie machten Musik, spielten draußen im Hinterhof oder hingen einfach nur rum. Einige hatten sogar begonnen zu malen, was Maya mit einer Art Mutterstolz erfüllte. Ja, die Kinder waren ein Grund, nicht zu gehen.

Genau wie ihre Schwester. Mia war im Widerstand organisiert. Nach dem Tod ihres Vaters, des Bruders und der Trennung von Richard war sie untergetaucht. Maya hatte weder eine Adresse, noch häufigen Kontakt mit Mia. Es war einfach zu riskant. Ab und zu erhielt sie Briefe, geschrieben von ihrer Schwester, ohne Absender, die sie las und anschließend verbrannte. In einem davon hatte eine Telefonnummer gestanden, die Maya auswendig lernen sollte. Im Notfall und nur im Notfall konnte sie Mia so erreichen. Bisher war das nicht nötig gewesen.

Die Briefe waren nicht viel, doch zumindest wusste Maya, dass ihre Schwester am Leben war. Sie war also nicht gänzlich allein auf dieser Welt. Und vielleicht war es dieses Bedürfnis, Mia ihrerseits nicht allein zu lassen, das sie daran hinderte, sich aus dem Staub zu machen. Sie konnte sich einfach nicht noch einmal abwenden, ungerührt, ob die Welt hinter ihr in Trümmer fiel.

Sie war gerade dabei, die Krümel unter den Tischen hervorzukehren, als es heftig an der Eingangstür klopfte. Maya schreckte hoch. Was war denn nun schon wieder? Schließlich war es bereits ein Uhr durch. Doch als sie vor der Tür Lisa erkannte, stellte sie schnell den Besen zu Seite und kramte nach dem Schlüssel. Lisa sah aufgebracht aus. Die sonst so blassen Wangen der Sechzehnjährigen glühten und sie trat von einem Bein auf das andere, während sie sich mit der Hand wieder und wieder durch die lila gefärbten kurzen Haare fuhr. Ihre großen Augen glänzten feucht. Oh nein. Hoffentlich war nichts Schlimmes passiert. Endlich hatte Maya den richtigen Schlüssel gefunden und öffnete die Tür. Noch bevor sie fragen konnte, sprudelte Lisa los:

„Maya, du musst mitkommen! Rocco ist verschwunden!“

Wenn Lisa nicht wusste, wo Rocco steckte, war die Situation ernst. Lisa und Maya rasten auf ihren Fahrrädern durch die spärlich beleuchteten Straßen der Stadt.

„Und mehr hat er nicht gesagt?“, fragte Maya nun schon zum dritten Mal.

„Nein.“ Lisa schien in verzweifelte Gedanken versunken und starrte weiterhin konzentriert auf die Straße. Sie waren gerade in der Wohnung gewesen, in der Rocco mit seinen Eltern lebte, und hatten ein Chaos vorgefunden. Ähnlich musste es auch Rocco vor einigen Stunden ergangen sein. Er war nach Hause gekommen und statt seiner Eltern, waren da nur umgeworfene Möbel und herausgerissene Schubladen gewesen.

„Meine Eltern sind weg. Verhaftet, verschleppt – was weiß ich! Sie haben sie erwischt. Ich kann hier nicht bleiben.“ Dann hatte der Akku seines Handys versagt und der Kontakt mit Lisa war abgebrochen. Lisa war sofort auf ihr Fahrrad gesprungen und losgefahren. Zu allen ihr bekannten Ecken, die sie mit Rocco verband. Und als sie ihn dort nicht gefunden hatte, war sie zu Maya gerast, um mit ihr diese Ecken noch einmal abzusuchen. Inklusive der verwüsteten Wohnung. Vergeblich. Maya wusste, was Lisa dachte. Dieselben Gedanken spukten auch ihn ihrem Kopf. Und wenn sie Rocco auch mitgenommen hatten? Wenn sie ihn in der Wohnung entdeckt hatten? Wenn er auf der Straße aus Verzweiflung und Schmerz Polizisten, oder noch schlimmer, Mocovics Männer provoziert hatte? Maya stellte sich den Achtzehnjährigen vor, wie er verloren durch die Straßen lief, verängstigt in einer Zelle hockte oder blutend und bewegungslos auf der Straße lag. Maya schüttelte die Bilder ab. Es war nicht nützlich, sich jetzt in panischen Gedanken zu verlieren. Sie atmete tief durch, beschleunigte ihre Fahrt und holte zu Lisa auf.

„Lisa, lass uns für heute aufhören, ja?“ Es tat ihr selbst weh, das zu sagen, aber sie war mit ihrem Latein vorerst am Ende.

„Lass uns nach Hause fahren. Vielleicht meldet er sich ja. Oder wir suchen bei Tageslicht weiter.“ Es klang so erbärmlich wie Maya sich fühlte.

„Ich kann nicht“, Lisa blinzelte Tränen weg, die nicht vom Fahrtwind kamen.

Natürlich konnte sie nicht. Lisa und Rocco waren unzertrennlich. Und das nicht auf eine pudrige, süßliche Teenagerart und Weise. Sie konnten nicht ohne einander. Sie waren zusammen aufgewachsen. Lisa hatte bei Rocco Zuflucht gesucht, als ihre Eltern gestorben waren. In den kriegsähnlichen Zuständen vor beinahe vier Jahren hatte Lisa alles daran gesetzt, zu Rocco zu kommen. Sie hatten sich verliebt, waren regelrecht zusammengewachsen. Nein, Lisa konnte nicht aufhören Rocco zu suchen. Ihr fehlte ein Teil ihrer selbst.

„Ich weiß“, sagte Maya deshalb. „Ich weiß. Aber so erreichen wir nichts. Komm mit zu mir und wir überlegen, was wir als Nächstes tun. Wir geben nicht auf. Ganz sicher nicht.“

Lisas Bremsen quietschten und sie blieb heftig atmend mitten auf der Straße stehen. Maya trat ebenfalls in die Bremsen und verhinderte nur mit Mühe, dass ihr Rad kippte.

„Warum ist er nicht zu mir gekommen?“ Lisas Enttäuschung war deutlich herauszuhören. Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft mit zwei Studentinnen. Denen hatte sie eingeschärft, sich sofort zu melden, falls Rocco in der WG auftauchen sollte. Doch Lisas Handy war still geblieben.

„Vielleicht musste er nur nachdenken, vielleicht war es ihm zu gefährlich, vielleicht… ach Lisa, ich weiß es doch auch nicht!“ Maya warf die Hände in die Luft. „Lass uns jetzt bitte umkehren. Ich kann nicht mal mehr klar denken.“

Lisa starrte sie aus ihren großen Augen an und Maya hätte sie am liebsten in den Arm genommen, doch ihre Räder waren ihnen im Weg. Langsam nickte Lisa und wendete ihr Rad. Auf dem Rückweg sprachen beide kein Wort. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach.

Es war für Maya keine Überraschung, dass Roccos Eltern verschwunden waren. Beide arbeiteten bei einer der großen Firmen am Stadtrand, bei der auch ihr Sohn eine Stelle ergattern konnte. Doch während Rocco am Fließband stand und Plastikteile zusammensteckte, waren seine Eltern im Betriebsrat organisiert. Das war kein leichter Job in diesen Zeiten. Schrittweise, doch völlig öffentlich und beinahe schamlos waren die Rechte der Mitarbeiter eingeschränkt und die Möglichkeiten des Betriebsrats beschnitten worden. Was den Betriebsräten blieb, war zum Streik aufzurufen – oder zum allgemeinen Widerstand. Und das war es, was Roccos Eltern in Gefahr gebracht hatte. Widerstand wurde hart bestraft. Und eigentlich glich es einem Wunder, dass Roccos Eltern dieser Bestrafung bisher entgangen waren. Rocco musste das ebenfalls bewusst gewesen sein. Trotzdem waren die Ereignisse des heutigen Abends mit Sicherheit ein Schock für ihn gewesen.

Und im Schock handelten die Menschen auch nicht immer, wie man es von ihnen erwarten würde. In Mayas Kopf tauchten wirre Sätze auf. Hoffentlich ist alles ganz anders, als wir denken. Hoffentlich klingelt gleich Lisas Handy und Rocco ist dran. Und dann sagt er, es sei alles nur ein Scherz gewesen, seine Eltern und er wären wohlauf und nur kurz mal verreist oder so. Doch diese Hoffnungen waren irrational, das wusste sie. Wahrscheinlich wurde ihr das alles gerade zu viel. Es hatte zu nieseln begonnen und bis zum Morgengrauen konnte es nicht mehr lange hin sein. Müdigkeit lag schwer auf Maya, als sie in ihr Viertel einbogen. Trotzdem war sie schrecklich unruhig. Sie würde es nicht schaffen, auch nur kurz zu schlafen, so viel stand fest. Maya verzichtete darauf, sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf zu ziehen. Sie waren vor ihrem Café angekommen. Dahinter, in einem abgetrennten Bereich ihres Ateliers lag Mayas kleine Wohnung. Die beiden Frauen schoben ihre Räder durch die Einfahrt neben dem Café in den bepflanzten, aber total verwilderten Innenhof, über den man ins Atelier gelangte. Lisa ließ ihr Fahrrad in eine struppige Hecke fallen und lehnte sich an die Mauer neben Mayas Wohnungstür. Der stärker werdende Regen hatte ihre Haare dunkel an ihren Kopf geklebt und sie war trotz der langen Fahrt mit dem Rad sehr blass im Gesicht. Sie sah erschöpft und mutlos aus. Auch Lisa würde heute Nacht kein Auge mehr zutun, da war sich Maya sicher.

„Ich mach‘ uns jetzt erst einmal einen Kaffee“, schlug sie Lisa vor und kettete ihr Rad an die Regenrinne. Lisa nickte nur teilnahmslos. Es war jetzt wirklich an der Zeit, dass sie ins Trockene kamen. Maya kramte in ihrer ledernen Umhängetasche nach dem Schlüssel, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Blitzschnell fuhr sie herum und spähte in die Dunkelheit. Ihr Herz schlug heftig in ihrem Hals. Auch Lisa hatte etwas bemerkt. Sie stand jetzt direkt neben Maya, die Augen weit aufgerissen, der Körper angespannt und wachsam. Vielleicht war es nur eine Ratte gewesen. Wieder ein Geräusch. Heftiges Atmen, ein Scharren. Bevor Maya einordnen konnte, von wem oder was das stammte, war Lisa bereits quer über den Innenhof gerannt und kauerte in einer dunklen Ecke auf dem Boden.

„Lisa, nicht!“ Mayas Stimme klang schrill in ihren Ohren, als sie dem Mädchen nachlief. Und dann sah sie Lisa dort sitzen, schluchzend, ihre Arme eng um dieses Etwas am Boden geschlungen.

„Du Idiot! Du Idiot! Du Idiot!“, schimpfte sie zwischen ihren Schluchzern. Als der Idiot endlich aufsah, sackten Maya vor Erleichterung beinahe die Knie weg.

„...tut mir leid, dass ich euch solche Angst gemacht habe.“ Rocco nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee.

Maya hatte einige Zeit gebraucht, das nasse, eng umschlungene Menschenknäuel aus dem Innenhof in ihre Wohnung zu bugsieren. Lisa hatte sich geweigert, Rocco auch nur für eine Sekunde loszulassen. Und auch jetzt, als sie ihm gegenüber an Mayas Tisch saß, hielt sie seine Hand. Sie wärmten sich an dem Feuer, das Maya in ihrem kleinen Bollerofen in der Ecke gemacht hatte.

„Ich musste nur da weg, ein bisschen laufen.“ Rocco schob seine Tasse verlegen über den Tisch und sah Lisa entschuldigend in die Augen.

„Das ist schon in Ordnung. Hauptsache, du bist jetzt da“, antwortete Maya und goss sich selbst Kaffee nach. Müde und durgefroren wie sie war, erschien ihr das dunkle Gebräu momentan wie der beste aller Zaubertränke. Sie lehnte sich gegen die kleine Anrichte ihrer Küche und betrachtete das Pärchen dort am Tisch. Lisa hatte die ganze Zeit noch kein Wort gesprochen. Sie war so froh, Rocco wiederzuhaben, dass sie wohl ganz in diesem Moment versunken war. Sie war einfach nur erleichtert und ihre Augen leuchteten. Hinter Roccos Stirn dagegen konnte man es beinahe arbeiten sehen. Zuviel war auf ihn eingestürmt in den vergangenen Stunden. Die Eltern verschwunden, das Zuhause zerstört.

„Wo soll ich denn jetzt hin?“, fragte er, als hätte er Mayas Gedanken geteilt.

„Wir suchen uns gemeinsam eine Wohnung“, schlug Lisa vor. Doch Rocco schüttelte bereits den Kopf.

„Süße, du weißt genau, dass das nicht geht. Du musst in deiner WG bleiben, bis du 18 bist. Sonst kassieren sie dich ein.“

Da hatte Rocco wieder einmal Recht. Als minderjährige Vollwaise durfte Lisa sich nur so frei bewegen, weil sie sich an die Regeln hielt. Gewissenhaft täglich zur Schule, keine Jungs auf dem Zimmer, keine Drogen, kein Aufsehen. Ein Verstoß bedeutete: Jugendheim für die nächsten zwei Jahre. Zwei Jahre ohne Rocco. Das würde Lisa niemals aushalten. Sie hatte schon einmal eine Zeit im Jugendheim verbracht und wollte das mit Sicherheit nicht wiederholen.

Als Lisas Eltern bei einer Explosion in der Chemiefabrik ums Leben kamen, war Lisa gerade 13 Jahre alt gewesen. Lisa war zum Unfallort gelaufen und hatte mitangesehen, wie 34 Leichen aus der völlig zerstörten Werkshalle gebracht wurden. Als sie darunter ihre Eltern erkannte, hatte sie angefangen zu schreien. Sie hatte getobt und gebrüllt, bis sie die Sanitäter mit Beruhigungsmittel vollgepumpt hatten. Danach war sie in ein Heim gebracht worden – irgendwo außerhalb der Stadt. Doch ohne Rocco hatte sie es dort nicht ausgehalten. Er war der Einzige, so muss sie gedacht haben, zu dem sie noch konnte. Der Einzige, der noch übrig geblieben war. Also war sie ausgerissen. Doch in der unbekannten Gegend hatte sie sich schnell verlaufen. Als Maya auf der Straße über sie gestolpert war, hatten sie Lisas große, verweinte Augen so verzweifelt angeblickt, dass Maya den Impuls zu helfen einfach nachgegeben hatte. Sie hatte den Vorsatz, nie wieder nach Oziljak zu gehen, ohne weiter nachzudenken gebrochen und war mit Lisa auf die Suche nach Rocco gegangen. Es war nicht ganz leicht gewesen, denn Roccos Eltern waren aus ihrer alten Wohnung vertrieben worden. Die Mieten waren rasant gestiegen und sie hatten sich die vier Zimmer einfach nicht mehr leisten können.

Um sie zu finden hatten Maya und Lisa herumfragen müssen. Möglichst unauffällig, denn keine der beiden hatte riskieren können, ins Visier der Behörden zu gelangen. Es hatte Tage gedauert, bis sie Roccos Vater schließlich nach der Arbeit in der Fabrik abpassen konnten. Tage, in denen sie auf der Straße geschlafen hatten, versteckt vor der Polizei. Sie hatten sich aneinander gekuschelt um nicht zu frieren, und hatten sich Geschichten zugeflüstert, gegen die Angst.

Doch als sie Roccos Vater Carlos gefunden hatten, hatte er Lisa sofort fest in den Arm genommen und sie in sein neues Zuhause gebracht. Eine winzige Wohnung mit nur einem Zimmer.

Maya hatte sich nicht von Lisa trennen können. Sie hatte sie in Sicherheit wissen wollen und war Carlos und Lisa einfach hinterhergelaufen.

Roccos Vater hatte nur gelächelt und Maya auf einen Tee eingeladen. Während Rocco und Lisa ihr Wiedersehen feierten, hatte Carlos Maya versichert, sich von nun an um Lisa zu kümmern. Selbstverständlich würde sie in der viel zu kleinen Wohnung nicht bleiben können, doch Carlos hatte Maya versprochen, er würde sichergehen, dass sie nicht noch einmal ins Heim musste. So war Lisa in die WG gekommen. Und Maya zurück nach Oziljak. Denn sie hatte zu Lisa eine Verbindung geknüpft, die sie nicht hatte lösen wollen. Viel zu lange, so war ihr deutlich geworden, hatte sie vermieden, zu anderen Beziehungen aufzubauen. Viel zu unsicher. Traue niemandem. Aber Lisa hatte ihr vertraut und Maya war es ihr schuldig, dieses Vertrauen zu erwidern. Das hatte ihr gut getan. So gut, dass sie beschlossen hatte, wieder in die Stadt zu ziehen. Maya hatte ihr restliches Geld zusammengekratzt und mit Hilfe ihres gefälschten Passes und einigen Schmiergeldern an der richtigen Stelle, in einem heruntergekommenen Viertel das Café und das angrenzende Atelier gemietet. Lieber in Gefahr leben, als ohne jegliche Bindung in vermeintlicher Sicherheit umher zu ziehen.

„Du kannst natürlich erst einmal hierbleiben“, wandte Maya sich nun an Rocco. „Das ist doch klar.“

Rocco sah Maya dankbar an. Dann stürzte Lisa so schnell auf Maya zu und umarmte sie so heftig, dass Maya beinahe die Luft wegblieb. Verlegen schob sie Lisa von sich.

„Ich weiß gar nicht, warum euch das so überrascht.“

Doch weder Rocco noch Lisa gaben ihr Antwort.

Maya räusperte sich: „Naja, dann würde ich sagen, du holst erst einmal ein paar deiner Sachen aus der Wohnung. Bitte sei aber vorsichtig, ja?“

Rocco nickte.

„Lisa, es ist bald Zeit für die Schule, also ab nach Hause mit dir. Ich versuche in der Zwischenzeit herauszufinden, was mit Roccos Eltern passiert ist.“

Lisa drückte sie noch einmal, ging dann wieder zu Rocco und nahm ihn bei der Hand. An der Tür drehte sich der hochgewachsene junge Mann noch einmal zu Maya um.

„Bis später“, sagte er. Dann waren die beiden auch schon zu Tür hinaus.

Scar hasste seine Aufgabe aus tiefstem Herzen. Er betrachtete seinen Bruder Victor eingehend, wie er sich in diesem überdimensionierten Ankleidezimmer die schwarze Lederjacke über die knochigen, breiten Schultern zog. Aber Scar wusste, dass es zwecklos war mit Victor darüber zu reden. Das ganze Wesen seines Bruders unterschied sich grundlegend von seinem. Seine Auffassung von Macht, Führung und Stärke teilte Scar in keinster Weise. Und doch war er Teil dieses Systems. Er machte mit und redete sich selbst ein, nur dann etwas zum Guten bewirken zu können, wenn er sich innerhalb dieses Machtgefüges befand. Aber was unternahm er schon groß? Sicher, er hatte manchmal die Möglichkeit, Victors sadistische Extreme zu verhindern. Aber darüber hinaus hatte er noch nicht viel erreicht. So verquer es auch klingen mochte, aber dazu fehlte das Vertrauen. Victor vertraute seinem Bruder nicht. Und das einzige, worauf Scar bei seinem Bruder vertrauen konnte, war, dass Victor all die schrecklichen Klischees eines brutalen, machthungrigen Patrons erfüllte. In vielen Belangen blieb Scar außen vor oder erfuhr nicht die ganze Wahrheit, das war ihm klar. Schließlich war er der Verräter. Das Leck. Der Abtrünnige, den man nur noch nicht umgebracht hatte, weil er zur Familie gehörte und den man nur innerhalb des engen Kreises um Victor duldete, weil sein Bruder glaubte, ihn so am besten kontrollieren zu können. So oft schon hatte Scar daran gedacht, diese Familie, diese Stadt und dieses Land hinter sich zu lassen. Aber was dann? Victor würde ihn nicht gehen lassen, würde sich nicht der Gefahr aussetzen, den Verräter aus den Augen zu verlieren. Darüber hinaus war sich ein nicht ganz unbedeutender Teil Scars durchaus bewusst, dass er nicht auf die finanziellen Annehmlichkeiten verzichten wollte, die er als Bruder des Patrons genoss. Dafür hasste er sich manchmal ausgiebig.

„Spar dir diesen Gesichtsausdruck für Henly auf“, riss Victor ihn aus seinen Gedanken. Er schlüpfte gerade in ein paar schwere Stiefel und besah sich kurz im Spiegel. Victor war noch keine 30. Der kleine Bruder – auch was die Körpergröße anging. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Scar, hatte pechschwarzes schulterlanges Haar und ein hübsches Gesicht. Ein hübsches Gesicht. Unbewusst fuhr Scars Hand zu seiner linken Wange, über die sich von der Schläfe bis zum Kinn eine ausgefranste Narbe zog, die ihm seinen nicht sehr originellen Spitznamen gab. Victor nannte ihn manchmal auch „mein Schöner“, was Scar dazu zwang den heftigen Impuls zu unterdrücken, seinem Bruder an die Kehle zu gehen.

„Victor, ich glaube, dein Bruder hat nur diesen einen Gesichtsausdruck“, höhnte Carl Mocovic, ein Cousin und der engste Vertraute Victors. Carl war der Sohn von Scars verstorbenem Onkel und hatte von der Familie Mocovic lediglich die markanten Gesichtszüge geerbt. Doch weder Intelligenz, noch diese ausnehmende Attraktivität waren ihm geschenkt worden. Er hatte struppiges, braunes Haar, eine breite, mehrfach gebrochene Nase und einen schmalen Mund. Diesen allerdings bestückt mit viel zu vielen, viel zu weißen Zähnen, die Scar in Momenten wie diesen gerne eingeschlagen hätte.

„Nein, es gibt den bösen Scar und den sehr bösen Scar. Und das ist gerade schon ziemlich nah am sehr bösen Scar“, gab sein Bruder zurück.

„Könntet ihr zwei aufhören, über mich zu reden, als wäre ich gar nicht hier!“, brummte Scar. „Und wegen Henly: Ich glaube nicht, dass es was bringt, ihm zu drohen. Außerdem ist es Blödsinn, die Schraube noch enger zu ziehen. Er ist doch ohnehin schon am Limit.“

Victors Lächeln, mit dem er sich im Spiegel bedachte, gefror. Er wandte sich zu seinem Bruder um.

„Dieser kleine Idiot Henly behält einfach noch viel zu viel für sich und erzählt uns, seine Fabrik würde nicht genug abwerfen. Natürlich können wir die Schraube enger drehen. Das habe ich dir bereits erklärt – mehrfach. Aber du verstehst es einfach nicht, oder? Du verstehst nicht, dass deine Meinung nicht notwendig ist für mich. Was ich von dir brauche, ist dein Gesicht. Denn niemand kann anderen so viel Angst einflößen, wie du.“

Scar schnaubte. „Du überlässt mir deine Bücher. Deine offiziellen Bücher. Ich weiß, dass wir das Geld nicht brauchen.“

Plötzlich lächelte sein Bruder wieder. „Vielleicht brauchen wir es für etwas Inoffizielles. Und nun Schluss damit. Ich will, dass du mit Carl gehst. Carl redet und du, mein Schöner“- er trat ganz nah an Scar heran - „du siehst einfach nur grauenvoll aus.“

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