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2 Fromme Wünsche, ein Bild und ein Schlagstock

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Vier Wochen später hatte Rocco sich schon bestens eingelebt. Maya genoss es, einen Mitbewohner zu haben. Vor allem, weil er die Zeit zwischen seiner Arbeit in der Fabrik, den Treffen mit Lisa und dem Nebenjob in Mayas Café mit Malerei verbrachte. Er hatte schon früher kleinere Skizzen angefertigt und ab und zu etwas auf größeren Formaten umgesetzt. Aber seit er bei ihr eingezogen war, traute er sich mehr zu und fing an sich auszuprobieren. Der Umstand, dass er dabei vermehrt zu Farbe griff, lag vielleicht auch daran, dass Rocco in Mayas kleinen Lagerraum eingezogen war und die ausquartierten Farben seither ungeordnet überall im Atelier herumstanden. Rocco vermischte die Farben zu wilden, schreienden Bildern. Er legte seine ganze Wut in seine Pinselstriche und es war ihm scheinbar egal, was am Ende dabei herauskommen würde. Natürlich hatte es damit zu tun, dass seine Eltern in Haft waren. Offiziell befanden sich Carlos und seine Frau Anna in Untersuchungshaft. So viel hatte Maya herausgefunden. Doch aus Erfahrung wusste Maya, dass keine Untersuchung stattfinden würde. Die beiden blieben einfach weggesperrt. In solchen Fällen arbeiteten die völlig vom Schmiergeld zerfressenen Mühlen der Justiz in Zeitlupe. Sicher würde es eine Verhandlung geben. Bis dahin konnte aber viel Zeit vergehen. So viel Zeit, dass es eigentlich auch gleich egal sein konnte. Anwälte, die durch stetes Anklopfen und Stören diese Prozesse im System beschleunigen konnten, waren weder für Rocco, noch für Maya oder die zahnlose Gewerkschaft erschwinglich. So blieben Anna und Carlos hilflos in Haft, während ihr Sohn seinen ganzen Zorn in seine Bilder legte. Zu Glück war Lisa ein wenig Balsam für seine Seele. Sie sagte nie viel, war aber immer da, gab ihm Halt und Trost. Sie war soviel erwachsener, als sie selbst in diesem Alter gewesen war, dachte Maya dann oft. Und es stimmte sie traurig, dass die Selbstverständlichkeit, mit der Lisa das machte, daher rührte, dass sie nie eine andere Wahl gehabt hatte.

Meistens kamen am Nachmittag noch weitere Jugendliche bei Maya vorbei. Roccos Freund Stick arbeitete abends als Spüler in einem Restaurant. Er hatte spät Schluss, schlief bis Mittag, um schließlich verschlafen und zerzaust bei Maya aufzukreuzen. Dann schnappte sich der 17-Jährige die alte Gitarre, die Rocco von seinem Vater bekommen hatte, und erfand neue Melodien. Manchmal waren auch Schmählieder darunter. Anzüglich und bissig. Fielen dem dürren kleinen Kerl mal keine Melodie und kein böser Vers ein, dann trommelte er. Alles, was er finden konnte, wurde zum Klangkörper. Und das so lange und so ausdauernd, bis es wieder an der Zeit war zu gehen oder Rocco ihm Schläge androhte, sollte er seine Nerven noch länger strapazieren.

Dann waren da noch Annie und Katja Quinn. Die Schwestern waren 13 und 15 Jahre alt und kamen oft nach der Schule, um im Atelier Hausaufgaben zu machen. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie entweder ebenfalls mit dem Pinsel in der Hand, oder auf Mayas durchgesessener Couch.

Tatsächlich behelligten sie Maya wenig. Sie gab ihnen einfach Raum, ein wenig Farbe und die Gelegenheit zusammen zu sein. Wann immer sie wollte und die Zeit dazu fand, konnte sie sich in die Gemeinschaft einklinken, lustige Lieder mit Stick singen, eine ordentliche Farborgie starten, Annie Modell sitzen oder schlicht einen Abend mit Pizza für alle verbringen. Doch niemand betrachtete sie als Ersatz-Mutter. Maya wäre der Gedanke allein schon unheimlich gewesen. Sie wollte keine Autorität sein. Nicht einmal ein Vorbild. Sie wollte nur Zeit mit diesen Jugendlichen verbringen. Und ja, für Lisa und Rocco fühlte sie sich auch verantwortlich. Aber eher, wie eine ältere Schwester.

Im Moment war Maya jedoch alleine in ihrem Atelier. Es war kurz vor Mittag und das Café würde erst in ein paar Stunden öffnen. Rocco war unterwegs, die Mädchen hatten noch Schule und Stick träumte wahrscheinlich gerade von einem nie enden wollenden Schlagzeugsolo. Maya wollte noch an einem Bild weiterarbeiten, das sie vor ein paar Tagen begonnen hatte. Haarfeine Linien sollten sich über einen dunklen Hintergrund bewegen, sich kaum überkreuzen, dicker und dünner werden, enden. Ihr war noch nicht klar, mit welchen Farben und auf welchem Untergrund sich ihre Skizzen am besten umsetzen ließen. Das musste sie ausprobieren. Beherzt griff sie zu den Farbtuben – nur um gleich darauf festzustellen, dass viele beinahe leer waren. Tja, das war der Nachteil an einem Mitbewohner, der dasselbe Hobby teilte.

„Rocco, du verdammter Verschwender!“, seufzte Maya und drückte vergeblich an einer schwarzen Farbtube herum. Frustriert ließ sie sie schließlich in den Mülleimer fallen und machte sich auf die Suche nach Ersatz. Was sich als ziemlich schwierig herausstellte. Das ohnehin bereits ansehnliche Chaos in ihrem Atelier hatte seit Roccos Einzug eine schier unermessliche Größe angenommen. Nichts lag mehr an seinem Platz – nicht mal annähernd. Überall flogen Papiere umher - zwischen leeren Gläsern, Bierflaschen und allen möglichen farbbefleckten Oberflächen. Maya schwor sich, Rocco heute zum Aufräumen zu verdonnern. Oder vielleicht doch eher morgen? Rocco musste Maya heute Abend im Café vertreten. Die Ladenbesitzer des Viertels hatten zu einer Versammlung eingeladen. Sie wollten ein Straßenfest zu Gunsten Obdachloser organisieren und hatten auch Maya gebeten zu kommen. Maya hatte keine besondere Lust hinzugehen. Sie kannte kaum jemanden aus dem Viertel richtig. Sie tauschte lediglich Höflichkeiten aus, hielt sich im Hintergrund. Andererseits bot das Straßenfest vielleicht eine Möglichkeit für Stick, Rocco und die Mädchen, mal zu zeigen, was sie konnten. Stick würde sicher liebend gerne mit seiner Band auftreten. Also musste Maya dort heute Abend wohl oder übel hin.

„Aber morgen, morgen räumst du auf, du fauler Hund!“, murmelte Maya. Sie würde ihn heute auf jeden Fall noch kräftig ins Gebet nehmen. Dafür war sicher Zeit. Denn wenn das hier so weiterging, musste er wieder ausziehen – punktum.

„Hier findet man ja über…“ Maya verschlug es die Sprache, als sie einen großen Bogen Papier beiseiteschob. Darunter kam eines von Rocco Bildern zum Vorschein. Eine Collage aus Papier und Acryl. Düster und bedrohlich. Maya hatte nicht mitbekommen, wann er daran gearbeitet hatte. Sie betrachtete die 50 x 70 cm große Leinwand eingehend. Grünliches Schwarz war die dominierende Farbe. Rocco hatte zerknittertes Papier aufgeklebt und dunkel bemalt. Unterbrochen nur durch wenige, rote Farbflecken. Aus diesem Hintergrund grinsten Maya fünf blasse Gestalten entgegen. Zwei davon erkannte Maya sofort. Ganz ins Zentrum hatte Rocco Victor Mocovic gesetzt. Ein aalglattes Äußeres, die Zähne spitz wie bei einem Piranha, an den Händen Blut. Hinter seiner rechten Schulter lächelte Scar ein boshaftes Lächeln. Zumindest nahm Maya an, dass er es war. Sein Gesicht hatte sich ihr nicht so eingebrannt wie das seines jüngeren Bruders Victor. Scar mied das Rampenlicht und tauchte so gut wie nie auf Fotos auf. Aber jedes Kind dieser Stadt wusste, dass Scars Gesicht von einer langen Narbe durchzogen war. Wie es dazu gekommen war, war nicht genau bekannt. Also schossen die Gerüchte darüber ins Kraut. Tatsache war wohl, dass Scar während der Bandenkriege entführt worden war. Von einem verbündeten Clan der Stratovs, vermutete Maya. Manche behaupteten nun, Scar wäre gefoltert worden und hätte erst Familiengeheimnisse preisgegeben, als man ihm das Gesicht zerschnitten hatte. Andere glaubten, Scar hätte freiwillig ausgepackt. Sein Vater hätte ihm deshalb nach seiner Rückkehr aus Wut ein Messer über das Gesicht gezogen. Einige spekulierten auch, es wäre Victor gewesen, der seinen Bruder entstellt hatte. Wie dem auch sei: Scar - der Verräter - war daraufhin in jedem Fall degradiert worden. Vom Thronfolger zum Handlanger im Hintergrund.

Rocco hatte Scar ein düsteres Äußeres verliehen. Maya fragte sich, ob der Scar auf dem Bild tatsächlich Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hatte. Hatte Rocco irgendwo doch ein Foto gesehen? Oder entsprang das Ganze hier seiner Phantasie? Vielleicht war er dem Narbengesicht sogar schon einmal begegnet. Maya schauderte bei dem Gedanken, Rocco könnte diesem Monster gegenüber gestanden haben. Sie kannte die Eigenschaften, die man Scar zuschrieb: schweigsam, brutal, blutrünstig, skrupellos. Selbstverständlich ein Verräter. Aber war sein Kopf tatsächlich kahlrasiert? Und lagen seine Augen wirklich so tief in den Höhlen? Maya wusste es nicht.

Der Victor Mocovic auf Roccos Bild entsprach jedoch definitiv der Wirklichkeit. Maya wusste nicht genau, wie es dem Jungen gelungen war, den Sadismus in Victors Gesichtszüge zu malen. Waren es die stahlblauen Augen? Es waren doch immer die Augen. Oder lag es an der Art, wie sein Grinsen dargestellt war? Es war erstaunlich, wie gut Rocco diesen Wesenszug eingefangen hatte.

Von den Händen aller Gestalten auf diesem Bild tropfte Blut in das Schwarz des Hintergrunds. Die drei Personen hinter Victor und Scar waren Maya unbekannt. Ihre Gesichter lagen ein wenig mehr im Schatten. Der Focus gehörte den beiden Brüdern. Es war ein eindeutiges Bild mit einer unmissverständlichen Aussage. Rocco würde es vernichten oder vergraben müssen, wenn er sich nicht in Gefahr bringen wollte.

„Was sagst du dazu?“ Beinahe hätte Mayas Herz vor Schreck den Geist aufgegeben. Sie hatte nicht bemerkt, dass Rocco ins Atelier gekommen war.

„Heilige Scheiße“, murmelte sie und hielt sich sicherheitshalber an der Tischkante fest. Ihre Knie waren weich wie Gummi. Aber es wurde schnell besser.

„Ich wollte es dir eigentlich noch nicht zeigen. Erst, wenn es ganz fertig ist.“ Rocco trat hinter Maya und betrachtete über ihre Schulter das Bild. Er war wirklich groß geworden, wurde ihr bewusst. Wann war das passiert? „Aber ich weiß noch nicht genau, warum es noch nicht fertig ist. Irgendwas fehlt“, fuhr er unbeirrt fort.

„Rocco…“

„Vielleicht doch mehr Farbe?“

„Rocco…“

„Was meinst du? Die Konturen schärfer? Ich bin mir nicht sicher…“

„Du musst es übermalen.“

„Übermalen? Wirklich? Aber welchen Teil? Und warum?“

„Vollständig Rocco.“

„Vollständig? Findest du es nicht gut?“

„Ich finde es großartig.“

„Aber wieso…? Ich verstehe nicht…“

„Rocco. Du verstehst sehr gut.“

„Du hast doch gerade gesagt, es ist großartig.“

„Rocco, hör mir zu.“

„Wieso sagst du dann so etwas?“

„Hör mir zu.“

„Ich kapiere das nicht.“

„Hör mir zu!“, brüllte Maya ihn an. Rocco schwieg erschrocken. Maya holte tief Luft.

„Rocco, du kannst nicht so ein Bild malen ohne dir im Klaren darüber zu sein, dass du es zerstören musst.“

Der Junge trat einen Schritt zurück und starrte sie fassungslos an.

„Zerstören?“

„Was willst du denn sonst tun? Es aufhängen?“ Maya schnaubte.

„Aber wenn es gut ist…“

„Rocco, du willst mich nicht verstehen. Ich habe mir ein wenig mehr von einem Jungen erwartet, dessen Eltern seit 4 Wochen wegen Aufwiegelung der Bevölkerung im Gefängnis sitzen.“

„Halt den Mund.“ Roccos Augen funkelten böse, aber Maya konnte jetzt nicht still sein. Es war ihr egal, ob sie gerade klang wie ein Oberlehrer. Das hier war auch für sie wichtig.

„Nein, das werde ich nicht. Rocco weißt du denn nicht, wie gefährlich ein solches Bild ist? Weißt du denn nicht, was passiert, wenn irgendjemand dieses Bild sieht und dich bei den Mocovics hinhängt? Das ist genau so Aufwiegelung. Sie werden dich einsperren!“ Maya war wieder laut geworden.

Roccos Stimme dagegen war nur ein Zischen.

„Natürlich weiß ich, was passieren kann. Aber das glaube ich nicht. Nicht hier in diesem Viertel. Mocovics Männer sind hier nicht unterwegs. Sie überlassen uns doch seit Monaten uns selbst.“

„Sie sind überall“, entgegnete Maya fest.

„Und wenn schon. So eindeutig ist dieses Bild nicht. Ich wette, Mocovic würde sich sogar ziemlich gut getroffen fühlen und geschmeichelt sein.“ Er deutete auf das hämische Grinsen, das er Victor ins Gesicht gesetzt hatte. „So sieht er sich doch selbst.“

„Du bist völlig übergeschnappt. Rocco, ich erlaube nicht…“

„Moment, du erlaubst nicht? Seit wann kannst du mir etwas verbieten?“

„Seit du auch mich mit so einem Scheiß in Gefahr bringst!“ Maya kochte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so feig bist.“ Enttäuschung und Vorwurf schwangen in seiner Stimme mit.

Getroffen zuckte Maya zurück. Rocco setzte nach.

„Du betrachtest dich selbst als Widerständler. Das tust du doch, oder? Du hasst ihn – diesen Patron und sein skrupelloses Gefolge. Wer hasst die nicht. Und du möchtest, dass sie verschwinden. Aber sie verschwinden nicht. Auch nicht, wenn man es sich noch so wünscht. Und mehr als fromme Wünsche hast du nicht.“

Wie von einer großen Woge wurde Maya von ihrer Vergangenheit überschwemmt. Ihr Vater, ihr Bruder, ihre Schwester. Wahnsinn, Tod, Verlust. Die ständige Wachsamkeit, die an ihren Nerven zerrte, das Misstrauen und der Mangel an echten Beziehungen. Rocco kannte ihre Geschichte nicht und auch nicht ihren echten Namen, aber er musste es doch wissen. Er musste doch wissen, wie es ihr ging. In diesem Viertel der Stadt fand man vielleicht eine Handvoll Menschen, die nicht ein ähnliches Schicksal teilten. Sie hatten alle verloren. Auch Rocco. Er musste es doch wissen!

„Und du?“, sagte sie. Sie musste sich räuspern. „Du hast ein Bild.“

„Ja und es ist nur ein Bild. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als malen.“

„Bist du lebensmüde?“

„Das hat doch damit nichts zu tun!“

„Nein?“ Maya fand langsam ihre Stimme wieder. „Glaubst du denn, du könntest irgendetwas in Oziljak zum Guten verändern, indem du leichtsinnig und unüberlegt provozierst? Das ist kein Widerstand, das ist dumm!“

„Lieber dumm sein, als immer nur ängstlich den Kopf einziehen.“

Maya schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Rocco war ein Junge. Ein ziemlich wütender, uneinsichtiger Junge. Im Moment erreichte sie gar nichts. Seine trotzige Mauer war nicht zu durchbrechen. Aber dieses Bild blieb eine Gefahr.

„Meinetwegen, mach was du willst. Wenn du bereit bist, die Konsequenzen zu tragen.“

„Ich…“, setzte Rocco an.

„Aber es sind deine Konsequenzen. Zieh mich da nicht mit rein. Ich möchte, dass dieses Bild aus meinem Atelier verschwindet. Hast du mich verstanden?“

„Nur weil du Angst…“

„Hast du mich verstanden?“

Schweigen.

„Rocco!“

„Ja.“

Der Moment, in dem ein guter Song einen trifft und einen ausfüllt, bis die Haut prickelt, gehörte zu besten, die Scar sich vorstellen konnte. Sein Rückenmark sandte heiße Schauer durch seine Glieder und sein Trommelfell knackte vom monströsen Sound der Gitarre. Reglos stand Scar im VIP-Bereich des Clubs. Seine Augen waren auf die Tanzfläche unter ihm gerichtet, aber er sah nicht hin. Er war ganz auf diese Musik konzentriert, die ihren galoppierenden Bass und die dumpfen Drums direkt durch seinen Magen schickte. Dieser Song war nur für ihn. Scar hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, sich in Musik zu verlieren. Lange hatte er geglaubt, das ginge jedem so. Doch mit der Zeit war im klar geworden, dass es Menschen gab, die Musik allgemein keine große Bedeutung zumaßen. Ganz und gar unmusikalische Menschen hielt Scar für groteske, erschreckende Launen der Natur. Musik war so selbstverständlich für ihn, zog sich durch seinen Tag und machte ihn glücklich in Momenten wie diesen.

Dabei verschwendete er keinen Gedanken auf die Frage, warum ihm gerade diese oder jene Art von Musik gut gefiel. Ein guter Song war ein guter Song. Die Entscheidung war unbewusst und meist unwiderruflich.

Scar fühlte den Rhythmus an seinen Fingerspitzen, als könnte er ihn greifen. Hätte er seine harte Schale nur einen winzigen Moment ablegen können, er hätte sofort angefangen wild Luftgitarre zu spielen. Dabei hätte er seine nicht vorhandenen Haare durch die Luft geschleudert und laut über sich selbst gelacht. Doch die Schale blieb verschlossen. Und es ging verdammt nochmal keinen was an, wie es darunter aussah.

Am Rande seines Blickfelds glitzerte etwas. Ein Mädchen hatte sich neben ihn gestellt und erwartete, dass er sie bemerkte. Sie warf ihre blonden Haare zurück und die Spitzen streiften weich seinen Oberarm kurz unterhalb der Stelle, an dem sein T-Shirt endete. Scar seufzte. Der Song war vorbei.

„Was willst du?“, fragte er die Schönheit an seiner Seite barsch. Als Scar sie erkannte, hätte er sich die Frage auch selbst beantworten können. Diese Frau war eine Prostituierte. Sie hieß Tanja und gehörte genau wie die viel zu jungen, viel zu dünnen, viel zu betrunkenen Sternchen in den VIP-Bereich dieses Clubs. Sie war wirklich gutaussehend. Sie hatte volle, sinnliche Lippen, eine unglaubliche Figur und große, ziemlich überschminkte Augen. Normalerweise gab sie sich jedoch nicht mit Typen wie ihm ab. Er war einsilbig, abweisend und hässlich. Warum mit ihm sein Glück versuchen, wenn sein Bruder und dessen Freunde doch viel attraktiver waren und so bereitwillig zahlten?

„Oh, Verzeihung!“, entgegnete Tanja in gespielt erschrockenem Ton. „Ich wusste ja nicht, dass es verboten ist, sich neben dich zu stellen.“

„Ach, komm schon.“ Warum redete er überhaupt mit ihr? Ihr kurzes Kleid glitzerte golden und das passte wirklich wunderbar zu ihren langen glatten Haaren.

Moment, glitzern? Er hatte sie doch nicht mehr alle.

„Vielleicht will ich mich nur ein bisschen unterhalten.“

Natürlich wollte sie das. Eine Unterhaltung mit ihm gehörte mit Sicherheit zu den besten Beschäftigungen hier im Club. Scar verzog spöttisch den Mund.

„Hat dich mein Bruder geschickt?“ Er war sich sicher, dass sie nicht freiwillig hier war. Doch sie spielte ihren Part bravourös, das musste er zugeben. Ihre Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe und ihre Lippen formten einen beleidigten Schmollmund. Er wollte so gerne in diese Lippen beißen.

„Nein, niemand hat mich geschickt“, protestierte Tanja pflichtschuldig. „Hör mal, ich muss nicht hier rumstehen und…“

„Wie viel nimmst du?“, unterbrach er sie. Tanja hielt inne. Dann atmete sie erleichtert aus. Noch ein kleiner stilistischer Schlenker:

„Was meinst du?“

„Ich will wissen, wie viel es kostet.“

Tanja lächelte ein süßes Lächeln, kam ihm ganz nah und ihre Haare kitzelten auf seiner Haut, als sie ihm ihre Bedingungen ins Ohr raunte. Dann war ihr Atem an seinem Hals verschwunden. Sie war ein kleines Stück von ihm abgerückt und blickte ihn erwartungsvoll an. Diese verdammten Lippen. Er nickte.

Tanja griff nach seiner Hand und war ihm plötzlich wieder ganz nah.

„Dann komm.“

Scar folgte ihr in eines der kleinen Separees im hinteren Teil des VIP-Bereichs. Die schweren Vorhänge, die Scar hinter sich zuzog, ließen die Musik nur noch gedämpft herein. Es klang wie ein schneller Puls. Der Raum war ausgestattet mit einigen niedrigen Sesseln und einem ebenso niedrigen, runden Tisch. Doch Scar hielt sich nicht lange mit der Möblierung auf. Seine Augen ruhten auf Tanjas Rücken, über den die dünnen Träger ihres Kleides verliefen. Und als sie sich zu ihm umdrehte, ließ er seinen Blick über ihre Brüste, ihre Hüften und wieder zurück zu diesen Lippen schweifen. Tanja schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. Ihre Augen leuchteten. Einem heftigen Impuls folgend, packte er sie, drückte sie an sich und drängte sie rückwärts gegen die Wand. Seine Hände vergruben sich in ihren Haaren, als er sich hinab beugte, um sie endlich zu küssen.

Sie zuckte zurück.

Nur einen winzigen Augenblick und nur wenige Millimeter. Aber Scar nahm es so deutlich wahr, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Natürlich. Wie hatte er vergessen können, wie er aussah? Sein innerer Panzer verschloss sich fest. Noch immer war er ihrem Gesicht so nah, dass er ihren schnellen Atem spüren konnte. Tanja blinzelte verwirrt.

„Scar?“

Sie sah ihn als Monster. Sie sollte das Monster bekommen. Mit einem frustrierten Stöhnen griff er grob nach ihren Schultern und drehte sie mit dem Gesicht zur Wand. Tanja schrie überrascht auf, als er sie in den Nacken biss und seine Hände unter ihr Kleid schob.

Bitte, bitte, bittebittebitte aufhören! Maya wand sich auf ihrem Stuhl. Wie lange dauerte das denn noch? Wie konnte man sich nur so lange mit Details quälen, wenn noch nicht einmal das Grundgerüst feststand? Maya hatte den Fehler gemacht, sich nicht nahe genug an den Ausgang zu setzen. Jetzt saß sie eingekeilt zwischen Rudi, dem korpulenten Gemüsehändler und einem ihr nicht näher bekannten Betreiber eines Boxclubs, der sich alle paar Sekunden Erdnüsse in den Mund warf und schmatzend darauf herumkaute. Es waren knapp 40 Leute in Lucas Bierkneipe versammelt. Alle waren sich einig, dass ein Straßenfest stattfinden sollte: Nach einigem Hin und Her hatten sie sogar schon einen Termin festlegen können. Oliver, der einen kleinen Reparaturservice für Elektrogeräte betrieb und außerdem ein Händchen für Organisation hatte, war vorher bereits einstimmig zum Chef der Versammlung bestimmt worden. Und als solcher hatte er sich dann pflichtbewusst eine Menge Ideen zum Rahmenprogramm notiert. Danach wäre es für den heutigen Abend eigentlich genug gewesen. Die Teilnehmer hätten versprochen, die einzelnen Themen bis zum nächsten Treffen auf Machbarkeit zu überprüfen, sie hätten noch einen Termin für dieses Treffen ausgemacht und der Abend hätte ein annehmbar frühes Ende gefunden. Einige wären sicher noch bei Luca auf ein letztes Glas Bier geblieben. Andere, wie Maya, hätten sich aus dem Staub machen können.

Wenn nur Oliver sich nicht unglücklicherweise hatte erkundigen müssen: „Gibt es noch Fragen?“ Längeres, erleichterndes Schweigen. Dann, kurz bevor Maya sich ihre Tasche umhängen und aufstehen konnte, war tatsächlich noch eine Frage in den Raum geworfen worden. Und dann noch eine. Und noch eine. Silvia und Fiona aus der Bäckerei „Zuckerzeug“ interessierten sich für Details der besonderen Art. Wie etwa die Länge der Tische, eine einheitliche Dekoration und die Frage der Abendbeleuchtung. Kerzen oder Lampions? Obwohl Oliver sofort erwiderte, dass derlei Kleinzeug erst später besprochen werden sollte, übergingen ihn die Friesens aus der anderen Bäckerei des Viertels komplett. Diese starteten eine Diskussion, inwieweit das Straßenfest denn „normiert“ werden müsste und ob es nicht sinnvoller wäre, wenn jeder ganz allgemein und die vom „Zuckerzeug“ im Besonderen sich um seine eigenen Ideen und ihren eigenen Kram kümmerte. Das wiederum fand Fiona gar nicht lustig.

Seit geschlagenen anderthalb Stunden befanden sie sich nun in diesem Drama. Mayas Hintern tat weh. Sie wollte hier raus. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, wäre über den Tisch gestiegen und hätte die Kneipe polternd verlassen. Aber es war einfach nicht Mayas Ding, Aufmerksamkeit zu erregen. Sich leise im Hintergrund zu halten war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Nicht einmal bei so banalen Treffen konnte sie diese Angewohnheit ablegen. Der Weg rechts über den Boxer war versperrt. Der saß so ungünstig in einer Ecke, dass er Maya schon über sich hinwegheben hätte müssen. Und Rudi auf ihrer anderen Seite zu bitten, mal kurz Platz zu machen, funktionierte ebenfalls nicht. Denn Rudi hatte die Gelegenheit genutzt, seine persönliche Fehde gegen die Friesens in die Diskussion mit einfließen zu lassen. Rudi hatte schon einen hochroten Kopf von den ganzen geplärrten Vorwürfen, die er dem Bäcker und seiner Frau vor den Latz knallte. Maya fürchtete ernsthaft, Rudi könnte in den nächsten Minuten eine lebenswichtige Ader platzen und sein massiger Körper würde tot neben ihr von der Bank gleiten. Wenigstens wäre dann der Weg frei, dachte sie zynisch, lehnte sich zurück und schloss resigniert die Augen.

„Hey, sag mal schläfst du?“ Elias boxte ihn in die Seite. Scar zuckte genervt.

„Was denn?“, knurrte er zurück. „Ich hab doch die ganze Zeit die Augen offen.“

Elias grinste.

„Es gibt Leute in dieser Stadt, die beim Leben ihrer Mutter schwören würden, dass Scar Mocovic immer mit offenen Augen schläft.“

„Keine, die ich kenne.“ Scar hatte keine Lust sich mit Elias zu unterhalten. Er war müde und frustriert. Sein Bruder hatte „nur mal schnell“ in diesen neuen Club gehen wollen. Das „Fix“ war ein dunkler Keller, ohne Glamour und Getue. Eigentlich gefiel es Scar in solchen Clubs besser, als in den VIP-Bereichen der Nobeldiscos. Doch ihre Bekanntheit hatte in den kleinen Kellerbuden ihren Pferdefuß. Die Leute erwarteten einfach nicht, dass plötzlich der Patron mit seinem Gefolge einmarschierte. Hier im "Fix" war es nicht anders gewesen. Die Gäste hatten aufgehört zu tanzen und waren möglichst unauffällig zu ihren Freunden gehuscht. Der Besitzer war förmlich vor ihnen gekrochen und hatte ihnen mehrfach versichert, er werde alles tun, damit sie sich wohlfühlten. Die Musikauswahl hatte gewechselt - von speziell zu austauschbar und die Frauen hatten nervös an ihren Klamotten herumgezupft und zu Boden geblickt. Kurz: Die Mocovics hatten Angst verbreitet. Und genau das war es, was seinen Bruder daran reizte, einen solchen Club auszusuchen. Die halbe Stunde voller Befangenheit und Angstschweiß gefiel ihm. Dann war sein Ego entweder befriedigt, oder angestachelt. Heute, so vermutete Scar, würde es noch lange nicht vorbei sein. Wie zur Bestätigung knallte Victor sein leeres Wodkaglas auf den Tresen und tönte über die Musik hinweg:

„Lasst uns von hier abhauen und noch ein wenig das Viertel unsicher machen!“

Carl und Shorty – Nummer eins und zwei seines Gefolges – nickten begeistert. Wobei Shorty nach einiger Zeit für ihn sicher harten Nachdenkens ungläubig fragte:

„Was? Du willst zu Fuß gehen?“

Victor legte seinen Arm um Shortys Schulter und zog den kleinen, mausartigen Kerl zu sich heran.

„Ist es schon zu spät für dich? Hast du Fußschmerzen? Oder muss mein Kleiner etwa ins Bett?“

„Nein, Vic! Natürlich nicht. Aber du bist der Patron, da dachte ich…“

„Nicht denken, Shorty.“

Victor hob den Kopf und blickte in die kleine Runde.

„Ich hab einfach Bock drauf. Lasst uns sehen, was in dieser Ecke sonst noch so geboten ist.“

Scar bemerkte, wie Victors Augen glänzten. Es sah nach Vorfreude aus. In Scars Magen bildete sich ein bitterer Klumpen. Victor hatte wirklich noch nicht genug. Er wollte mehr. Mehr Angst, mehr Schrecken, Adrenalin, vielleicht ein wenig Blut. Scar hoffte inständig, dass er sich irrte und er heute nicht gezwungen sein würde, eine von Victors Eskapaden zu verhindern.

„Los kommt schon!“, rief sein Bruder ihm und Elias zu. Scar seufzte und leerte sein Bier. Dann folgte er Victor zum Ausgang. Er glaubte, ganz deutlich wahrzunehmen, wie hinter ihnen ein kollektives Ausatmen durch den Keller ging. Sie traten hinaus in die kalte Nachtluft und wandten sich nach rechts. Scar checkte kurz die Lage. Auf den Straßen war nicht viel los. Die meisten Läden und Häuser waren bereits dunkel. Doch das musste noch nichts heißen. Auch in einem dunklen Viertel – oder gerade dort – konnte viel passieren. Dabei machte sich Scar weniger Sorgen um die Sicherheit seines Bruders. Carl und Shorty waren mehrfach bewaffnet und folgten Viktor wie zwei Schatten. Nein, ein solches Viertel würde vielmehr den Einzelnen, die hier herumliefen, nicht viel Schutz bieten. Hier konnte Victor in aller Seelenruhe kaputtmachen, was immer er wollte. Und wenn es nur ein altes Auto, ein kleines Schaufenster oder ein Kieferknochen war. Niemand würde davon erfahren.

„Was ist los? Warum bist du so angefressen?“, wollte Elias wissen, der, wie so oft, neben ihm herging. Scar blieb stumm. Wenn Scar überhaupt so etwas wie einen Freund hatte, dann war es wohl Elias. Sie hatten ihn vor zwei Jahren von einem Drogendealer-Ring „geerbt“, der versucht hatte, im Mocovic-Gebiet Fuß zu fassen. Victor hätte nach der Zerschlagung des Rings am liebsten alle getötet, doch Scar hatte ihm klar gemacht, dass es sich auszahlen würde, die Talentiertesten der Organisation am Leben zu lassen. Und Elias war wirklich ein begnadeter Verhandlungskünstler. Zu Scars Verwunderung hatte er sich nicht bei Victor angebiedert, wie die meisten es versucht hätten, sondern hatte sich lieber mit ihm abgegeben. Elias war angenehm. Klug, loyal, unaufdringlich. Meistens zumindest.

„Komm schon. Liegt es an der Kleinen von vorhin?“, versuchte es Elias erneut. Scar warf ihm einen prüfenden Blick zu. Natürlich.

„Du hast sie geschickt“, stellte er fest.

Elias zuckte mit den Schultern.

„Na und?“

„Ich brauche das nicht, klar? Ich brauche niemanden, der mir die Nutten organisiert.“ Scar merkte, wie versteckte Wut ich ihm hochkroch. Elias schien das nicht zu bemerken.

„Meinetwegen. Ich dachte nur, du könntest mal wieder eine Frau gebrauchen. Außerdem hättest du sie ja jederzeit wegschicken können. Was du ja nicht getan hast…“

Scar schwieg. Es war doch sinnlos, ihm zu erklären, wie es sich anfühlte, ein Monster zu sein.

„Dann war sie also nicht die Richtige für diesen Job?“, wollte Elias wissen. Der Schalk blitzte hinter seinem Lächeln hervor.

Scar holte tief Luft. Er dachte an die blonden Haare, an die festen Brüste und das feuchte, heiße Glück zwischen ihren Schenkeln. Und an den versuchten Kuss.

„Sie hatte Angst vor mir.“

„Angst? So hat sie aber nicht ausgesehen, als sie aus dem Separee gekommen ist.“

Dann lachte er laut auf.

„Sie sah eher so aus, als hätte sie ein Bus gestreift.“

Was? Scar starrte Elias verständnislos an.

„Du meine Güte! So wie die aussah, mein Lieber, schätze ich, dass sie sich jederzeit wieder von dir Angst einflößen lassen würde. Oder auch etwas anderes…“

Scar konnte es selbst nicht einordnen, aber irgendwo in seinem Inneren fiel eine kleine Last irgendwo herunter und löste sich auf.

„Victor, das ist langweilig hier“, hörte er Shorty weiter vorne nörgeln.

Victor war stehen geblieben und schien etwas in einiger Entfernung zu fixieren. Dann drehte er sich zu Shorty um – ein diabolisches Grinsen im Gesicht.

„Gib mir deinen Schlagstock.“

„Soll ich dich nicht doch noch bis nach Hause begleiten?“ Rudi atmete schwer. Der kurze Fußmarsch von Lucas Kneipe bis zu seinem Gemüseladen hatte den großen, dicken Mann deutlich angestrengt. Er schnaufte wie eine Dampfmaschine.

„Rudi, du machst jetzt, dass du ins Bett kommst, klar? Und versuch dich das nächste Mal nicht ganz so sehr aufzuregen. Das ist ungesund.“ Und langwierig, ergänzte Maya in Gedanken.

„Oh, aber diese Friesens, die bringen mich auch immer wieder zur Weißglut!“, schimpfte Rudi wie auf Kommando.

„Schhhh! Ist ja okay, Rudi. Das wissen wir alle mittlerweile ziemlich genau. Mach’s gut.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Soll ich dich wirklich nicht begleiten?“

Maya drehte sich kurz um.

„Sei mir nicht böse, aber ich bin schneller zu Hause, als du dich in Bewegung setzen könntest.“

Rudi murmelte gekränkt in sein Doppelkinn.

„Schon gut.“

„Gute Nacht, Rudi.“

„Gut‘ Nacht, Maya.“

Maya hörte noch seine Schlüssel scheppern, als sie nach links in ihre Straße einbog. Die Luft war für eine Frühsommernacht erstaunlich warm. Sie hatte ihren grünen Parka ausgezogen und teilweise in ihre Umhängetasche gestopft. Der Reißverschluss kratzte bei jedem Schritt an ihrer Jeans. Maya war vollständig platt. Immer noch schwirrte ihr der Kopf von den unnötigen Diskussionen. Sie griff nach hinten und löste ihren Pferdeschwanz. Schon besser. Alles was sie wollte, war in ihr Bett zu kriechen und endlose Stunden zu schlafen. Hoffentlich gab es keinen Zusammenstoß mit Rocco mehr. Das würde sie heute nicht auch noch aushalten. Aber sie hatten sich nicht mehr versöhnt, bevor Maya zu dem Treffen aufgebrochen war. Rocco hatte sich schmollend ins Café verzogen und Maya hatte ihn in Ruhe gelassen. Na ja, immerhin war er an die Arbeit gegangen. Maya sah das als Indiz dafür, dass sich seine Wut bereits ein wenig verzogen hatte. Maya fragte sich, was er wohl mit seinem Bild machen würde. Es verstecken? Es zerstören? Oder wenn alle Teufel ihn ritten, es ausstellen?

Wenige Meter von ihrem Café entfernt sah sie die Antwort. Aus ihrem nachts mit einem kleinen Spot beleuchteten Schaufenster blickten ihr fünf weiße Gesichter entgegen. Er hatte es ausgestellt. Im Fenster ihres Cafés. Schlagartig war sie hellwach.

„Rocco, du…“ ihr fiel kein Schimpfwort ein, dass auch nur annähernd ihre Wut ausgedrückt hätte. Sie rannte die letzten Meter, sperrte hastig die Tür zum Café auf und stürmte hinein.

„Rocco!“, rief sie. Das Blut stieg ihr in den Kopf.

„Rocco, du Feigling! Was hast du dir dabei gedacht?“

Mit ein paar schnellen Schritten war sie im Atelier, knipste das Licht an und sah sich um. Er war nicht da.

„Rocco!“, versuchte sie es ein letztes Mal.

„Na warte, du… wenn ich dich in die Finger kriege…“

Mit einem wütenden Schrei drehte sie sich um und lief zurück ins Café. Jetzt galt es erst einmal dieses Bild zu beseitigen. Sie würde es jetzt gleich eigenhändig zerschneiden. Maya musste auch im Schankraum das Licht einschalten, um in der Schublade nach einer Schere zu wühlen. Irgendwo hier, bei den Schraubenziehern und den Eislöffeln musste eine sein. Rocco hatte das Bild wahrscheinlich mit Nylonschnüren befestigt. So wie sie es immer mit den Werken tat, die sie im Schaufenster ausstellte. Sie würde diese Bedrohung nicht nur abschneiden. Sie würde die Schere durch die Leinwand rammen, bis nichts als Fetzen blieben.

Maya trat von hinten an das Schaufenster und griff nach dem Bild. Da bemerkte sie eine Bewegung auf der anderen Seite des Glases. Erschrocken fuhr Maya hoch. Und was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ihr Verstand setzte aus. Ganz so, als wollte er nicht verstehen, dass dieses schreckliche Grinsen vor dem Fenster zu Victor Mocovic gehörte. Maya war unfähig, sich zu bewegen.

„Es ist doch fast so, als würde man in einen Spiegel blicken, findet ihr nicht?“ Seine Augen fixierten sie während er mit samtener, amüsierter Stimme zu seinen Begleitern sprach. Aus dem Hintergrund drang Gelächter durch die immer noch offen stehende Tür an Mayas Ohr. Doch sie sah nur Victor. Er sah genauso aus, wie auf den Fotos in den Zeitungen. Genau so, wie auf dem Bild. Dunkelhaarig, drahtig, attraktiv. Das hätte wunderschöne Babys gegeben, schoss ihr in einem Anflug von Wahnsinn durch den Kopf.

„Hey du, Kleine“, sprach er sie an. Seine Stimme klang immer noch belustigt. „Komm mal hier her.“

Maya versuchte, sich in Bewegung zu setzen. Aber sie war wie gelähmt. Reiß dich zusammen, Stratov! Sie haben dich. Du hast es gewusst. Irgendwann hatte es so kommen müssen. Sie gab sich einen Ruck und trat nach draußen. Gleichzeitig mit ihrem Körper hatte auch ihr Verstand seine Lähmung abgeschüttelt. Wie, um die vergangene Zeit aufzuholen, überschlugen sich ihre Gedanken nun förmlich. Maya nahm von jeder Kleinigkeit Notiz. Seltsamerweise zitterte sie nicht, als sie Victor Mocovic zum ersten Mal in ihrem Leben von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Er war größer als sie und schlicht, aber teuer gekleidet. Seine Füße steckten in schweren schwarzen Stiefeln, die Jeans verschwand unter dem halblangen Ledermantel und über seiner Brust spannte sich ein eng anliegendes dunkles T-Shirt. Sie registrierte den Schlagstock in seiner Hand. Aber es war nicht diese Waffe, die ihr die Gewissheit gab, dass sie diesen Abend nicht überleben würde. Es war Mocovics Lächeln. Rocco hatte seine Zähne spitz zulaufend gemalt. Eine künstlerische Freiheit, die er sich genommen hatte. Aber keine noch so spitzen Zähne konnten das raubtierhafte in Victors Gesicht angemessen ausdrücken. Er war auf der Jagd. Sie war seine Beute.

„Du hast da ein schönes Bild“, stellte er fest.

Maya antwortete nicht. Ihr Puls schlug in ihrem Hals.

„Ist das von dir?“

Maya dachte an Rocco. An die Tatsache, wie sinnlos es wäre, jetzt Ausreden zu suchen. Sie nickte. Rocco wäre stolz auf sie. Ein Schluchzen steckte in ihrem Hals.

„Ich find’s kacke«, hörte Maya einen kleineren, mausartigen Mann hinter ihr sagen. „Ich bin ja gar nicht drauf!“

„Halt die Klappe, Shorty!“, blaffte der Kerl neben ihm. Maya konnte ihn aus dem Augenwinkel sehen. Er war unrasiert, hatte eine wohl mehrfach gebrochene Nase und einen einfältigen Gesichtsausdruck.

„Nein Shorty, dich erkenne ich auch nicht auf dem Bild“, bestätigte Victor und schürzte die Lippen. „Aber unser lieber Scar ist gut getroffen.“

Rocco musste ihn tatsächlich schon einmal gesehen haben, dachte Maya automatisch, als sich Scar ins Licht schob. Er war größer und muskulöser als sein Bruder. Sein Kopf war kahlrasiert, die Augen lagen tief in den Höhlen, eine Tätowierung erstreckte sich über den halben Hinterkopf und diese schreckliche Narbe durchzog sein Gesicht. Aber im Gegensatz zu seiner gemalten Variante lächelte er nicht. Scar blickte – verwirrt? Hinter ihm stand ein weiterer Mann. Es waren tatsächlich fünf – wie auf dem Bild. Von ihren Händen würde Blut tropfen. Ihr Blut.

Victor legte den Kopf schief und seine linke Hand berührte sie am Kinn.

„Sie ist hübsch.“

Ruckartig entzog sich Maya seiner Berührung. Dieser Schluchzer hatte ihr die Kehle verstopft. Sie bekam kaum Luft.

„Vic…“ Scar legte seinem Bruder seine riesige Pranke auf die Schulter.

„Was denn?“ Victor ließ Maya nicht aus den Augen. „Lass mich doch überlegen, was ich jetzt mit ihr anstelle.“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Was stelle ich nur mit dir an?“

„Die ist doch lecker“, bestätigte der Bärtige an ihrer Seite. “Lass sie uns vögeln.“

„Victor.“ Scars Stimme klang warnend. Der Druck seiner Hand ließ den Ledermantel seines Bruders knirschen. Maya konnte seine Absichten nicht einordnen. Ihr Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herz raste und ihre Hand klammerte sich um die Schere. Die Schere. Victor schüttelte seinen Bruder ab.

„Führ dich nicht auf, als hättest du was zu sagen!“, fauchte er. „Sie hat gerade gestanden. Und wenn du dich auf dem Bild auch noch so hübsch findest: Strafe muss sein.“

„Denkst du nicht, dass es eine viel größere Strafe wäre, sie hier zurückzulassen?“, meldete sich der Mann hinter Scar aus der Dunkelheit. „In der Gewissheit, dass wir wissen, was sie getan hat? Du könntest ihr das Leben zu Hölle machen.“

Victor schien zu überlegen. Maya sah in seinen Augen, dass er log, als er schließlich antwortete.

„Vielleicht. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, sie am Leben zu lassen.“ Sie würde es ihm nicht noch schöner machen, indem sie hoffte.

„Aber sie sollte dennoch vorher eine Ahnung bekommen, was wir tun werden, wenn sie noch einmal so ungezogen ist.“ Er grinste sie an und Maya registrierte, wie die anderen Männer begannen, sie zu umkreisen.

„Lasst uns ein wenig mit ihr spielen.“ Victor kam langsam einen Schritt näher. Er hob den Arm, wie um sie zu streicheln. Maya hörte schweren Atem hinter sich. Ihr Herz drohte zu explodieren, die Bilder verschwammen vor ihren Augen. In blinder Panik wirbelte sie herum. Die Schere in ihrer Hand ausgestreckt wie ein Messer. Sie spürte ihren Unterarm gegen etwas knallen und hörte einen überraschten Schrei, als die Schere ein Ziel fand.

Endlich befreite sich der Schluchzer aus ihrer Kehle. Röchelnd sog sie Luft in ihre Lungen.

„Was zum Teufel…“ hörte sie Victors Stimme.

Alles was dann kam, war Schmerz. Schmerz, der sich von Ihrer Schulter in rasender Geschwindigkeit ausbreitete und alle anderen Sinne vernichtete. Sie wusste nicht, ob sie schrie oder was sie sah. Sie taumelte, spürte zwei Hände, die sich wie Schraubstöcke über ihren Mund und ihren Nacken legten. Dann ein weiterer Schmerz, schnell und heftig an ihrer Schläfe. Dann nichts mehr.

Erben der Macht

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