Читать книгу Erben der Macht - Christine Stark - Страница 7

5 Behagliches Dunkel

Оглавление

„Wir dachten schon, du tauchst gar nicht mehr auf.“ Victor saß an seinem großen, ovalen Mahagoni-Esstisch und schob seinen leeren Suppenteller zur Seite. Carl und Shorty waren wie immer mit von der Partie. Außerdem Vincent und Anatol Wodrow. Die Zwillingsbrüder waren Victors Männer für die „Aufräumarbeiten“. Zwei große, muskulöse, nahezu gleich aussehende Typen. Wie gemacht, um die Tür einer Nobeldisco zu bewachen. Aber auch schnell und effektiv. Sebastian fragte sich, warum sein Bruder sie heute dabei haben wollte. Die Zwillinge waren noch jung und erst seit Kurzem im Geschäft. Klaus Wodrow, ihr Vater, hatte vor wenigen Monaten einen Schlaganfall erlitten und war noch nicht wieder auf den Beinen. Vielleicht würde er das auch nie wieder sein. Vincent und Anatol hatten die Aufgaben ihrer Familie übernommen. Trotzdem irritierte Sebastian die Anwesenheit der Beiden. Aber wer wusste schon, was in Victors Kopf vorging? Sebastian setzte sich auf einen freien Stuhl, seinem Bruder gegenüber.

„Carl sagte: Um Acht. Es ist Acht. Ich bin hier.“

Sofort wurden wie aus dem Nichts Gläser vor Sebastian auf den Tisch gestellt. Das eine füllte sich mit dunklem Rotwein, das andere mit Wasser. Der Hausangestellte seines Bruders, der heute für die Getränke zuständig war, machte eine winzige Verbeugung und verschwand lautlos, um irgendwo im Raum auf einen erneuten Einsatz zu warten. Victor wischte sich seine Hände an der Serviette auf seinen Knien ab.

„Wie dem auch sei: Wir hatten jedenfalls Hunger und wollten nicht länger warten.“

Sebastian sah, wie Carl grinste. Sein Cousin hatte wirklich eine Vorliebe für unglaublich unnütze Spielchen.

„Es macht dir hoffentlich nichts aus“, beendete Victor seine Erklärung.

„Nein“, antwortete Sebastian wahrheitsgemäß. Ihm war ohnehin nicht nach Suppe. Stattdessen nahm er einen Schluck Rotwein. Sofort legte sich der herbe, schwere Geschmack auf seine Zunge. Es war ein guter Wein. Genauso wie Sebastian ihn mochte.

„Was gibt’s?“, wollte er wissen.

„Lamm mit Bohnen.“ Die Augen seines Bruders funkelten. „Und ich hoffe, Anita hat noch was von diesem Schokoladenkuchen.“

„Vic…“ Sebastian seufzte.

„Was denn?“ Sein Bruder warf ihm ein umwerfendes Lächeln zu. Eines von der Sorte, mit dem er die ganze Welt betören konnte.

„Es hieß, das hier wäre ein Geschäftsessen.“

„Das ist es ja auch, großer Bruder. Das ist es.“ Victor verzog die Lippen zu einem beinahe mädchenhaften Schmollmund. „Aber dass du es so eilig hast… Ich für meinen Teil hätte mich gerne erst noch ein wenig unterhalten. Du nicht?“

Sebastian zuckte mit den Schultern.

„Wenn du meinst.“ Er wandte sich an die Wodrows. „Wie geht’s eurem alten Herren? Irgendwelche Fortschritte?“

Es war vermutlich Anatol, der antwortete. Sebastian konnte die beiden schlecht auseinanderhalten. Und eigentlich war es ihm auch egal, wer welcher war.

„Der sitzt im Bett und pöbelt rum. Mama ist schon ganz fertig. Nicht wegen der Pöbelei, das ist sie ja gewohnt. Aber sie versteht ihn einfach nicht mehr. Er lallt nur noch!“ Und dann machte er ihnen vor, wie Klaus Wodrow, den Mundwinkel herabhängend, in der Gegend herumbrüllte. Shorty fiel fast vom Stuhl vor Lachen und kriegte sich erst wieder ein, als das Lamm serviert wurde.

Die ersten Bissen aßen sie schweigend und nahezu andächtig. Anita, die Köchin, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Das Fleisch war zart und noch leicht rosa, die Kartoffeln und die grünen Bohnen einfach perfekt. Obwohl Sebastian mit wenig Appetit hergekommen war, war ihm bereits bei den ersten Duftwolken aus der Küche das Wasser im Mund zusammengelaufen.

„Anita würde dich jeden Tag so bekochen, wenn du wieder hier einziehen würdest“, stellte Victor fest und warf Sebastian einen amüsierten Blick zu.

„Dann würde es nicht lange dauern, bis ich dieses Haus gar nicht mehr verlassen könnte. Ihr müsstet mich rollen! Nein, ich bleibe lieber, wo ich bin. Das ist besser für meine Figur.“ Und nicht nur dafür, ergänzte Sebastian in Gedanken.

„Damit du immer kommen und gehen kannst, wie es dir passt.“ Victor seufzte theatralisch. „Und wir sitzen hier und warten, wie kleine Mädchen beim ersten Date.“

Shorty begann wieder zu kichern.

„Du hast dich die ganze Woche nicht blicken lassen“, fuhr Victor fort und schob sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund.

„Ich war krank“, antwortete Sebastian so mürrisch wie möglich. „Grippe.“

Victors Augenbrauen schnellten nach oben. „Grippe? Wirklich?“

Sebastian schnaubte: „Nein, Victor. Ich hatte einfach keinen Bock dich zu sehen, klar?“

Sebastian beobachtete, wie sich die Augen seines Bruders leicht verengten. Er schwieg. Es kam Sebastian so vor, als würde Victor nur darauf warten etwas zu sagen, ein bestimmtes Thema anzuschneiden. Er täuschte sich nicht.

„Du hattest keinen Bock auf mich? Dabei hätte ich doch viel mehr Grund, auf dich sauer zu sein. Wenn man bedenkt, wie du mir die Tour versaut hast.“

Sebastians Inneres gefror zu Eis, als sein Bruder weitersprach: „Apropos, was ist denn eigentlich aus dem Mädchen geworden?“

Verdammt vorsichtig! Sei jetzt verdammt vorsichtig, Scar!

„Aus welchem Mädchen?“ Sebastian stocherte bemüht gleichmütig in seinen Bohnen.

„Na, die Schlampe, die mir den Arm aufgeschlitzt hat!“, meldete sich Carl heftig zu Wort. Sebastian grinste und hoffte, es würde überzeugen. Carl hatte seinen Ärmel hochgezogen und zeigte allen Anwesenden seinen bandagierten Unterarm. Es war einfach lächerlich. Sebastian dachte an Mayas Schulter und die Prellungen an ihrem Körper.

„Was soll mit ihr sein?“, fragte er so desinteressiert wie möglich.

„Ich dachte, das könntest du uns vielleicht sagen“, entgegnete Victor und beugte sich neugierig über sein Essen hinweg zu ihm. „Ich habe keine Stunde nach diesem unerfreulichen Zwischenfall die beiden Wodrows losgeschickt, um eventuelle Reparaturmaßnahmen vorzunehmen.“

Dein Killer-Kommando, dachte Sebastian und musste sich zusammenreißen, um nicht auf die Zwillinge loszugehen. Oder auf seinen Bruder. Widerliche Killer waren sie – allesamt! Victor legte sein Besteck zur Seite.

„Aber die Kleine war nicht mehr da. Du weißt nicht zufällig, wo sie abgeblieben sein könnte?“ Sebastian legte ebenfalls Messer und Gabel hin und sah seinem Bruder ruhig und ernst in die Augen.

„Um ehrlich zu sein, ich habe sie aufgesammelt und mit nach Hause genommen. Da hab ich sie aufgepäppelt und jetzt halte ich sie mir als Hausdienerin. Sie nennt mich Meister.“

Für mehrere Sekunden war es vollkommen still im Raum. Carl lachte als Erster. Dann Shorty.

„Meister…“, stammelte er immer wieder „Der ist gut… Meister!“ Schließlich stimmten auch Victor und die Wodrows mit ein. Sebastian bleckte lediglich die Zähne. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

„Im Ernst, Vic. Ich weiß nicht, wo sie ist. Wahrscheinlich ist sie tot. Was kümmert‘s dich?“

Victor hob entschuldigend die Hände. „Ich mag es einfach nicht, wenn Dinge unerledigt bleiben. Außerdem frage ich mich wirklich, wo sie abgeblieben sein könnte. Wir haben ihre Wohnung gefilzt und festgestellt, dass sie da nicht alleine gewohnt hat. Sieht aus, als würde da noch ein Kerl leben. Vielleicht hat sie der ja gefunden und aus der Schusslinie gezogen.“

Sebastians Magen krampfte sich auf einmal zusammen. Er schob den Teller von sich.

„Was weiß denn ich?“, sagte er und konnte den Ärger in seiner Stimme nicht ganz verbergen. „Und es interessiert mich ehrlich gesagt auch nicht.“

„Sie war eine vom Widerstand!“, warf Carl ein. „Das hat doch dieses hingeschmierte Bild bewiesen. Wenn da ein Nest ist, dann sollte uns das schon interessieren, finde ich.“

Sebastian lehnte sich vor und blickte abschätzig in Carls Richtung. „Hältst du das für ein Nest? Ein Mädchen mit Pinsel und ihren Macker? Wir hätten Einiges zu tun, würden wir jedem Dahergelaufenen, der zu viel Unvernunft gefrühstückt hat das Genick brechen wollen. Anatol und Vincent würden gar nicht mehr hinterherkommen“, ergänzte er mit einem Seitenblick auf die Wodrows.

„Wir hätten nichts gegen ein wenig mehr Widerstand“, tönte einer der Zwillinge und ließ die Knöchel an seiner Hand knacken. „Mehr Spaß für uns!“

Sebastian hätte sich am liebsten übergeben. Diese dummen Kinder!

„Was ich damit sagen will, ist:“, überging er den Einwurf der Wodrows „Wenn du wissen willst, was mit dem Mädchen passiert ist, bleibt dir nichts anderes übrig, als ihre Wohnung beschatten zu lassen. Vielleicht taucht sie ja auf – oder der Kerl. Aber wenn du mich fragst, ist das die Mühe nicht wert. Bestimmt ist sie längst tot oder irgendwie abgehauen. Wir haben wirklich andere Probleme.“ Ein letztes, inszeniertes Schulterzucken. Hoffentlich reichte es.

„Wahrscheinlich hast du Recht, mein lieber Scar.“ Victor hatte seinen Hauptgang aufgegessen und lehnte sich zurück. „Dann lass uns also zu den anderen Problemen kommen.“ Sebastian atmete vorsichtig aus, um sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Alles was jetzt kam, konnte nicht mehr so schlimm werden.

„Nach der Sache mit Henly habe ich dich gebeten, ein prüfendes Auge auf unsere anderen Geschäftspartner zu werfen. Wie kommst du voran?“

„Langsam“, antwortete Sebastian. Die Zahl der Geschäftspartner der Mocovics war beträchtlich und Sebastian arbeitete gründlich. Außerdem hatten sie alle irgendwie Dreck am Stecken. Victor interessierte sich nur für eine bestimmte Art von Dreck – Sebastian wollte alles wissen.

„Cosmo Fairchild steht gerade ganz oben auf meiner Liste.“

„Der gute Cosmo? Was sagen denn seine Bücher über ihn?“

„Nichts. Seine Bücher sind astrein.“ Sebastian leerte sein Weinglas. Sofort war der Hausdiener zur Stelle, um ihm nachzuschenken. Sebastian schüttelte den Kopf. „Danke, ab jetzt nur noch Wasser.“ Dann wandte er sich wieder den anderen zu.

„Aber mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass er Geld abzweigt, das ihm nicht zusteht. Seine Geschäftsbücher verzeichnen das als Lohnkosten und Sozialleistungen. Aber er schiebt es sich, so heißt es, lieber selbst in die Taschen.“

Victor schenkte seinem Bruder einen gleichgültigen Blick.

„Heißt es so? Na, und wenn schon?“

„Cosmo belügt uns, wenn er Geld an uns vorbeischmuggelt“, gab Carl zu bedenken. „Von jeder dieser Einnahmen steht uns ein gewisser Prozentsatz zu. Wenn er seinen Vertrag nicht einhält, ist er ein verdammter Betrüger, Vic.“

Wie Sebastian bemerkte, brauchte sein Bruder nur wenige Sekunden, um die Sachlage zu durchdenken.

„Dann sollten wir ihm eine Lektion erteilen, findet ihr nicht?“ Sein Blick wanderte zu den Wodrows und Sebastian fröstelte plötzlich.

„Wie gesagt, es sind nur Gerüchte. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Cosmo uns tatsächlich hintergeht. Aber ich werde der Sache noch einmal ordentlich nachgehen. Und wenn er tatsächlich glaubt, er könnte die Mocovics bescheißen…“ Sebastian setzte sein schlimmstes Grinsen auf. Er wusste, dass damit alles gesagt war. Kaum etwas war furchteinflößender, als sein Grinsen. Mit einer Ausnahme: Dem breiten, gemeinen, wunderschönen Lächeln seines Bruders. Der hob plötzlich den Kopf und atmete genussvoll ein. Auch Sebastian stieg der Duft in die Nase.

„Sieht so aus, als hätte Anita doch noch was von dem Schokoladenkuchen übrig.“

Maya wusste nicht genau, was sie geweckt hatte. Vermutlich hatte sie sich im Schlaf in eine unangenehme Position gerollt. Der neue Verband, den der Doc ihr verpasst hatte, ließ ihr zwar deutlich mehr Bewegungsfreiheit, aber es war immer noch ein Verband. Außerdem war es warm im Zimmer und die verschwitzten Laken hatten sich um ihre Beine gewickelt. Sie blinzelte und war überrascht, als sie Sebastian im Sessel neben ihrem Bett entdeckte. Einen friedlich schlafenden Sebastian. Warum schlief er hier? Durch die geöffnete Tür fiel Licht aus dem Wohnzimmer herein. Wahrscheinlich hatte er gar nicht vorgehabt, die Nacht neben ihrem Bett zu verbringen, war aber doch eingenickt. Maya durchströmte ein warmes Gefühl. Er hatte nach ihr gesehen, hatte sich in den Sessel gesetzt und ihren Schlaf bewacht. Genau wie in ihren ersten Tagen hier. Und wieder war dieses Gefühl von Sicherheit so präsent, dass sie glaubte, es mühelos mit den Händen greifen zu können. Das Licht aus dem Wohnzimmer zeichnete ein großes, gelbes Viereck an die Wand am Fuße ihres Bettes und erhellte den Rest des Raumes gerade so weit, dass sie Sebastians Gesichtszüge erkennen konnte. Wenn auch verschwommen. Das verlieh seinem Äußeren eine Sanftheit, von der Maya wusste, dass sie sich bei normalem Licht in Nichts auflösen würde. Doch jetzt hatte sein Körper nichts von der bedrohlichen, angespannten Haltung an sich. Sebastian hatte sich im Sessel zurückgelehnt, ein Bein angewinkelt. Maya konnte sehen, dass er barfuß war. Seine Beine steckten in weiten, bequemen Stoffhosen und ein einfaches, weißes T-Shirt bedeckte seinen Oberkörper. Sebastians Atem ging ruhig und gleichmäßig, eine Hand ruhte auf der Sessellehne, die andere lag entspannt auf seinem Oberschenkel, die Innenseite nach oben gedreht. Maya konnte am Handgelenk die dunkle, geschwungene Tätowierung ausmachen, die sich über den ganzen Unterarm bis unter sein Shirt erstreckte. Wie weit ging sie wohl? Sie versuchte, unter dem weißen Stoff etwas zu erkennen, doch dafür reichte das Licht bei weitem nicht aus. Erst an der Seite des Halses, über dem Ausschnitt waren die Linien wieder zu sehen. Sebastians Kopf war zur Seite geneigt. Maya folgte mit den Augen der silbrig glänzenden Narbe, die sich unregelmäßig vom Haaransatz an der Schläfe, bis zu seinem Kinn erstreckte. Und dann noch eine zweite, kürzere Linie, vom Rand seiner Oberlippe bis zum Wangenknochen. Sie fragte sich, welche Art von Bewegung wohl so eine Spur hinterließ. Waren es zwei gezielte Schnitte gewesen, oder ein unkontrollierter Hieb? Maya seufzte gegen einen schweren Klumpen an, der sich ihr aufs Herz legte. Würde er den Kopf zur anderen Seite drehen, könnte sie jetzt ohne Probleme den Sebastian von früher erkennen. Nein, das war Unsinn! Wenn sie genau hinsah, konnte sie das auch in der vernarbten Seite des Gesichts. Das dämmrige Licht milderte die scharfen Kanten seines Kiefers und der Wangenknochen. Er sah jünger aus, unschuldiger. Maya konnte seine langen Wimpern, die sich auf die dünne Haut unterhalb der Augen legten nur erahnen. Ihr Blick folgte stattdessen seinen geschwungenen Augenbrauen über die lange gerade Nase, bis zu den Lippen. Sein Mund war leicht geöffnet und seine volle Unterlippe erinnerte Maya an Küsse voller Verlangen und Lust. Diese Unterlippe war ein Versprechen. Wie anders musste es sich dagegen anfühlen, diese Stelle an seiner Oberlippe zu berühren? Die Stelle, an der die Narbe einen kleinen Knoten bildete und den Schwung des Mundes durchbrach.

Ohne darüber nachzudenken, setzte Maya sich auf und schälte sich so leise wie möglich aus den Laken. Sie wagte kaum zu atmen und hoffte, Sebastians Schlaf würde ausnahmsweise fest genug sein, damit sie ihm näherkommen konnte. Wie nebenbei registrierte sie, dass die Wirkung ihrer Schmerzmittel wohl noch anhielt, denn Maya bemerkte lediglich ein kurzes Stechen, als sie aufstand. Sebastian rührte sich nicht. Er musste total erledigt sein, dachte sie. Vorsichtig und nahezu lautlos setzte sie sich auf die Lehne des Sessels. Sebastian seufzte, und Mayas Herz machte einen erschrockenen Satz. Doch er bewegte nur die Schultern, hielt die Augen aber geschlossen. Aus der Nähe bemerkte Maya die Falten an seinen Augenwinkeln und zwischen den Augenbrauen. Er wirkte von hier aus deutlich angestrengter als gerade eben, als er ihr so jung und entspannt erschienen war. Auf seiner Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. Wieder betrachtete sie die Stelle an seiner Lippe, die die Narbe förmlich auseinandergerissen hatte. Mayas Herz begann schneller zu schlagen. Die Lippe hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Wenn sie die Hand hob, um seinen Mund zu berühren, würde er aufwachen und sie fortstoßen. Sie würde es nie erfahren. Das Rauschen ihres Blutes dröhnte in ihren Ohren, als sie sich über ihn beugte und ihre Lippen vorsichtig auf seine drückte. Sein Mund öffnete sich unter ihrer Berührung im Moment zwischen Schlafen und Wachen. Er schmeckte salzig und warm. Von der Weichheit seiner Lippen völlig hingerissen, wagte Maya einen erneuten Vorstoß. Es war nur ein kleines Bisschen mehr, doch es reichte aus, um Sebastian vollends aus dem Schlaf zu reißen.

So schnell, dass Mayas Herz vor Schreck beinahe stehen geblieben wäre, fassten seine Hände nach ihrem Gesicht. Sebastian riss seinen Kopf zurück und starrte sie aus großen, erschrockenen Augen an.

„Maya, was…“, war alles, was Sebastian noch hervorbrachte. Wie war sie ihm so nahe gekommen? Was hatte sie gemacht? Sie hatte ihn geküsst! Oder hatte er nur geträumt? Mit Sicherheit. Er träumte noch immer, denn Maya schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln und er spürte, wie ihre Hand über seinen Kopf strich. Millionen kleiner Schauer jagten durch seinen Körper.

„Schhhh. Keine Angst“, sagte sie und ihre Stimme klang rau und dunkel. „Keine Angst, das bin nur ich.“

Sebastians Griff lockerte sich und Maya neigte den Kopf, um ihn ein weiteres Mal zu küssen. Ihre Lippen waren sanft, forderten nichts, boten sich ihm einfach an. Unfassbare Sehnsucht brach sich in ihm Bahn. Hilflos stöhnte er auf und zog sie an sich. Ihre Lippen verschmolzen, Mayas Hände lagen in seinem Nacken und ihre Finger gruben sich in seine Haut. Kann dieser Traum bitte immer so weitergehen. Da riss ihn ein überraschtes „Aua“ in die Realität zurück. Und was er sah, entsprach dem, was er geglaubt hatte zu träumen. Maya saß hier, an ihn gepresst und küsste ihn. Das heißt, im Moment küsste sie ihn nicht. Stattdessen war ihr Gesicht schmerzverzerrt und zu spät bemerkte Sebastian, dass er sie ein wenig zu fest an sich gedrückt hatte. Sofort ließ er sie los.

„Entschuldige. Bitte, entschuldige!“, stammelte er. Zu seiner Verwunderung lächelte Maya nur.

„Schon gut“, flüsterte sie heiser. „Ich schätze, damit konnte wohl keiner rechnen. Aber lass es mich noch einmal versuchen.“ Ohne ihn aus den Augen zu lassen, beugte sie sich zu ihm. Ihre Körper berührten sich nicht. Dann nur die Lippen. Ein süßer Kuss.

„Komm ins Bett“, sagte sie. „Ich bin müde.“

Sebastians Herz schlug so schnell, dass er sicher war, es müsste jederzeit platzen. Völlig perplex sah er zu, wie Maya sich zurückzog, ihren Platz neben ihm verließ und sich wie in Zeitlupe zurück zum Bett bewegte. Sebastian war unfähig sich zu rühren. Er saß nur da und versuchte zu begreifen, was da gerade vor sich ging. Maya kroch unter die Laken und legte sich umständlich zurück. Eine Weile passierte nichts. Sebastian atmete schwer.

„Keine Angst“, sagte sie wieder. „Das bin nur ich.“ Und dann warf sie ihm aus ihren dunklen Augen einen Blick zu, der ihn völlig willenlos machte. Wie in Trance stand er auf, umrundete das Bett, zögerte noch einen winzigen Augenblick, atmete zitternd ein und legte sich zu ihr. Er versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen ihnen zu lassen, sie nicht zu bedrängen, um den Moment nicht zu zerstören. So lagen sie einfach nur da und sahen sich an. Eine wundervolle Ewigkeit lang. Und als Maya schließlich einschlief, blieb er noch wach und beobachtete ihren Schlaf.

Gedankenverloren fuhr sich Maya mit der Rückseite ihres Stifts wieder und wieder über die Unterlippe. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Der neue Verband erlaubte ihr zwar, endlich etwas gegen ihre Langeweile zu unternehmen und zu zeichnen, aber Maya war ständig abgelenkt. Immer wieder wanderten ihre Augen zu Sebastian. Von ihrem bequemen Platz auf der Wohnzimmercouch aus beobachtete sie ihn, wie er an seinem Esstisch saß und hochkonzentriert in Geschäftsbücher blickte. In unregelmäßigen Abständen tippte er auch etwas in den Laptop, der neben den Akten auf dem Tisch stand. Es passte so gar nicht zu diesem Mann, so eine staubige, langweilige Schreibtischarbeit zu verrichten. Aber er tat es mit einer solchen Routine, dass Maya den Eindruck hatte, er würde es sogar ein wenig genießen. Seit drei Tagen ging das nun schon so. Er arbeitete, sie saß auf der Couch und versuchte zu zeichnen. Ab und zu – wenn er zum Beispiel aufstand, um sich oder ihr Kaffee zu holen – berührte er sie sanft im Vorbeigehen, hauchte ihr süße Küsse auf die Stirn und elektrisierende auf den Mund. Nachts legte er sich zu ihr ins Bett und wartete, bis sie eingeschlafen war.

„Würdest du das bitte lassen“, murmelte er, über einen Stapel Papier gebeugt.

Maya zuckte leicht zusammen.

„Redest du mit mir?“

„Mit wem denn sonst?“ Noch immer blickte er auf die Unterlagen. „Also lass es bitte.“

„Was denn?“

„Mich so anzusehen.“ Seine Ohren wurden rot und Maya bemerkte einen verlegenen Zug um seine Mundwinkel.

„Wie sehe ich dich denn an?“ Dieses Spielchen begann ihr zu gefallen. Ruckartig hob er den Kopf, sein Blick bohrte sich in ihren.

„So, dass ich am liebsten Dinge mit dir anstellen würde, die…“

„Die was?“

„Hör auf, okay? Ich muss arbeiten.“

„Entschuldige.“ Maya blickte wieder auf ihre Zeichnung. Für drei Sekunden, zwei, eine… kaute er da etwa auf dem Stift herum?

„Maya!“

„Hm?“

Sebastian sah sie vorwurfsvoll an. „Du tust es schon wieder.“

„Oh.“

Eine Weile beobachtete er sie schweigend. Dann, als hätte er eben etwas beschlossen, zuckten seine Mundwinkel. Sebastian stand auf, schlenderte langsam zur Couch und ließ sich direkt vor Maya in die Kissen fallen. Seine Augen immer auf sie gerichtet.

„Na los!“, forderte er sie auf. „Zeichne!“

„Was?“ Maya war verwirrt.

„Irgendwas. Zeichne meinetwegen mich.“

Maya schüttelte den Kopf. „Nein, ich meinte nicht was, sondern… ach egal.“ Sie senkte den Blick auf das Papier und begann ein Portrait von Sebastian. Immer wieder sah sie zu ihm auf und sein durchdringender Blick brannte ihr förmlich auf der Haut. Nein, so ging das nicht. Unwirsch riss sie das erste Blatt vom Block und startete einen neuen Versuch. Als sie aufsah, ließ Sebastian die Spitze seines Daumens gedankenverloren über seine Unterlippe gleiten. Immer noch musterte er sie mit diesem raubtierhaften Funkeln in den Augen. Maya hielt den Atem an. Ihre Hände begannen hektisch zu krakeln. Sie wusste, dass er es ihr mit gleicher Münze heimzahlte, aber sie würde das jetzt nicht zugeben.

„Ich kann einfach nicht gut Gesichter malen“, sagte sie stattdessen und zerknüllte auch das zweite Blatt. „Das konnte ich noch nie.“

Sebastian grinste zuerst. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkte kurz abwesend. Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.

„Aber du hast mich doch schon einmal gemalt. Und zwar ziemlich gut.“

Maya verstand nicht. „Hab ich?“

„Das Bild in deinem Café“, sagte Sebastian bestimmt.

Maya holte tief Luft. Verdammt! Was jetzt?

„Das…“ sie stockte, wusste einfach nicht, was sie sagen sollte.

„Du hast es nicht gemalt.“ Sebastians Stimme klang seltsam gedämpft. Blitzschnell griff er sich eines der zerknüllten Porträtversuche, faltete es auseinander und betrachtete Mayas verunglückte Linien.

„Das heißt, du hast jemanden gedeckt.“ In seine Stimme mischte sich ein harter Unterton.

„Ja“, bestätigte Maya leise. Was hatte es jetzt schon für einen Sinn, auszuweichen?

„Wen?“, hakte er sofort nach. Und als Maya nicht antwortete, schnaubte er verächtlich. „Diesen Kerl, hab ich Recht? Den, der bei dir wohnt.“ Sein Ärger reizte sie.

„Na und?“

Hilflos warf Sebastian die Hände in die Luft. Die Zeichnung segelte über den Rand der Couch, doch Maya blieb keine Zeit, ihren Fall weiter zu verfolgen.

„Na und? Sag mal, tickst du noch richtig? Du lässt dich beinahe töten…“ Sebastian schluckte und senkte seine Stimme wieder. Sie klang heiser, als er weitersprach. „Wieso hast du das getan?“

Maya dachte an Rocco. An den wütenden, verletzten Achtzehnjährigen. Daran, wie er sie einen Feigling genannt hatte. Und mehr als fromme Wünsche hast du nicht, hatte er gesagt.

„Weil dieser Mensch jung ist und dumm und impulsiv. Zornig und leichtsinnig und weil ich mich für ihn verantwortlich fühle.“

„Verantwortlich?“, Sebastian blinzelte verwirrt.

„Er ist Achtzehn.“ Sie sah förmlich, wie es hinter Sebastians Stirn arbeitete.

„Achtzehn… wow… das ist jung… ich dachte nicht, dass du…“

Maya verdrehte genervt die Augen. „Ja und du denkst in die ganz falsche Richtung. Er ist eher so etwas wie mein kleiner Bruder.“

„Oh.“ Sebastian verstummte. Maya schüttelte den Kopf. Wie konnte er nur eifersüchtig auf Rocco sein? Das war kaum vorstellbar.

„Mit kleinen Brüdern kenne ich mich aus“, begann Sebastian schließlich erneut. „Und ich kann dir sagen, sie sind für ihr Handeln ganz und gar selbst verantwortlich.“ Sein Blick war dunkel und schien durch sie hindurch zu gehen.

„Und selbst wenn, es ist ja nicht so, als hättet ihr mich gehen lassen - in dieser Nacht vor meinem Laden - wenn ich euch erzählt hätte, von wem das Bild stammt. Zumindest habt ihr nicht so ausgesehen.“

Schlagartig war er wieder im Hier und Jetzt. In seinen Augen lag etwas Flehendes, als er ihr mit seinen großen Händen sanft über die Wange strich.

„Maya, es tut mir so leid.“

Es war das erste Mal, dass er sich für diesen schrecklichen Überfall entschuldigte. Maya kam es so sinnlos vor.

„Schon vergessen? Kleine Brüder sind für ihr Handeln ganz und gar selbst verantwortlich“, zitierte sie ihn und lächelte.

„Außerdem“, ergänzte Maya und dachte an Rocco, der sie einen Feigling genannt hatte. „Nur weil dieses Bild von jemand Anderem gemalt worden ist, heißt das noch lange nicht, dass ich die Meinung, die es abbildet, nicht teile.“

Sebastian blinzelte. „Du hältst uns für blutrünstige Monster.“ Es war keine Frage.

„Nicht alle“, antwortete sie trotzdem und sah Sebastian fest in die Augen. „Aber ich halte dieses System für ein Monster.“ Sie sah, wie er sie aufmerksam musterte. So, als wollte er abschätzen, was sie als Nächstes sagen würde.

„Diese Aura aus Druck und Angst, die ihr verbreitet. Die Macht, die euch euer Geld und eure Brutalität verleiht, ist degeneriert und falsch. Sie macht euch zu Herrschern über diese Stadt. Ihr stellt euch über das Gesetz und kauft euch eure Lebensweise. Aber das sollte so nicht sein. Es ist nicht richtig!“

Maya verstummte abrupt und sah Sebastian forschend an. Hatte sie zu viel gesagt? Einige Sekunden rührte er sich nicht. Dann nickte er langsam.

„Und du willst das ändern?“ Seine Stimme klang völlig neutral, so als hätte er sie nach der Uhrzeit gefragt.

„Das kann ich nicht ändern“, antwortete sie resigniert.

„Kannst du, oder willst du nicht?“ Immer noch war sein Tonfall lediglich interessiert.

„Ich würde nicht die sein wollen, die es ändert. Ich wüsste auch nicht wie. Aber ich wäre definitiv auf der Seite des Widerstands“, gab sie nach längerem Überlegen zur Antwort.

„Dann sollen sich die anderen für dich die Hände schmutzig machen?“ Jetzt konnte Maya die Herausforderung deutlich hören.

„Niemand muss sich meinetwegen die Hände schmutzig machen“, antwortete sie gereizt und plötzlich sprudelte es aus ihr heraus. „Aber ich bin nicht diejenige, die andere anführt. Das war ich noch nie. Das können andere besser. Nach allem was ich gesehen und erlebt habe, graut mir vor Blutvergießen und Chaos. Seit Jahren versuche ich, dem zu entkommen. Ich passe mich an, ich falle nicht auf. Nur deshalb bin ich noch am Leben!“ Maya holte schluchzend Luft. „Und ich will leben!“, brachte sie noch hervor, ehe ihre Stimme versagte.

Sebastian sah sie aus seinen blaugrauen, ruhigen Augen an. Die Zeit verstrich, doch keiner rührte sich. Schließlich brach er das Schweigen.

„Vielleicht sollten wir einfach abhauen.“ Er meinte es ernst, das konnte sie in seinen Augen sehen. „Lass uns weggehen von hier. Und alles hinter uns lassen.“

»Als ob es in diesem Land in einer anderen Stadt anders wäre«, antwortete sie automatisch. »Mit dem einen Unterschied, dass die, die mit Geld und Druck diese Städte beherrschen, nicht Mocovic heißen.«

Sebastian zuckte für einen Moment unter ihrem bissigen Tonfall zusammen. Doch er ließ sich nicht beirren.

»Ich meinte auch nicht, in eine andere Stadt. Ich meinte, in ein anderes Land. Weit weg.«

Für einen Augenblick – und später sollte sie sich dafür geißeln, dass sie nicht länger darüber nachgedacht hatte – zog sie diesen Vorschlag tatsächlich in Erwägung. Mit Sebastian an ihrer Seite in Sicherheit. Nur sie beide. Doch im nächsten Augenblick dachte sie an Rocco, an Lisa und Mia. Und sie dachte an Victor, der Sebastian niemals aus den Augen lassen würde. Außerdem war sie eine Stratov. Und was würde er tun, wenn er das herausfand? Tränen rannen ihr über die Wangen und sie wischte sie nicht fort.

„Das geht nicht, Sebastian.“

„Doch, wenn wir…“

„Nein, es geht nicht.“ Maya dachte an die Frau in ihrem Café. Es schien Ewigkeiten her zu sein. „Du sitzt hier genauso fest wie ich.“

Unruhig stand Sebastian auf dem Gehsteig vor seinem Haus. Es war ein hektischer Sommernachmittag. Autos verstopften die Straßen auf ihrem Weg in den Feierabend und verdichteten den Smog, der über der Stadt hing. Die Wodrows waren spät dran. Wahrscheinlich steckten sie ebenfalls im Verkehr fest. Doch das war nicht der Grund, warum Sebastian sich fühlte, als hätte er mehrere Tassen Kaffee zu viel getrunken. Es war etwas in Elias‘ Blick gewesen – gerade eben, als Sebastian sich von Maya verabschiedet hatte. Eine Strähne ihres Haares hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und er hatte nicht widerstehen können, sie ihr zurück hinters Ohr zu schieben. Es war nur eine kleine Bewegung gewesen, doch sie musste eine ganze Menge über Maya und ihn verraten haben. Denn Elias hatte überrascht nach Luft geschnappt und als Sebastian aufgesehen hatte, hatte er sofort bereut, sein Verhältnis zu Maya so unüberlegt preisgegeben zu haben. Elias‘ Augenbrauen waren nach oben geglitten und auf seinen Lippen hatte sich ein süffisantes Lächeln gezeigt, doch in seinen Augen war – wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil – pure Missbilligung aufgeblitzt. Dann war dieser Ausdruck verschwunden gewesen und Sebastian fragte sich mittlerweile, ob er sich nicht einfach getäuscht hatte. Schließlich ging es hier um Elias. Sebastian atmete heftig aus und wischte sich mit der Hand den Schweiß vom Gesicht. Und wenn schon. Es ging Elias nichts an, wie er zu Maya stand. Du lieber Himmel, er wusste ja nicht einmal selbst, was das zwischen ihm und Maya war.

Endlich schob sich die Silhouette einer glänzend dunkelblauen Limousine in sein Blickfeld. Sebastian stieß sich von der Mauer ab, an der er gelehnt hatte und trat an die Straße. Die Wodrows hielten nur kurz und Sebastian sprang auf den Rücksitz. Im Inneren des Wagens lief die Klimaanlage auf Hochtouren und Sebastian, der nur ein kurzärmliges schwarzes Oberteil über einer ebenso schwarzen Hose trug, fröstelte. Die Zwillinge hatten sich störrische Lederjacken übergezogen. Um cool zu wirken, aber trotzdem in der Hitze nicht zu zerlaufen, mussten sie das Wageninnere auf Kühlschranktemperatur halten. Sebastian versuchte, sich auf andere Sachen zu konzentrieren. Das bevorstehende Treffen mit Fairchild war knifflig. Er musste die Wodrows da unbedingt raushalten. Sie waren eindeutig viel zu heiß auf Blutvergießen. Das war das Letzte, was er wollte. Nein, er musste es schaffen Cosmo mit so wenigen Drohungen wie möglich auf die richtige Schiene zu bringen. Und er musste brutal genug sein, um seinen Ruf bei Victor nicht zu gefährden.

Er hatte nicht darum gebeten, die Wodrows mitzunehmen. Die Sache würde sich besser lösen lassen, wenn der alleine wäre. Aber Victor hatte ihm die Beiden aufgedrängt. Sie waren als Aufpasser mitgekommen. Dabei sollten sie nicht Fairchild überwachen, sondern ihn.

Sebastian seufzte. So sollte es zwischen Brüdern nicht sein, oder? Es sollte so sein, wie bei den Wodrows. Er schaute über die hohen Rückenlehnen nach vorne zu den Zwillingen. Die beiden stritten sich ständig. Doch nur über Nebensächlichkeiten. In den großen, wichtigen Dingen waren sie sich einig, vertrauten einander vorbehaltlos. Traten für den anderen ein. Dagegen steckte in der Geschwisterliebe zwischen Victor und ihm ein giftiger Stachel, den ihr Vater dort hineingetrieben hatte. Er hatte seine Söhne stärker machen wollen, indem er sie zur Konkurrenz angetrieben hatte. Ihre ganze Kindheit und Jugend hatten sie sich im Wettbewerb befunden. Wer hatte die bessere Idee, wer konnte sich durchsetzen, wer vorausdenken, wer hatte weniger Skrupel? Jahrelang hatte Sebastian diesen Wettstreit dominiert. Er war älter, größer, stärker und schlauer als Victor. Es war ein leichtes Spiel gewesen. Dann hatte sich alles verändert. Sebastian war zum Verräter geworden. Sein Vater hatte ihn von sich gestoßen und Victor zu seinem Kronprinzen gemacht. Und der hatte blind die Sichtweisen seines Vaters übernommen. Wie oft hatte Victor wohl gehört, dass Sebastian nicht zu trauen war, dass er die Familie verraten hatte und einen verschlagenen Charakter besaß? Sebastian wusste es nicht. Irgendwo zwischen diesen Gehirnwäschen, diesen Wettkämpfen und ihren eigenen Wesensveränderungen war die Bruderliebe erloschen. Einerseits wünschte sich Sebastian, er könnte den giftigen Stachel herausziehen und all diese Abneigung und das Misstrauen einfach beiseite wischen. Doch er hatte Angst vor dem, was dann zurückbleiben würde. Was, wenn da nichts war?

„Welches Tor?“ Der Wodrow auf dem Beifahrersitz drehte sich zu Sebastian um. Sie hatten den Fairchild–Chemiekonzern erreicht.

„Tor 1. Haupthaus. Was sonst?“, antwortete er knapp, versuchte aber, nicht allzu unfreundlich zu klingen. Irgendein kleiner Funke Sympathie war für die Zwillinge aufgeflammt. So wie man junge Hunde ganz niedlich findet, obwohl man weiß, dass es eigentlich beißwütige Kampfhunde sind.

„Hört mal Jungs:“, begann Sebastian, als sie vor dem Haupthaus aus dem Wagen stiegen. „Lasst mich zu Cosmo erst alleine reingehen.“

Die Zwillinge tauschten einen verwunderten Blick. „Aber Victor hat gesagt…“

„Victor kennt Cosmo nicht halb so gut, wie ich. Und ich sage euch, wenn wir da jetzt zu dritt reinmarschieren und ihm Angst machen, erreichen wir gar nichts. Fairchild ist schlau. Und er gibt gerne damit an. Ich will ihn erst in Sicherheit wiegen. Er soll glauben, er hätte die Oberhand, kapiert?“ Sebastian konnte sehen, dass sich die Wodrows wirklich Mühe gaben, zu verstehen – und scheiterten.

„Ich brauche euch als Joker“, sagte Sebastian deshalb nur. „Wartet einfach draußen.“

Damit war das Gespräch beendet und die drei betraten das Gebäude. Im Gegensatz zu vielen anderen Firmensitzen, die Sebastian kannte, war das Hauptgebäude des Fairchild-Konzerns eher unscheinbar. Ein kastenförmiger, fünfstöckiger Bau mit hellem Putz und hellblauen Aluminiumfenstern. Ein einfaches Bürogebäude, auch von innen. Lediglich die erlesene Ausstattung und die wenigen, großformatigen Bilder ließen erahnen, wie viel Gewinn diese Firma abwarf. Auch hier war alles auf frische 18 Grad heruntergekühlt. Sebastian wünschte sich allmählich, er hätte, genau wie die Wodrows, eine Lederjacke übergezogen. In der Eingangshalle stand ein großer Empfangstresen, dessen Hüterin, eine groß gewachsene, junge Frau mit kurzen dunklen Haaren überrascht aufsprang, als sie Sebastian und die Zwillinge erblickte.

„Herr Mocovic…“ Sie zögerte, riss sich zusammen und fuhr fort: „Guten Tag. Wie schön, Sie zu sehen. Obwohl wir heute gar nicht mit Ihnen gerechnet haben.“

„Mit mir können Sie immer rechnen“, antwortete er nur und nahm bereits die ersten Treppenstufen. Er mochte Aufzüge nicht besonders.

Als sie im fünften Stock ankamen, ließ er Anatol und Vincent im Vorzimmer bei einer resolut aussehenden Sekretärin zurück und betrat durch eine große hölzerne Doppeltür Fairchilds Büro.

Im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern wirkte dieser nicht im Geringsten überrascht oder hektisch. Natürlich hatte die Empfangsdame bereits Bescheid gegeben.

„Bei dem ganzen Geld, das ich den Mocovics in den Rachen schmeiße, könnte man meinen, sie würden sich davon etwas Anständiges zum Anziehen kaufen“, spöttelte Cosmo hinter seinem Schreibtisch. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen.

Cosmo Fairchild war ein etwa fünfzigjähriger, gutaussehender Mann. Natürlich war er tadellos gekleidet und seine wachsamen Augen beobachteten ihn hinter einer randlosen Brille.

„Es ist Sommer“, war Sebastians schlichte Antwort.

Auf Cosmos Gesicht machte sich ein kleines Lächeln breit. Und wieder hasste Sebastian seine Aufgabe aus tiefstem Herzen. Welche krummen Dinge Fairchild auch am Laufen hatte, Sebastian mochte ihn irgendwie. Er war entspannt und teilte mit ihm dieselbe Art von Humor.

„Cosmo…“, setzte Sebastian an und schnappte sich den freien Stuhl an Fairchilds Schreibtisch.

„Sebastian?“ Cosmo grinste jetzt. „Scar, was führt dich zu mir?“

Es war besser, nicht um den heißen Brei herumzureden.

„Ich habe deine Bücher durchgesehen.“

Über Fairchilds Blick huschte ein Schatten. Doch sofort hatte er sich wieder im Griff.

„Und was sagen sie dir, meine Bücher?“

„Deine Bücher sagen: Alles astrein“, erwiderte Sebastian ruhig.

„Das freut mich.“ Cosmo blickte abwartend.

„Hannes Willinger sagt etwas anderes.“ Sebastian sprach den Namen von Cosmos ehemaligem Finanzberater so beiläufig aus, wie möglich. Sofort versteinerte Fairchilds Miene.

„Willinger arbeitet nicht mehr für mich.“

„Aber er hat es lange Jahre getan“, entgegnete Sebastian.

Fairchild überlegte. Er schob seine Brille zurecht und sah Sebastian direkt an.

„Na und? Was kann er schon Wichtiges sagen, das nicht eingefärbt ist durch die Frustration eines entlassenen Mitarbeiters?“

Jetzt war es an Sebastian zu grinsen. Sein schlimmes Grinsen.

„Nichts, was Jakob Knaur nicht bestätigen würde.“

Fairchild schnappte nach Luft. Er hatte ihn am Haken. Knaur war Willingers Nachfolger. Nur ein klein wenig Druck war notwendig gewesen und Knaur hatte geplappert wie ein Waschweib.

„Was habt ihr mit Jakob gemacht?“ Zu Sebastians Überraschung klang Cosmo besorgt statt wütend. Sebastian schämte sich plötzlich, fuhr aber trotzdem fort.

„Nur ein kleines Gespräch unter Freunden. Nichts Schlimmes.“ Und als Fairchild abwartend schwieg, ergänzte er: „Cosmo, du zweigst Gelder ab, die eigentlich deinen Mitarbeitern gehören. Und damit nicht genug. Du schummelst sie an uns vorbei und kaufst dir einen neuen Sportwagen dafür. Oder zwei. Das geht nicht.“

Fairchild war ganz bleich geworden.

„Schiebe ich euch nicht schon genug Geld in den Rachen? Seid ihr so unersättlich?“

„Sagt der, der so unersättlich ist, dass er seinen Mitarbeitern Geld klaut?“

„Ich klaue kein Geld! Das ist Gewinn! Das steht mir zu!“, rief Cosmo trotzig.

„Nein, das tut es nicht“, presste Sebastian ungeduldig durch die Zähne.

„Und wenn schon!“, Cosmo ballte die Hand zur Faust. Sebastian registrierte, dass er versuchte, ruhig zu bleiben. „Ich gehe nicht davon aus, dass sich Victor Mocovic um meine Mitarbeiter sorgt.“

„Das tut er auch nicht. Aber er möchte nicht belogen werden.“

„Du kannst doch gar nicht beweisen, dass ich lüge. Du hast die Aussage zweier verschüchterter Angestellter. Das ist doch noch lange kein triftiger Grund, mich hier zu belästigen.“

Sebastian beugte sich auf seinem Stuhl soweit vor, wie möglich.

„Du kennst meinen Bruder nicht wirklich, oder? Lass dir sagen: Es ist ganz und gar egal, ob ich irgendetwas beweisen kann. Das spielt keine Rolle. Mein Bruder hält dich für einen Lügner – das reicht. Er braucht nichts weiter als das, um dir den Hals zu brechen.“

„Sagt der eine Lügner zum anderen“, flüsterte Cosmo. Sebastian grinste. Er hatte ihn da, wo er ihn haben wollte.

„Ich spreche aus Erfahrung.“

Fairchild schüttelte sich, als würde er aus einem Traum erwachen.

„Was schlägst du vor?“

„Das Geld, das du deinen Mitarbeitern vorenthältst, das zahlst du ihnen künftig aus. Und zwar auch rückwirkend. Außerdem erhöht sich unser Anteil um fünf Prozent.“

Cosmos Augen weiteten sich scheinbar erschrocken. Er spielte wieder.

„Fünf Prozent? Ihr wollt mich wohl ausnehmen!“

Sebastian lächelte milde und seine Stimme klang mitfühlend.

„Dafür helfen wir dir auch bei deinen Schwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft. Diese Drogensache könnte sonst unangenehm werden für den Fairchild-Konzern.“

Cosmo schloss die Augen. Das war der Deal. Er zahlte, die Mocovics kümmerten sich um die Sicherheit. Schutzgelderpressung de luxe.

Cosmo Fairchild nickte.

„Gut. Wenn du darauf bestehst.“

Sebastian nickte ebenfalls.

„Und, Cosmo?“

„Ja?“

„Draußen vor der Tür stehen zwei Schläger, die einfach mal reinkommen wollen, um bedrohlich auszusehen. Wenn ich sie reinbitte, kannst du dann ein bisschen so tun, als hättest du Angst?“

Erben der Macht

Подняться наверх