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Ehe & Ende

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Die Rückfahrt verlief ereignislos. Funk und Radio wechselten sich ab bei der Untermalung. Beide Kommissare mieden das Gespräch. Nathan, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Jasmin, weil sie überlegte, was passiert sein könnte. Erst in der Tiefgarage unterm Raumschiff brach Nathan das Schweigen.

»Schmidt wird dich abziehen«, sagte er tonlos.

Jasmin schaute stur aus dem Fenster. Die Tiefgarage fasste hunderte Fahrzeuge, inklusive gepanzerter Spezialfahrzeuge. »Schmidt wird nichts erfahren.«

Nathan musste lächeln, angesichts ihrer Naivität. »Spätestens bei der Identifizierung. Willst du deine Ehe vertuschen?« Er dachte wieder an den Einfluss vom Staatsschutz und dass seine Partnerin ein Spitzel im braunen Sumpf sein könnte – eine unvorstellbare Mehrfachbelastung aus Mutter, Kriminalkommissarin und Informantin.

Jasmin zappelte mit den Beinen, als wäre sie Schlagzeugerin und würde ihre Beinarbeit üben. Unterbewusste Nervosität. »Und dann?« Sie wandte sich an Nathan. »Soll ich zuhause rumsitzen und Däumchen drehen, während mein Leben von Kurz und Klein durchleuchtet wird? Ich kenne«, sie setzte ab, »Ich kenne meinen«, erneut eine Pause, »Ich kenne meinen Mann am besten. Und ich kenne seine Kontakte. Darunter werden wir den Mörder finden!« Sie hatte sich in Rage geredet.

Nathan suchte ihre pikierten Pupillen. »Du glaubst, es war Mord?«

Sie schnaufte verächtlich. »Natürlich! Was denkst du denn?«

Ein Schulterzucken. »Könnte er sich in den Tod gestürzt haben?« Er bereute seinen Einwurf, denn er konnte ihren Hauch des Todes förmlich an seiner Nasenspitze aufwirbeln sehen, ihn blendend, ihn erstickend.

»Nein!«, schüttelte Jasmin vehement den Kopf, führte aber nicht weiter aus. Sie wusste selbst nicht, was sie denken sollte. Als sie sich mit den möglichen Theorien befasste, beruhigte sie sich wieder. Ihr Kollege gewährte ihr die Zeit, auch zum Selbstschutz.

Ihr Telefon klingelte. Sie fädelte es umständlich heraus. »Ja«, begann sie ein wenig zu aufbrausend, was den Anrufer für eine Sekunde durcheinanderbrachte, weshalb nichts zu hören war. »Kommissarin Xander hier«, ergänzte sie deshalb gezügelter. »Aha … So schnell? … Aha … Nein, das überlasse ich Ihnen. Dafür haben wir keine Zeit. Wir sollten die Gelegenheit nutzen … Sie haben meine Mailadresse? … Genau … Wir schicken Ihnen unsere Befunde und die Fotos … Gut … Wiederhören.«

Nathan schaute sie fragend an.

»Die Forensik. Sie wollten wissen, ob wir der Leichenschau beiwohnen wollen.«

Nathans flehender Blick ließ Jasmin zögern. »Ich habe abgelehnt.«

Sofort verdunkelte sich seine Mimik.

»Kannst du deine Aufzeichnungen und die Fotos schicken?«, verpackte sie eine Anweisung in eine höfliche Frage.

Enttäuscht zückte Nathan sein Diensttelefon, fotografierte seine Notizen ab, fasste sie als Paket mit den Fotos vom Fundort zusammen und sendete es an das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum, wo es in einem verschlüsselten Posteingang landete, der der Kommunikation mit den Strafverfolgungsbehörden diente.

»Was machen wir jetzt in den drei Stunden, bis die Ergebnisse da sind?«, hakte er nach und steckte das Gerät wieder ein.

»Rapport bei Schmidt. Danach schauen wir uns die Kameraaufzeichnungen der Uferpromenaden und Brücken an. Irgendwo muss er ja hergekommen sein.«

Sie wollte schon aussteigen, da haute Nathan gegen das Lenkrad. Die Hupe schallte durch die Tiefgarage. Jasmin erschrak. Irgendwo in den Winkeln des Stahluntergeschosses zuckte wahrscheinlich auch jemand zusammen.

»Willst du mich verarschen?«, beschwerte er sich. »Dein Mann ist tot und du willst weiter ermitteln? Was stimmt nicht mit dir? Wenn dich das so kalt lässt, dauert es nicht lang und du kommst auf die Verdächtigenliste. Dann bist du nicht nur beurlaubt, sondern im Fadenkreuz!«

Jasmin atmete tief ein und aus. Sie musste ihrem Kollegen nicht sagen, dass jeder Mensch anders verarbeitet. Sie musste ihm nicht sagen, dass sie der Beruf abgestumpft hatte. Sie musste ihm nicht sagen, dass ihr der Tod eine Entscheidung abgenommen hatte.

»Du konntest ihn doch auch nicht leiden«, stellte sie unangebracht und trotzig fest, »Bist du dann auch verdächtig?«

Hätte sie nicht geschmunzelt und hätte er nicht diese Gefühle für sie empfunden, er hätte sie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag geohrfeigt. Trotz der Umstände behielt sie ihre lockere Art bei. Auch ein Weg, um mit Trauer, oder was auch immer, umzugehen.

»Bevor wir hoch gehen«, lenkte Nathan ab, »sag mir, was in den letzten Tagen auffällig war.«

»Willst du mich vernehmen?«

»Ich will die Kontrolle behalten, ehe Kurz und Klein Trampeltier spielen. Je mehr ich vorher weiß, desto besser kann ich mich in Stellung bringen, um Schmidt zu zeigen, dass er mich in den Fall einbeziehen muss.«

»Wenn ich beurlaubt werde, wird er dich erst recht aus dem Scheinwerferlicht holen. Du bist immerhin mein Partner. Schmidt kann sich schon denken, dass du mich auf dem Laufenden halten wirst und ich dir exklusive Informationen gebe. Eine unautorisierte, abtrünnige Nebenermittlung wird er verhindern wollen.«

»Und wie stellen wir das an, dass ich in den Ermittlungen eingebunden bleibe, während du Hausarrest hast?«

Jasmin wusste, was zu tun war, aber sie versuchte noch eine Ausweichroute zu skizzieren. Es gelang ihr nicht. In ihrem Gedankenspiel gab es nur diesen einen, unangenehmen Weg, wenn sie nicht Kurz und Klein das Feld überlassen wollten. Aber würde sie so weit gehen, um den, zugegeben verdienten, Tod ihres Gatten aufzuklären? Was würde passieren, wenn Kurz und Klein ihr gesamtes Leben auseinander nehmen? Würde sie zu ihrem Mann auch noch ihren Sohn verlieren? Würde sich das Jugendamt einschalten? Könnte sie glaubhaft versichern, dass sie eine gute Mutter war? Und würde sie jemand schützen, wenn ihre direkte Verbindung zum rechten Rand durch das Präsidium flatterte? Zum Schluss würde sie auch noch ihren Job verlieren, ohne Aussicht auf Amnestie.

»Jasmin?«

Sie wurde aus ihrem Kopfkino gerissen. Und nicht nur das. Wie er ihren Namen aussprach. Sofort flogen Erinnerungen in ihr Gedächtnis. Erinnerungen an die Affäre und seine Gefühle, die er ihr am Ende gestanden hatte. Erinnerungen, wie er Gefühle in ihr hervorholte, von denen sie dachte, sie wären auf ewig verschollen, begraben unter Tonnen von Wut, Angst und Distanz. Doch diese Gefühle, die er auslöste, hatte sie ihm nie offenbart. Sie wollte ihm das Ende des Seitensprungs nicht noch schwerer machen. Sie wollte ihm keine Chance einräumen, sie doch noch herum zu bekommen. Wenn er gewusst hätte, wie wenig dazu fehlte, er wäre mit gezogenem Schwert auf seinem Ross herangeritten gekommen und hätte sie aus den Fängen des Drachen befreit, ihr die Ketten von den Gelenken geschlagen, sie aus dem Turm getragen und zurück auf den Pfad von Glück, Liebe und Geborgenheit geführt.

»Ich habe ihn ermordet«, sagte sie entschlossen.

Nathan stutzte. »Wie bitte?«

»Das ist die einzige Möglichkeit. Du verhaftest mich, weil ich dir gegenüber den Mord zugegeben habe. In der Zeit meiner Untersuchungshaft kannst du nach dem wahren Mörder suchen und die beiden Trampeltiere in niedere Aufgaben einspannen, sie beschäftigen.«

Er schüttelte den Kopf. »Du spinnst! Es muss noch einen anderen Weg geben«, überlegte er fieberhaft.

»Wir haben nicht viel Zeit, Nathanael«, schon wieder pochte ihr Herz. Mit vollem Namen hatte sie ihn zuletzt angesprochen, als es körperlich wurde. Und er hatte entsprechend reagiert. Sie schaute ihn an und erkannte gerötete Wangen sowie geweitete Pupillen. Er reagierte immer noch darauf – erregt.

»Hast du eine bessere Idee?«, holte sie ihn zurück aus seiner unehrenhaften Vorstellung, ihr auf der Rücksitzbank nahe zu kommen, wie es schon einmal passierte.

»Noch nicht«, schindete Nathan Zeit, die Hirn und Glied brauchten. Er hielt sie am Arm fest. Den Blitz, der ihn durchzuckte, musste sie auch gespürt haben. Trotzdem fokussierte er sich auf die kommende Schachpartie. »Gehen wir von Selbstmord aus.« Sein fester Druck auf ihren Arm verhinderte, dass sie protestieren konnte. »Eine Psychologin erklärt dich für diensttauglich, nach einer angemessenen Trauerfrist. Und wir haben uns umsonst den Kopf zerbrochen.«

»Warum hätte Richard das tun sollen?«, zweifelte Jasmin. Sie wäre die Kandidatin gewesen, nicht er. Einzig ihr Sohn hielt sie in dieser Welt. Ein Anker im Sturm.

»Ärger im Job?«, rätselte Nathan. »Hat er was vergeigt?«

»Das hat ihn noch nie aus dem Tritt gebracht.«

»Es gibt immer ein erstes Mal. Ist dir was aufgefallen?«, beharrte er auf der latenten Vernehmung, die er schon vor ein paar Minuten durchführen wollte.

»Er redete nicht über die Arbeit. Aber verhalten hat er sich normal.« Jasmin rekapitulierte die letzten Tage aus der Sicht der Kommissarin. Schwierig, denn sie hatte die Tage als fürsorgliche Mutter und zurücksteckende Ehefrau durchlebt. »Wirklich, mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.«

»Hatte er Feinde?«

Sie sah ihn an. »Du musst mir keine Fragen stellen, die ich selbst nicht als relevant betrachte«, erwiderte sie scharfzüngig. »Denkst du, ich hätte den üblichen Fragenkatalog nicht schon mehrfach abgegrast?«

»Also, hatte er welche?«, ließ Nathan nicht locker. Wenn sie so gut mit dem Tod ihres Mannes umgehen konnte, konnte sie auch unangenehme Fragen und offensive Fragestellungen vertragen.

»Dich«, antwortete sie.

Nathan grinste bitter. Sie versuchte auszuweichen.

»Feinde, die bereit wären, ihn in die Ecke zu drängen oder um die Ecke zu bringen?«, konkretisierte er deshalb.

»Bauern in Asien, Minenarbeiter in Afrika, Ureinwohner in Südamerika«, zählte sie zynisch auf, »Hausbesetzer und Steinewerfer im linken Spektrum, arabische Clans, semitische Motorradgangs.«

Nathan verstärkte den Griff um ihren Arm. Er benutzte die Handgreiflichkeit als Druckmittel.

»Aua!«, empörte sie sich. »Du tust mir weh!«

Seine hochgezogenen Augenbrauen forderten geerdete Antworten.

»Seine Kameradschaft agiert im Untergrund. Sie treffen sich lediglich, um die Vergangenheit aufleben zu lassen oder sich über die leeren Versprechungen und die lasche Haltung der Politik aufzuregen. Verbohrte Narren, die Bier und Musik zur Kanalisierung einsetzen. Nichts, was den Staatsschutz oder irgendwelche zwielichtigen Organisationen auf den Plan ruft.«

Staatsschutz. Sie hatte es selbst erwähnt. Nathan behielt die Verknüpfung in der Hinterhand. Wenn sie keine Informantin wäre, schützte sie jemand anderes im Präsidium. Und derjenige musste großen Einfluss ausüben.

»Wo verkehrte er noch?«

Jasmin zischte giftig. »Gute Frage! Das hätte ich auch gern gewusst! Und noch besser: mit wem verkehrte er?«

Nathan tadelte sich für das Fettnäpfchen.

»Mord aus Leidenschaft«, konstatierte sie wie eine schwarze Witwe. »Das würde auch seine fehlende Kleidung erklären.«

Er musste ihr Recht geben. Der Ansatz war gar nicht schlecht. »Du wusstest, dass er sich auswärts vergnügte?«, fragte er diplomatisch.

»Wir beide vergnügten uns auswärts«, nahm sie seine Worte auf und fügte einen garstigen Unterton dazu.

Ein kleiner Stich durchfuhr Nathan. Ihm war bewusst, dass sie beide erwachsen waren, kein Paar, und sich auslebten, ausleben mussten. Aber die bloße Erwähnung reichte, um Eifersucht zu erzeugen. Wo es herkam, wusste er nicht. Es fühlte sich aber sehr schmerzhaft an. Er versuchte die Tatsache auszublenden, dass sie mit anderen ins Bett stieg. Mit seinem Liebesleben konnte er gewiss nicht angeben. Beinahe und was wäre wenn zählten nicht. Er lenkte sich mit seinem Schreibblock ab, der mittlerweile viele durchgestrichene Ansätze beinhaltete. Einzig Rotlicht, Hedgefonds und Xander blieben ohne Streichung. Eigentlich wollte er es vermeiden, aber letztlich schaffte es Jasmin doch noch auf die Liste seiner Verdächtigen. Er drehte den Block, damit sie es nicht sehen konnte. Bei dem Wirrwarr an Tinte dürfte es ihr ohnehin schwerfallen, überhaupt irgendetwas herauszulesen.

Nathan machte den Motor an.

»Was hast du vor?«, murmelte Jasmin.

»Ich fahr dich nach Hause. Wenn das Kartenhaus zusammenbricht, soll jeder denken, dass dich der Suizid deines Mannes mitgenommen hat.« Außerdem wollte er sich bei ihr umschauen. Sein eigenes Heim kann man nicht mit den Augen eines Polizisten sehen. »Bis die Leiche seziert ist, haben wir noch etwas Zeit.«

Vorm Haus der Wagners tippte Nathan eine Nachricht für Schmidt: möglicherweise Suizid – warten auf rechtsmedizinisches Gutachten - Näheres folgt. Meistens genügte dem Leiter der Mordkommission eine knappe Mitteilung über den Sachstand. Nathan hoffte, dass die Staatsanwaltschaft noch kein größeres Fass aufgemacht hatte, als die Leichenöffnung ohne das Zutun der Kripo angeordnet wurde. Ohne Ausweispapiere müssten die Fingerabdrücke herhalten. Ein Nazi würde bestimmt in der Datenbank auftauchen. Fraglich, ob dessen Familienstand auch darin stand.

Jasmin war bereits ausgestiegen und prüfte den Briefkasteninhalt. Werbung. Das Haus war noch verwaist, da ihr Sohn zur Schule ging.

Drinnen wurde Nathan von den vielen Fotos an den Wänden überschüttet, die heile Welt darstellen sollten. Bisher hatte er selten das Vergnügen gehabt, das traute Heim von innen zu sehen und jedes Mal wurde er von der Omnipräsenz gestellter Idylle erschlagen. Als er sich unauffällig durch die Räume schlängelte, hörte er seine Partnerin schluchzen. Erst dachte er, es wäre noch etwas Schlimmes passiert, aber wie er sie im Wohnzimmer auf dem Laminat liegen sah, wusste er, dass die Reaktion eingetreten war, die er schon früher erwartet hätte. Jasmin war zusammengebrochen, weil sie ihren Ehemann tot an einer Böschung identifiziert hatte. Nathan setzte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie lag wie ein zusammengepferchtes Ding auf dem Boden, das Gesicht zwischen Laminat und Händen vergraben. Die Berührung forcierte eine Öffnung. Sie robbte sich in seinen Schoß. Ihren Kopf legte sie auf seine Beine, den Blick noch weg von ihm gerichtet. Mit den Armen umschlang sie seine Beine. Er fühlte sich deplatziert. Diese Form der Nähe hatte er zuletzt als Säugling am Busen seiner Mutter mitgemacht. Wie ein Roboter streichelte er ihr über die Schulter. Er ließ sie schluchzen, weil er keine passenden Worte fand. Mein Beileid, zu spät und zu unpersönlich. Schön, dass du doch ein Mensch bist?, unangebracht und nicht gerade einfühlsam. Hast du Alkohol da, um den Schmerz zu betäuben, erstens im Dienst und zweitens wusste er überhaupt nicht, ob es Schmerz war, oder einfach nur Erleichterung, oder Reue, oder Freude.

Jasmin drückte ihre Wange auf seinen Oberschenkel und presste ihre Arme darum. Ihre Tränen benetzten seine Hose, aber das war nebensächlich. Die offenen Tränenkanäle und die Hormone geißelten ihre Wahrnehmung. Sehen, hören und riechen konnte sie nicht. Das Fühlen dominierte ihre Sinne. Sie fühlte ihn, fühlte seine Wärme, seine Stärke, seinen Atem in ihrem Nacken. Er musste sie anschauen und durch die Nase ausatmen. Sie genoss die Aufmerksamkeit, obwohl sie nicht weinen wollte, doch mit einem Schlag schwappte alles über und sie konnte sich nicht mehr beherrschen.

Erst hielt sie sich an der Küchentheke fest, dann stampfte sie mit den Füßen auf, versuchte zu meditieren, versuchte ihre Atmung zu regulieren, doch letztlich übermannte sie ein merkwürdiges Gefühl, ihre Beine zitterten plötzlich und sie verlor den Halt. Nach dem Aufschlag riss man ihr das Steuerruder aus der Hand. Ein Schwall Emotionen übernahm die Kontrolle. Sie konnte nur noch zuschauen und geschehen lassen.

Was geschah, gefiel ihr. Nathan kümmerte sich um sie. Er stand ihr bei, vielmehr saß er bei ihr. Er legte den Kommissar ab und wurde Mensch, wurde ein Kissen, wurde ein Ritter in weißer Rüstung. Sie ahnte nicht, dass sie die Zuneigung eines Mannes so nötig gehabt hatte. Körper und Seele vereinten sich, verbündeten sich, um das einzufordern, was ihnen Jahre verwehrt wurde. Ihre damalige Affäre konnte ihr nicht im Geringsten das bieten, was ihr dieses wortlose Beisammensein lieferte: liebevolle Nähe, wie sie es nur noch manchmal von ihrem Sohn bekam.

In ihrer Umnachtung entging ihr, dass Nathan sie packte und auf das Sofa legte, ihr ein weiches Kissen unter den Kopf schob, sie zudeckte und sanft über die Wange streichelte. Sie glaubte zu hören, dass sie immer noch schluchzte, doch im nächsten Moment schlief sie ein. Die Belastung raubte ihr das Bewusstsein.

Nathan stand langsam aus der Hocke auf. Er hatte sich neben sie gehockt, sie gestreichelt und in den notwendigen Schlaf begleitet. Er musste sich förmlich losreißen von diesem schönen, zerbrechlichen Geschöpf. Seine Gefühle, die jahrelang unter der Oberfläche schlummerten, brachen vollständig hervor. Während der Affäre hatte sich das verstärkt, was er seit ihrer ersten Begegnung gespürt hatte: Zuneigung. Er konnte es verbergen, konnte mit ihr lachen oder ernste Sachen machen, konnte neben ihr agieren, ohne sich von ihrer Anmut, ihrer Stimme oder ihrem Duft vereinnahmen zu lassen. Er träumte von ihr, wünschte sich, er würde ihr genauso viel bedeuten wie sie ihm. Im Dienst riss er sich aber am Riemen. Es brauchte seine Zeit, bis er wieder locker mit ihr umgehen konnte, platonisch, professionell, wie ganz am Anfang, als er sich nur dachte, was für ein Glück er hatte, mit so einer attraktiven Frau zusammenzuarbeiten. Ihre Art, ihr Gespür und ihre Vorgehensweise deckten sich einfach perfekt mit seinen Eigenheiten. Was der eine dachte, sprach der andere aus und umgekehrt. Manchmal war es schon ein bisschen gruselig, wenn ihre Mägen gleichzeitig grummelten, weil Nachschub fehlte, oder wenn ein Lied im Radio unverhofft zu einem Duett ausuferte. Jasmin wahrte jedoch Distanz. Privat traf man sich sehr selten. Und wenn, dann nur der Form halber, weil ein Familienbrunch der Kriminaldirektion 10 – Kapitaldelikte – anstand, oder weil Richard als Abendbegleitung ausfiel - lieber mit der Bruderschaft im Suff, denn mit der Frau im Theater. Gut, dass sie Abstand hielt, Nathan hätte die Grenzen der Dienstvorschriften ohne Zögern überrannt, die Karriere beider gefährdend. Der Spagat, den sie während der Affäre ausführten, konnte nur gelingen, weil Dunkelheit, Bedeutungslosigkeit und Tristesse keinen Platz für Romantik ließen.

Das Obergeschoss hatte er schnell durchkämmt, nachdem er den leeren, nicht ausgebauten Dachstuhl gesichtet hatte, wo ihn Leitungen, Rohre und Kabel überrascht und abweisend anglotzten. Tageslichtwannenbad, Schlafzimmer, Büro/Abstellraum im OG. Auch im Erdgeschoss fand er nichts Verdächtiges, nur das Wohnzimmer mit offener Küche, das Kinderzimmer und ein kleines Duschbad für Gäste oder zankende Eheleute. Nirgends konnte er einen Hinweis entdecken, warum sich Richard Wagner in die Fluten gestürzt haben könnte. Auch nicht, ob er dies freiwillig tat.

Sicher, dass Jasmin noch weggetreten war, huschte er nach unten in den Keller. Dort empfingen ihn Umzugskartons und Rollkisten, alte Schrankteile und Unrat, eine Gastherme, ein verstaubter Fitnessturm, eine kleine Werkstattwand und die Fahrräder der Familie. Stichprobenartig öffnete er ein paar Behältnisse, die ihm Kinderspielzeug und Faschingskleidung präsentierten, lugte in ein paar Schubladen, die ihm Sammlerleidenschaft und Entsorgungsphobie offenbarten und prüfte den Luftdruck der Fahrradreifen, indem er beiläufig, aus zwangsneurotischer Gewohnheit, das Gummi zwischen seinen Fingern zusammendrückte. Den Baseballschläger, der ihn drohend aus der Ecke fixierte, ignorierte er geflissentlich. Was damit angestellt wurde, wollte er nicht wissen. Genauso ignorierte er das drohende Brummen der Gastherme, die sich wie die gedämpfte Version eines höllischen Brodems anhörte. Ohne Hinweise auf Verzweiflung oder Vergeltung oder Verleugnung ging er wieder hinauf ins Erdgeschoss.

Jasmin lag unverändert auf dem Sofa, mit getrockneten Tränen und tiefer Atmung. Er schaute einen Augenblick zu lang auf die Silhouette, die sich unter der Decke formte. Ihre Brüste drückten sich gegen den gewebten Stoff. Szenen schoben sich in Nathans Geist. Ihre Nacktheit hatte ihn stets überwältigt. Ihr Körper war textillos noch anziehender als mit den engen Blusen, die ihren Busen bedeckten.

Das Telefonklingeln riss beide aus der Trance. Nathan suchte nach der Quelle. In Jasmins Holster, das unter der Jacke in der Garderobe hing, fand er ihr Diensttelefon.

»Hallo? … Kriminalkommissar Nathanael Ysop am Apparat … Die ist gerade nicht zu sprechen … Wir ermitteln zusammen in dem Fall … Ja … Ich schaue es mir gleich an, vielen Dank!«

Das Telefonat war beendet. Er öffnete die App für den verschlüsselten Mailversand zwischen Dienststellen, wo er eine neue Mail von der Rechtsmedizin vorfand. Er klickte auf den Anhang – das Gutachten. Durch die integrierten Fotos dauerte der Download eine ganze Weile.

»Wer war das?« Jasmin hatte sich schwerfällig erhoben. Ihr dezentes, schwarzes Augen-Make-up war verlaufen, ihre Haare struwwelig. Sie taumelte und musste sich an den Möbeln abstützen.

»Die Forensik«, antwortete Nathan, auf das Display starrend. Eine sehr langsam steigende Prozentzahl wollte ihn auf die Folter spannen.

»Und was haben die gesagt?« An der Wand entlang kam sie Schritt für Schritt auf ihren Kollegen zu, der den PIN für ihr Telefon kannte: das Geburtsjahr ihres Sohnes.

Nathan blickte auf und schüttelte den Kopf. Zur Verdeutlichung hob er den Zeigefinger. »Warte noch, ich will mir erst den Bericht ansehen, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen.«

Jasmin hatte ihn gleich erreicht. »Du kannst mir doch sagen, was dir gesagt wurde!«, regte sie sich auf, in seichtem Ton, angeschlagen und brüchig.

Die Datei öffnete sich. Nathan überflog die Kästchen und Bemerkungen, dann die Fotos mit den Markierungen. Danach sah er seiner Kollegin in die verheulten, verbeulten Augen.

Jasmin hielt die Luft an, ihn gestisch auffordernd, mehr zu verraten.

»Lungen und Magen waren mit Flusswasser gefüllt«, eröffnete Nathan. »Die Ärzte grenzen den Todeszeitpunkt auf gestern Abend bis Mitternacht ein.« Er beäugte sie, immer ihren Zustand auswertend. »Weiter?«

Jasmin nickte starr. Sie hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Sie schien sich ganz auf die Fakten zu konzentrieren.

»Fallhöhe wird auf 20 bis 30 Meter geschätzt, ohne aktive Abfangbewegung.« Er scrollte herunter, ohne anzumerken, dass die Suizidthese noch nicht widerlegt werden konnte. »Er hatte zwei Wunden auf seinem Körper, die weder durch Aufprall auf der Wasseroberfläche noch Strömung oder Anspülen verursacht wurden. Auf dem Bauch wurde eine Schürfwunde entdeckt. Darin fand man rötliche Mainsandsteinreste.«

»Er wurde über etwas geschleift«, meldete sich Jasmin, wankte wie ein Zombie zur Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. »Du auch?«

»Ja, bitte.«

Sie tranken, während sie in ihren Gedanken versanken. Er folgte ihr aufs Sofa, um die eingesparte Energie fürs Stehen zum Nachdenken zu verwenden, in sitzender Position.

»Er wurde über etwas geschleift und in den Fluss geworfen«, ergänzte Jasmin. »Heute Morgen gefunden, er könnte sonst wo hineingeworfen worden und die ganze Nacht hindurch mit der Strömung gewandert sein.«

Nathan studierte die Fotos der Wasserleiche. Er hatte schon andere, deutlich schlimmere gesehen. Der Leichnam war kaum aufgequollen und sah noch einem Menschen ähnlicher als einem Fisch. Allzu lange dürfte der Mann nicht durchs Wasser getrieben sein. Dann studierte er sie. »Wir müssen nicht darüber reden.«

Jasmin nahm einen weiteren Schluck. »Solange wir noch ermitteln dürfen, machen wir das. Wer weiß, wann uns Schmidt abzieht.«

»Er wird uns nicht nur abziehen, er wird uns ordentlich die Leviten lesen.«

Sie verjagte eine imaginäre Fliege. »Deshalb sollten wir uns beeilen. Wenn die Staatsanwaltschaft Wind davon bekommt, dass die Obduktion bereits durchgeführt wurde, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Schmidt wird uns dann auf direktem Weg ins Präsidium zitieren.«

»Wir müssen vorher ins Präsidium«, warf Nathan ein, »die Kamerabilder von den Brücken auswerten.«

»Das können wir doch Kurz und Klein aufs Auge drücken«, schlug Jasmin mit einem Anflug eines gequälten Schmunzelns vor. Sie kam allmählich zu Kräften.

»Wirklich?«

»Klar! Noch ist es ein Suizid«, setzte sie in Anführungszeichen, »und wir versuchen herauszufinden, wo das Opfer in den Fluss gesprungen ist.«

Das Opfer. Ihre nüchterne Kälte fröstelte Nathan. Immerhin sprach sie von ihrem Ehemann, dem Vater ihres Sohnes. Er fragte sich, ob sie überhaupt im Stande war, wahre Liebe zu empfinden, oder ob er sich vergeblich Hoffnung machte.

Sie nickte ihm auffordernd zu. »Gib mir dein Telefon! Meins ist ja gerade in Gebrauch.«

Nathan gehorchte.

Seine Kollegin entsperrte den Bildschirm. Er hatte erst gar keinen PIN dafür. Man musste nur zur Seite wischen – schöne, neue Welt!

Sie beauftrage die beiden Faulpelze mit der Auswertung der Brückenkameras, indem sie den Weg vom Fundzeitpunkt und –ort zurückzuverfolgen hatten. Nach hörbarem Meckern aus der Leitung legte sie auf.

»Weiter!«, forderte sie ihren Partner auf, fortzufahren.

Nathan las widerwillig. »Die zweite Wunde auf dem Rücken stammt von einer«, er musste zweimal lesen, »Tätowiermaschine.«

Auch Jasmin stutzte. »Was?«

»Genau diese Reaktion haben die Ärzte wohl erwartet«, fügte er an und zeigte auf das Display, »eine Erklärung steht darunter. Die Tätowierung muss frisch sein, aus den letzten 24 Stunden. Tinte wurde unter die Haut gebracht, die nicht verheilen konnte.« Nathans Augen preschten voran. »Noch mehr, die Wunde konnte nicht verheilen, weil die Stiche posthum zugefügt wurden.«

Nach dem Tode.

Nathan dachte an seine durchgeführte Leichenschau am Fundort. Er schalte sich, dass er die frische Wunde nicht gesehen hatte. Andererseits, dafür gab es ja die Rechtsmedizin.

»Er wurde erst ermordet und dann tätowiert?« Jasmin trank einen weiteren Schluck. Die Vorstellung behagte ihr nicht, weder bei ihrem Mann noch bei sonst einem Opfer. Leichenschändung.

»Scheinbar«, bestätigte Nathan, der sich so langsam von der Suizidthese verabschiedete. »Ein Hakenkreuz.«

Jasmin schluckte. Auch sie verstand den Querverweis. »Ein Stigma. Man hat ihn für seine verquere Weltanschauung ermordet und dann gebrandmarkt wie ein Stück totes Vieh.«

»Sieht ganz danach aus«, stimmte ihr Kollege zu, das Foto heranzoomend. »Es sieht aus wie ein abstrakter Reichsadler, der zu einem Hakenkreuz abgewandelt wurde. Damit erweitert sich der Kreis der Verdächtigen auf unendlich.«

»Wir sollten einen Profi fragen«, schlug Jasmin vor, »Wenn der uns sagen kann, welche Fähigkeiten dafür vonnöten sind, können wir Laien ausschließen.«

Nathan musterte noch immer das Tattoo. »Ich stelle mir das schwierig vor, tote Haut zu beackern. Die fehlende Durchblutung macht die Sache zäh oder schwabbelig, je nachdem, ob die Starre schon eingesetzt hat und wo die Flecken entstehen. Und das Motiv scheint gut gestochen zu sein, im Vergleich zu den anderen Tätowierungen drumherum.«

Jasmin nickte abwesend. Seine Worte durchschlugen ihr Mark. Sie hatte den Rücken ihres Mannes vor Augen. Den Mann, den sie vor sehr langer Zeit einmal angeschmachtet hatte. Trotzdem drängte die Kommissarin die Ehefrau zurück, die für einen Augenblick die Oberfläche durchbrochen hatte. »Wir sollten uns trennen, weil uns nicht mehr viel Zeit bleibt, bis die Sache aus dem Ruder läuft. Du fährst zum Präsidium und schaust dir an, was Kurz und Klein herausgefunden haben. Derweil statte ich einem alten Bekannten einen Besuch ab.«

»Will ich wissen, wer dieser alte Bekannte ist?«

»Nein«, überging sie seine Nachforschung dezent, »Ich bin mir sicher, dass ich zu der Tätowierung etwas herausfinden kann. Und wenn du die Kameraauswertung gesichtet hast, rufst du mich an. Dann tragen wir zusammen, was wir haben. Somit sind wir beide auf dem gleichen Stand.«

»Im Anschluss berichte ich Schmidt?«, riet Nathan ins Blaue und traf ins Schwarze.

»Ja. Er wird mich umgehend sprechen wollen. Ich hoffe, dass wir bis dahin eine Spur haben.«

»Du willst ihn vertrösten?« Nathan schwante, dass er die Stellung im Raumschiff halten, dem Sturm standhalten und für sie das Schutzschild sein sollte.

»Ich will die wenige Zeit nutzen, die wir haben«, antwortete sie verbissen.

Nathan schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Ich sehe uns beide schon vorm Disziplinarausschuss.« Nebenbei schickte er sich die Datei des Instituts auf seinen Account. Die letzte Anmerkung mit dem toxikologischen Befund behielt er für sich, im Glauben seine Partnerin würde keinen Blick in das Gutachten riskieren, das ihr zugeschickt worden war. Sicherheitshalber löschte er die Datei, aus Versehen, aus ihrem Speicher, nachdem er die Tätowierung als Screenshot in ihrem Telefon gespeichert hatte. Der finale Befund enthielt PCP, Engelsstaub. Im passenden Moment würde er die Drogengeschichte ihres Ehemannes hinterfragen. Durch Fingerabdrücke konnte der Tote auch noch identifiziert werden. Eine mehrstellige Nummer stand im Gutachten. Mit dieser Ziffernfolge könnte Nathan die Personalien in der Datenbank abfragen – ein Schutzmechanismus, um die Rechtsmedizin nicht auch noch mit Namen zu belasten. Die Zettel an den Zehen der Toten in der Leichenhalle waren lediglich mit Nummern versehen. Persönliche Schicksale blieben den Leichenbeschauern so erspart. Nathan musste unbedingt vor allen anderen in die Datenbank schauen. Nicht dass der Name seiner Kollegin dort auftauchte und eine Lawine auslöste.

Sie tauschten die Telefone zurück. Jasmin nahm seine Hand, wie die Mutter, die ihren Sohn in den Krieg schickt, mit der Gewissheit, dass es ein Wiedersehen gibt. »Wenn wir das Schwein drankriegen, wird uns keiner mehr belangen wollen.«

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