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Tinte & Schmerz

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Ich erwache.

Ich weiß nicht, wie spät es ist. Der Keller ist dunkel. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass die Nacht vorüber ist. Mein Körpergefühl sagt mir, dass ich ausgeschlafen habe. Ich taste mich zum Lichtschalter. Als ich ihn drücke, zündet die Leuchtstoffröhre durch, Quecksilberdampf und Argon bilden ein leitfähiges, strahlendes Plasma, und die fluoreszierende Röhrenbeschichtung aus Luminophor erhellt schließlich den kargen Keller.

Ich strecke mich. Meine Arme erreichen die Decke – ein dickes Betonfundament. Mein Gardemaß von einem Meter 90 macht aus dem Untergeschoss ein klaustrophobisches Gefängnis, das ich aus freien Stücken wählte. Wie mich eine cannabisverseuchte Gebärmutter und ein alkoholgeschwängerter Samenstrang schufen, stehe ich in dem kleinen Verlies. Mein Gemächt grüßt den Morgen. Die schwarz tätowierte Rüstung auf breiter Brust und flachem Bauch bietet den idealen Hintergrund für die hautfarbige Schlange, die sich auf den Sonnenanbeter versteift. Auf meinen Armen setzen sich die tätowierten Motive fort. Links ein Horrorclown mit Reißzähnen und Blutaugen – eine der ersten Hautmalereien, die ich mir gegönnt habe. Nicht selten wünsche ich mir ein unter die Haut geschobenes Audioabspielgerät, das ein grauenhaftes Gelächter abspielt, wenn ich den Muskel anspanne, weil ich die Menschen um mich herum abschrecken will, ehe sich meine Faust in deren hässliche Visagen rammen muss, weil sie mir auf die Pelle rücken. Den restlichen Arm zieren Äxte, Kettensägen, Macheten und Blutrinnsale. Mein kleines, persönliches Folterkabinett. Auf dem rechten Arm erinnert mich der Sensenmann an meine Sterblichkeit. Ausdruckslos verweilt er auf meinem Oberarm, die schartige Sense wie ein Mahnmal neben sich. Um sich hat er Fliegen, Grabmäler und brennende Erde gescharrt. Unter meiner Gürtellinie folgt ein Potpourri aus Fegefeuer, den vier apokalyptischen Reitern, Atompilzen und schwarzen Engeln. Ach ja, auf meinem gesamten Rücken liegen schwarze Schwingen an. Und auf meinem Hals befindet sich gemalter Stacheldraht. Rundherum. Manchmal fühle ich die Metalldornen, wie sie meine Kehle belagern und sich am liebsten in Halswirbel und Schlagadern bohren wollen.

Mit dem Waschlappen wasche ich mich. Die groben Fasern schleifen wie Sandpapier über die tätowierte Haut. Es plätschert in das Waschbecken. Ich stöhne, weil das Wasser so kalt ist. Kernseife löst den Schmutz von mir. Eine Tinktur aus ätherischen Ölen und Alaunstein überdeckt zuverlässig meinen Körpergeruch – für ein paar Stunden. Ich hasse meinen Körpergeruch! Stattdessen dufte ich nach einer Gebirgswiese – bis die Geißen darauf urinieren.

Eine lange Hose und bequeme Schuhe gestatte ich mir. Meinem dezent trainierten Oberkörper spendiere ich ein vorsätzlich gelöchertes Top. Die Kunden sollen schließlich Vertrauen in meine Arbeit gewinnen, indem sie sich an meinen Tätowierungen ergötzen.

Durch die quietschende Stahltür geht es nach oben. Der Krach warnt mich vor ungebetenen Gästen. Oben erwartet mich der Tag. Mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Der Tag ist angebrochen, jedoch noch nicht sehr weit fortgeschritten. Ich betrete ein Tattoo-Studio – mein Tattoo-Studio. Zwei Räume, getrennt durch einen Vorhang. Vorn der Empfang – ein Tresen, ein Klo hinter einer einflügeligen Western-Saloontür und eine schlecht gepolsterte Sitzmöglichkeit, äußerst spartanisch. Hinten meine Folterbank: ein altertümliches Holzgestell mit Eisenketten und –manschetten, getrocknetes Blut inklusive – könnte man meinen, doch es handelt sich um täuschend echte Farbe, falls jemand fragt. Dort beackere ich die Kundschaft. Man bezahlt nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Show.

Tintenschmerz heißt das Kind, indem ich eine im Abendland seltene Technik perfektioniert habe. Zwar kann ich damit keinen Fotorealismus auf die Haut zaubern, weil es eher grobschlächtig daherkommt, aber Erfahrung, Erinnerung, Haptik und außergewöhnliche Einmaligkeit lassen die Limitierung im Rausch in Rauch vergehen. Ink Rubbing nennt die sogenannte Fachpresse die Vorgehensweise, wo durch das Ritzen der Haut und das Einreiben von farbgebenden Materialien in die entstehenden Narben Kontur und Struktur geschaffen wird. Ich nutze Asche, am liebsten die Asche Verstorbener. Ein Kontakt im Krematorium versorgt mich mit Nachschub. Den Angehörigen wird dann eine Vermengung von Mensch und Schweingebein in die Urne gefüllt. Natürlich ist es ein Gerücht, dass ich mit Totenasche arbeite, aber weder kommentiere noch dementiere ich. Die Mundpropaganda beschert mir mehr Anfragen als ich abarbeiten kann. Prüfungen durch das Gesundheitsamt verlaufen stets ohne Beanstandungen, dank Buschfunk und guter Refugien. Zu der grauen (Toten-)Asche mische ich noch etwas schwarzes, gemahlenes Schießpulver. Das Skalpell öffnet die Haut und ich bringe das Gemisch ein, knete mit den Händen wie der Bäcker den Teig, reibe mit den Fingerbeeren wie die zierliche Masseuse vorm Happy End. Es ist recht blutig, aber die Kunden schreckt das nicht ab. Im Gegenteil, der Verzicht auf filigrane Kunst wird ersetzt durch die masochistische Faszination der legitimierten, offensichtlichen Körperverletzung. Das Resultat sind vernarbte, wulstige, schattierte Körperpartien, verziert mit einfachen Motiven, Sprüchen oder grotesken Formen. Noch mehr als Skalpell und Einrieb schmerzt die Desinfektion nach der Staubapplikation. Die verzerrten Gesichter der Kunden sehen nicht mein feixendes Konterfeit, wenn ich das bakterizide, fungizide, tuberkulozide, viruzide, bläuliche Mittelchen über sie kippe. Sie zucken wie Stroboskope im Dauerfeuer, wehren sich gegen die Eisenbewehrung meiner Folterbank. Die Ketten rasseln. Sterbende Schlossgespenter. Ich liebe meine Arbeit!

Aret ist noch nicht da. Sie ist meine rechte Hand, eine echte Notwendigkeit im alltäglichen Dschungel aus Kundenakquise, Networking, Social Media, Haftungsausschlüssen und Buchhaltung. Ohne sie wäre ich verloren. Ohne sie könnte ich mich nicht entfalten. Der Kram, den sie erledigt, nervt mich. Ich will nur die Haut, kann auf das Drumherum verzichten. Dafür erhält sie einen guten Lohn, der sich auch ihre Verschwiegenheit erkauft. Die kolportierte Totenasche ist lediglich ein Bruchteil meiner Sonderbarkeiten.

Die Kaffeemaschine bekommt Wasser und Pulver. Ich verabscheue Nikotin, aber ich brauche Koffein. Schon beginnt das Gerät zu brummen und dampfen – ein kleiner Morgenmuffel, der meinen Morgen in Schwung bringt. Während der Apparat kocht, schließe ich den Laden auf. Zuerst entriegele ich innen die Glastür, dann den Aluminiumpanzer davor, den ich nach oben schieben muss. Draußen empfängt mich eine leere Reihe von Parkplätzen, wo ich drei Stellflächen für das Studio reserviert habe. Aret stellt sich immer auf die erste Stellfläche davon. Sie nutzt den honiggelben Firmenwagen – ein schnittiges, leistungsfähiges Cabriolet mit dem Tintenschmerz-Schriftzug, den Kontaktdaten und einem kecken Spruch: geht unter die Haut! Die zwei anderen Parkplätze stehen den Kunden zur Verfügung. Einer für den zu behandelnden Kunden, der zweite für den interessierten Kunden, der sich den Pranger der Pein anschauen möchte. Über ein Gässchen zu erreichen. Kiefern, Buchen und Eichen säumen die Umgebung. Eine fehlende Überflutungsfläche verkürzt meinen Weg zu dem mittelgroßen Fluss – derselbe, den ich zur Entsorgung der Leiche benutzte. Die Strömung fließt zur Großstadt hin gen Westen, also wird der Körper in die andere Richtung getrieben und nicht vor mein Studio. Ich rechne außerdem jede Nacht mit der strafenden Sintflut, weil mein Schlafkeller unterhalb des Wasserpegels liegt, aber bis jetzt bin ich immer wieder aufgewacht. Das letzte Hochwasser, welches nicht durch die Staustufen reguliert werden konnte, trat vor meiner Zeit in diesem kleinen, dörflichen Stadtteil über die aufgeschütteten Ufer mit ihren mickrigen Flutmauern.

Die Sonne gewinnt an Stärke. Ich spüre die Strahlung auf meiner veränderten Hautoberfläche beim Kontrollgang außerhalb. Ein paar Getränkebecher liegen herum, zusammen mit einigen gerauchten Kippen. Die vorlaute, despektierliche Jugend hat sich offenbar herumgetrieben. Ich werfe den Müll in den öffentlichen Abfalleimer keine zehn Meter entfernt und nutze die Gelegenheit über den Parkplatz bis zur Böschung zu schlendern. Die sonstige Stellfläche gehört zur Fähre, die täglich der Strömung auf 130 Meter Breite trotzt, und dabei fahrbare Untersätze bis dreieinhalb Tonnen chauffiert, genauso wie Fußgänger.

Erste Radfahrer schießen an mir vorbei, denn direkt am Fluss führt ein beliebter, frequentierter Radweg entlang. Das Grün der Vegetation beruhigt mich. Ich blicke über das fließende Wasser. Gegenüber liegt ein Campinggelände, das von Flora geschützt wird. Richtung Westen folgt ein kleiner Bootshafen. Mit der Sonne auf der zweiten Gesichtshälfte tapse ich zurück zu meiner Liegenschaft. Ich drehe den Kopf in beide Richtungen. Auf der einen Seite sehe ich die dreiflüglige Schlossanlage, die mittlerweile mit Eigentumswohnungen vollgepumpt ist, und den angrenzenden Schlosspark. Auf der anderen Seite sehe ich ein dünnes Gewerbegebiet, an das sich ein Naturschutzgebiet anschließt, zentriert von einer gefluteten Kiesgrube, an deren Zipfel sich ein niedliches Strandbad anhängt.

Während ich flaniere, bleibt die Ladentür sperrangelweit geöffnet. Etwas frische Luft vertreibt den Muff aus dem Kabuff. Auf dem Rückweg betrachte ich die bescheidene Selbstständigkeit, die Monat für Monat meine Schulden begleicht. Und die Nachbarschaft. Provinzialer Einzelhandel, der sich gegen das Internet und die geballten Einkaufszentren stemmt, abhängig von den wenigen Stammkunden aus dem unmittelbaren Umfeld. Darüber ein paar Wohnungen. Neugierige Augen erspähen mich. Sie blinzeln durch die antiquierten Gardinen hindurch und denken, ich sehe sie nicht. Dabei weiß ich ganz genau, wie das Rentnerehepaar der Nachbarschaftswache über mich und mein Treiben denkt. Am meisten schreckt sie meine Erscheinung ab, vor allem meine dunklen Augen, bei denen man nicht sieht, wohin ich eigentlich schaue, weil einfach alles schwarz ist. Ich winke freundlich und gehe in mein Geschäft. Erwidert wird die Geste nicht. Jeder von beiden hat sein eigenes Fenster. Der eine hockt im Wohnzimmer; die andere in der Küche; beide starren den halben Tag hinaus zum grünen Ufer, an dem dutzende Blechkisten parken. Ich stelle mir vor, dass sie sich fromm bekreuzigen, wenn sie mich sehen.

Der Kaffee ist durchgelaufen. Ich gönne mir eine Tasse. Schlürfend prüfe ich den Briefkasten – Werbeflyer, trotz des eindeutigen Aufklebers, der darum bittet, auf den Einwurf von Werbung zu verzichten. Vielleicht sollte ich einen mehrsprachigen Aufkleber anbringen - oder plakative Piktogramme, die selbst dressierte Affen verstehen. Dann schlurfe ich durch den Laden und sichte das Inventar. Zuerst mein Arbeitsmaterial: Skalpelle, Tupfer, Mullbinden, Kompressen, Formaldehyd und Peressigsäure für die Sterilisation der Geräte, Propanol als Desinfektionsmittel für Wunden und Hände, Hautcreme, Asche und Schießpulver in Töpfen, außerdem noch Beißkeile, Kokain als Lokalanästhetikum und Morphium als Analgetikum. Die Betäubungssubstanzen lagern in einem Geheimfach unter der Sitzfläche meines gepolsterten, höhenverstellbaren Drehhockers und werden als Ultima Ratio angesehen. Besitz und Anwendung sind nicht konform mit dem Gesetz, aber manche Kunden trauen sich mehr zu als sie aushalten. Bevor ich reanimieren muss, sediere ich lieber. Die geringe Dosis verhindert eine Abhängigkeit, rede ich mir ein. Vielleicht ist das auch ein weiterer Grund, warum so viele Wiederholungstäter auf der Matte stehen. Meine Bezugsquelle behalte ich besser für mich. Aret kennt das Spiel, weshalb ich für ihren geschlossenen Mund auch so gut bezahle. Früher bezahlte man sie schlechter, für einen geöffneten Mund. Schlucken ohne Mucken musste sie trotzdem.

Mein Arbeitsplatz ist vom Boden bis zur Decke gefliest – schlichtes Weiß mit weißen Fugen. Gut für Blut. Erleichtert die Reinigung. Es gibt keine Bilder, Skizzen oder Fotos. Nur die Holzbank mit den Eisenbeschlägen, eine alte Kommode mit verglasten Türen für meine Utensilien und Holztüren, wohinter die autarke Tätowiermaschine lagert, die ich auswärts nutze. Außerdem ein Abwurfbehälter für blutiges Verbandszeug und ein Waschbecken aus Edelstahl für Desinfektion und Sterilisation. An der abgehängten Decke beäugen mich dutzende Einbaustrahler, die als Publikum beobachten und als Tribunal verurteilen.

Nach dem morgendlichen Rundgang blättere ich Kalender und Aufträge durch. Heute kommen zwei Kunden. Ein Frischling und ein Dauergast. Bevor der Kaffee kalt wird, trinke ich die Tasse aus. Der Frischling will mir seinen äußeren Oberarm zur Verfügung stellen. Er gibt mir die Freiheit, mich auszutoben, schränkte jedoch das Thema ein: maritim. Ein Seepferdchen würde mir gefallen. Mal sehen, was da für ein Schmalhans kommt. Da Aret den Erstkundenkontakt übernimmt, weiß ich nie, wer mich erwartet. Sie kennt mich und meine Gepflogenheiten, weshalb sie den Interessierten genau sagen kann, was ihnen bevorsteht. Das Wichtigste ist sowieso der Haftungsausschluss. Körperverletzung mit Einwilligung. Der Dauergast ist ein längerfristiges Projekt: Rosenranken vom großen Fußzeh, über Spann, Knöchel, Wadenbein, Knie, Oberschenkel, Hüfte, Po, Rücken und Schulter bis zum Nacken. Es ist der dritte Termin. Den ersten Termin mussten wir wegen der Schmerzen abbrechen. Die zarte Frau kämpfte zudem mit ihrem Kreislauf. Ein koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk und ein Schokoriegel halfen. Beim zweiten Termin war sie vorbereitet – mental und körperlich. Bis zu ihrem hübschen Hinterteil sind wir gekommen. Heute wird sie mir den Rest ihres ansehnlichen Körpers zeigen, wenn wir uns vom Po bis zum Nacken hocharbeiten. Möglicherweise muss ich heute eine Prise Morphium spendieren. Da kaum Fettpolster vorhanden sind, werde ich nah an ihren Knochen herumsäbeln.

Bis meine Adjutantin eintrifft, setze ich mich nach vorn in den Empfangsbereich. Der Getränkekühlschrank summt leise und die Wanduhr tickt. Ich atme vor mich hin, zähle die Radfahrer, Kinderwagen und angeleinten Hunde, die vorm Laden vorbeihuschen.

Erinnerungen an die letzte Nacht fluten meinen Geist. Als ich dem verkappten Nationalsozialisten in einer schlecht beleuchteten, mies belüfteten, leicht zugänglichen Parkgarage auflauerte, ihn mit Engelsstaub (PCP – ähnlich halluzinogen wie LSD, aber in der richtigen Dosierung einschläfernd) als Aerosol gefügig machte, ihn und sein Mobiltelefon in einem Eimer mit frischem Flusswasser ertränkte, ihn in dessen übermotorisierten SUV hievte und zur Alten Brücke kutschierte, wo ich einen Behindertenparkplatz in der Nähe besetzte. Er kam gerade aus dem Büro aus einem der Wolkenkratzer im Bankenviertel, mit feinem Zwirn und schicker Aktentasche. Ich passte ihn ab, hockte wie ein Kobold mit dem Eimer voll Wasser zwischen den parkenden Autos. Heute würde ihn die Investmentbank, für die er Bioreservate und Bodenschätze auf ärmeren Kontinenten für größtmögliche Rendite opferte, als vermisst melden. Seine Familie könnte die Vermisstenmeldung bereits in der Nacht abgeben haben, mit dem höflichen Hinweis der Polizeidienststelle, dass ein bekannter Trinker auch mal ein paar Stündchen auf einer Parkbank dösen könne, bevor er wieder erreichbar sei, und man noch etwas abwarten solle. Vielleicht wird er aber auch gefunden – von Seeleuten oder Morgenathleten, die Knie und Wirbelsäule über das harte Stadtpflaster prügeln, in engen, atmungsaktiven Mischfasern, mit erschreckender Umweltbilanz.

Der Nazi kannte mich. Ich kannte ihn. Laute Diskussionen mit Aret riefen mich auf den Plan. Ich unterbrach eine Session, zog den Vorhang ruppig zur Seite und brüllte nach vorn, was das Affentheater soll. Der Nazi bestand darauf, dass ich ihm einen Spruch von Schlüsselbein zu Schlüsselbein einfräse: Meine Ehre heißt Treue. Ein Wahlspruch der Waffen-SS im Dritten Reich. Nicht zu vereinbaren mit meiner Kunst, meiner Überzeugung, meinem Verständnis von Menschlichkeit, auch wenn ich die Menschen nicht mag. Ich hasse nicht nur Nazis, ich hasse die meisten Menschen. Ich lehnte ab und komplimentierte ihn hinaus. Statt zu gehen wedelte er mit einem Stück Papier, einem Geschenkgutschein, den ihm seine Kameraden überreicht hätten. Ich wusste, dass diese Aktion eines Tages nach hinten losgehen würde, aber Aret war von der PR-Sache mit den Gutscheinen überzeugt. Als ob ich nicht genug Kunden hätte. Aret meinte, dass wir unseren Bekanntheitsgrad und die Akzeptanz steigern könnten, aber ich wusste, dass sie insgeheim mitschneiden wollte. Ständig schaut sie mir über die Schulter. Ich bin mir sicher, dass sie heimlich übt. Sie denkt, sie könnte einen zweiten Arbeitsplatz neben meiner Folterbank einrichten und dann ihren Stil verbreiten. Doch ich brauche sie vorn an der Theke, auch als Schutzschild, nicht zu meinem Schutz, sondern zum Schutz der Anderen.

Jedenfalls war mein Jagdfieber geweckt. Ich zerriss den Gutschein, plusterte mich auf, um die zwei Meter auf Zehenspitzen zu erreichen, und näherte mich dem renitenten Rechten. Man sah ihm die idiotische Ideologie kaum an. Die Kleidung verdeckte alles, auch wenn er stets langarm tragen musste. Ich sah es in seinen Augen aufblitzen. Er wollte einen kurzen Moment rebellieren, doch dann schien er sich einzugestehen, dass aus unserer Beziehung kein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis werden konnte. Mir und Aret einen giftigen Blick zuwerfend verließ er das Studio. Als der Gestank von Verblendung verzogen war, hob ich den zerstückelten Gutschein auf und prägte mir seinen Namen ein. Ein paar Abende und Nächte später hatte ich genug über ihn in Erfahrung gebracht, damit ich mein neuestes Projekt in Angriff nehmen konnte.

Richard Wagner hieß der Böse. Ein unbedeutender Hedgefonds-Manager. Er vermehrte das Vermögen der Reichen, verwehrte es den Armen und zwackte sich einen guten Prozentsatz ab – zwei Prozent Verwaltungsgebühr und 20 Prozent Gewinnbeteiligung. Eines von vielen Rädchen im Unternehmen. Er war unauffällig, arbeitseifrig und höflich, wie man es von Serienkillern und Amokläufern immer hört. In seiner Freizeit war er Vorsitzender einer unscheinbaren Kameradschaft, die deutschem Bier und Allmachtfantasien in einem kleinen Schrebergarten frönte. Freitags traf man sich, um dem Alltag aus Arbeit, Ehefrau und Kindern zu entkommen. Dann wurde in der Dämmerung die Reichskriegsflagge gehisst. Nebenan liegen Parzellen mit kroatischen und italienischen Flaggen, aber niemanden störte der kriegstreiberische Nationalismus. Das Dutzend Springerstiefel grölte rechte Parolen, marschierte um das Lagerfeuer und salutierte militärisch – Rumpelstilzchen für Despoten. Im Hintergrund liefen altdeutsche Schmonzetten auf Schallplatte, die ruhmreiche Soldatenhelden und rechtsradikales Gedankengut priesen. Im Schutz von Eichenstämmen und Stachelbeersträuchern gaben sich die Mannen dem Rassismus hin, den sie im Alltag unterdrückten. Ich sah mir dieses Schauspiel ein paar Mal an. Bald wurde es zu einem Ritus, freitags hinaus in die Gärten zu schleichen und den Biergestank herunterzuwürgen, der aus den heiseren, eisernen Kehlen strömte.

Dem Wagner folgte ich nach Hause, wo er Frau und Kind autokratisch beherrschte. Alkoholisiert war dieser Mensch nicht zu ertragen, weshalb sich seine Frau mit dem Sohn im Kinderzimmer einschloss. Sie tat so, als würde sie schlafen, wenn er gegen die Tür pochte. Der Kleine wachte zum Glück nicht auf. Weil sich Wagner bereits mit den Kameraden ausgetobt hatte, fehlte ihm die Kraft Dummheiten anzustellen. Er legte sich stinkend ins Bett. Die Erdgeschosslage der wichtigen Räumlichkeiten ermöglichte mir eine ausgiebige Erkundungstour. Wahrscheinlich zog Wagners Frau die Rollläden nicht komplett zu, damit sie im Notfall gesehen und gehört würde. Ein schönes Haus. Ich imaginierte wie ich darin leben würde. Kind und Frau würde ich adoptieren, wenn das zum Gesamtpaket gehört.

Ich verfolgte das Familienleben auch, als Wagner nüchtern den Patriarchen gab. Er schrie seine Frau weder an noch schlug er sie, aber diese subtile Spannung, dieses Machtgefälle, das er jeden Tag ausreizte, belastete die Ehe. Ich belächelte die gestellten Fotos an den Wänden. Hochzeit. Urlaub. Ausflüge. Derart im Übermaß, dass man erschlagen wurde, wenn man das von außen gut situiert wirkende Haus betrat. Jeder sollte sehen, wie harmonisch die Familie Wagner ihrem Dasein fristete. Ich muss gestehen, dass ich die Frau auch einmal halbnackt erwischt hatte. Sie kam aus der Dusche. Ihr Bademantel fiel günstig und legte eine Tätowierung frei. Ihre Scham interessierte mich nicht, aber die Zahl am Oberschenkel krallte sich meinen Fokus: 444 – DdD im Alphabet, Deutschland den Deutschen. Schlecht gestochen und längst verblasst. Wahrscheinlich ein jugendlicher Vorstoß in ihrer Sturm-und-Drang-Phase, wo sie im Milieu ihrem Zukünftigen über den Weg gelaufen war. 666 würde ich daraus machen wollen – die Zahl des Antichristen. Ich haderte kurz mit dem Gedanken, wie ich sie mir schnappe, sie entführe, verschönere und wie ein ungeliebtes Haustier aussetze, konzentrierte mich dann aber wieder auf die zerrüttete Ehe und den verkappten Ehemann, den ich durch mich ersetzen könnte.

Mein Sinn für Rechtschaffenheit hatte genug gesehen. Früher mordete ich schon für sehr viel weniger. Ich wollte die Familie vom Scheusal erlösen. Erbe und Witwenrente würden für ein anständiges Leben genügen. Liebe existierte nur zwischen Mutter und Sohn. Theoretisch hatte schon sein Abgang aus dem Studio gereicht, als er sich eine Zigarette anzündete, nachdem ich ihn hinauskomplimentiert hatte. Zuerst zog der Dunst in den Laden und dann warf er den Stummel achtlos auf den Boden, demonstrativ könnte man meinen, und ließ diesen ausglühen. Mit aufheulendem Motor und durchdrehenden Reifen war er vom Parkplatz gerauscht. Den Kies, den er dabei aufgewirbelt hatte, hat das Firmenfahrzeug abbekommen. Steinschläge im Frontbereich. Manche schlucken das herunter. Andere erstatten Anzeige. Ich richte.

»Guten Morgen!«

Aret reißt mich aus den Gedanken.

Mit ihr kommt die Sonne ins Geschäft. Egal wie hart ihre Nacht war, oder wie beschissen die Männer, die sie benutzten, belogen und betrogen, sie lächelt stets, wenn sie durch die Glastür kommt. Andere Menschen würden dieses Lächeln nicht deuten können, würden von einem mulmigen Gefühl befallen werden, weil Aret mit ihren ausrasierten Kopfseiten, dem Metall im Gesicht und dem auffälligen Kobra-Tattoo, das vom Hals bis ins flachbrüstige Dekolletee reicht, eher abschreckend als vertrauenserweckend wirkt. Harte Schale, weicher Kern, gebrochene Seele.

»Wie geht´s, Chefchen?«

Ich hasse diesen Ausdruck, aber ich kann ihr nicht böse sein. Ich mache ihr Platz und bringe ihr einen Pott Kaffee, während sie die Unterlagen des Tages durchblättert.

»Wie war die Nacht?«

Ihre Standardfloskeln für den Gesprächseinstieg kommen mir schon so vertraut vor, dass ich sie unbeantwortet im Raum stehen lasse. Sie meint es ohnehin rhetorisch. Denn sie weiß, wie es mir geht und sie weiß, wie meine Nächte sind – dunkel und einsam, gleich meinem Innersten.

Ich nicke, als sie mir die anstehenden Termine nennt, die ich mir bereits angeschaut hatte. Dann prüft sie den Getränkevorrat und das Polster an Schokoriegeln, checkt die E-Mails, die Social-Media-Accounts, schaltet das Studiotelefon an und testet den Drucker. So ein fleißiges Bienchen. Selbst meinen Arbeitsbereich nimmt sie unter die Lupe, inklusive des geheimen Kokain- und Morphiumlagers unter meinem runden Drehhocker. Währenddessen beobachte ich sie, ihre enganliegende Kleidung, die Begierde weckt, und ihren sehnigen Körper. Ihre knappen Shirts zeigen viel Haut und lassen erahnen, was darunter liegt. Dazu trägt sie meistens Pants und Overknee-Strümpfe. Sie kann es sich leisten. Anerkennend mustere ich sie jeden Morgen. Ich kann nicht glauben, dass es Männer gibt, die so eine hübsche Frau belügen und betrügen. Wäre ich nicht ihr Chefchen und wäre ich nicht zu Höherem berufen, würde ich mit Blumen und Kerzenschein um sie werben. Im Status quo erfreue ich mich einfach an ihrer Schönheit, die ebenso männliche wie weibliche Klientel anspricht. Platt gesprochen, ein gutes Aushängeschild für Tintenschmerz.

Wir trinken zusammen Kaffee. Dabei beantwortet sie Anfragen und Kommentare, veröffentlicht ein paar Schnappschüsse meiner Arbeiten und prüft die Finanzen.

Dann tritt der maritime Debütant ein. Ein Hänfling mit Brille und Vogelnest auf dem Kopf. Ein Student, vermute ich, irgendwas Naturwissenschaftliches. Der Strickpullover von der Oma ist so obsolet, dass er bald wieder modern wird.

»Hallo«, sagt der junge Mann zurückhaltend, sichtlich eingeschüchtert von der zierlichen Frau, die viel Haut präsentiert, und mir, dem gruselig Tätowierten, der ihn mit durchweg schwarzen Augen löchert. »Ich habe einen Termin.«

Wortlos gehe ich nach hinten, um alles vorzubereiten. Ich höre wie Aret den Burschen begrüßt und mit dem Rechtlichen vertraut macht. Danach folgen Unterschriften und unsicheres Räuspern des Gastes. Der Kronkorken eines koffeinhaltigen Erfrischungsgetränkes zieht ein Zischen nach sich. Aret versorgt den Klapperstorch mit einem ersten Schuss. Ein Zeichen für mich. Vorsorglich fülle ich eine Spritze mit flüssigem Kokain. Bevor der mutmaßliche Student nach hinten kommt, spanne ich einen Mundschutz um und schlüpfe in schwarze Latexhandschuhe, die ich auf meine Haut klatschen lasse. Aret versteht den Wink und fragt nach einer etwaigen Latexallergie. Der Kunde verneint und wird von ihr zu mir geführt. Die Rückfallbox mit den latexfreien Nitrilhandschuhen bleibt unangetastet.

Sie hat sich bei ihm eingefädelt, was ihn noch nervöser macht. Auch sie mag das kompromittierende Spiel mit den Gefühlen der Menschen.

»Eine Wette«, erklärt sie mir an seiner statt. »Es ist sein Erstes.«

Der Mundschutz verbirgt meine schmalen Lippen. Die Aussicht auf einen vor Schmerz kreischenden Jüngling verdirbt mir die Stimmung. So wie er sich verhält, wird er den ganzen Häuserblock zusammenschreien. Ich greife unter meinen Sitz und umschließe das Morphium. Eine zweite Spritze muss her.

Während Aret den Kunden auf der Holzbank so fixiert, dass er den auserkorenen Arm nicht mehr bewegen kann, bereite ich die zweite Spritze vor. Als er mit entblößtem Oberkörper halb aufrecht auf der unnachgiebigen Holzbank sitzt und mich mit furchtsamen Augen anschaut, ramme ich ihm das Kokain der ersten Spritze in den Brustmuskel.

»Was ist das?«, will er aufgeregt wissen.

Ich blicke zu Aret. Eine Aufforderung.

Sie tätschelt ihn. »Eine Betäubung. Und wenn die Schmerzen zu groß werden, bekommst du noch eine.«

Sein Zittern legt sich. Er entspannt sich und lächelt sogar, wenn auch fremdbestimmt durch die Droge.

Ich nicke Aret zu. Sie geht nach vorn, den Vorhang hinter sich schließend. Folgend schmiere ich eine Salbe auf den Arm, den ich beschneiden werde. Ein gebräuchliches Lokalanästhetikum. Die fensterlose Nische wird lediglich durch die Deckenstrahler erhellt. Das Tageslicht schirmt der Vorhang ab, auch wenn an den Rändern leichter Schimmer zu sehen ist.

»Welches Motiv?«, stammelt er benommen. Das Kokain entfaltet seine ganze Wirkung. Der Spargeltarzan rutscht in eine Art Wachkoma.

Ich beginne. Die ersten Schnitte setze ich flach an, damit ich sehe wie seine Haut beschaffen ist. Schon kommt mir das erste Blut entgegen, das ich mit dem Tupfer aufsauge. Das gewählte Mosaikseepferdchen hat viele gerade Kanten, weshalb ich zügig vorankomme. Unter mir häuft sich ein Berg aus vollgesogenen Tupfern an. Als ich merke, wie der Mann wegknickt, verpasse ich ihm eine saftige Ohrfeige. Er schüttelt sich und ist wieder beisammen, wenn auch eingeschränkt und zugedröhnt. Ich beeile mich. Eine zweite Dosis Kokain könnte heftigere Auswirkungen haben, bei diesem jungfräulichen Hänfling. Nachdem ich alle erforderlichen Schnitte getätigt habe, packe ich eine Kompresse darauf und studiere den Kunden, der schläfrig und glückselig zum Vorhang starrt. Die seitlichen Sonnenschimmer scheinen ihm zu gefallen. Wahrscheinlich denkt er, dass er im Himmel sei. Ohne das Morphium wage ich mich an die Desinfektion, die wahnsinnig brennt, aber gleichzeitig auch die Gerinnung fördert, sofern er an keiner Gerinnungsstörung leidet – ein Punkt, den das Vorgespräch und das Infoblatt thematisieren, und hoffentlich ausschließen. Ich nehme die blutige Kompresse ab und schütte das Propanol über den Oberarm. Der Mann zuckt, bleibt aber ruhig. Sein Arm ist sowieso fest fixiert. Im nächsten Schritt reibe ich die grauschwarze Mischung aus Asche und Schießpulver ein. Je nach Stelle mehr oder weniger, um Schattierung und Form zu schaffen. Einige Häufchen werden von den Wunden aufgenommen, andere fallen nach unten – der normale Ausschuss. Um einer Sepsis vorzubeugen beaufschlage ich die Furchen erneut mit Propanol. Dabei werden zwar weitere Pulverreste ausgewaschen, aber in verschwindend geringer Anzahl, denn die Haut hat sich den Großteil schon einverleibt. Später bekommt er noch ein Breitbandantibiotikum rektal von Aret eingeführt. Den meisten Kunden gefällt die kleine Prostataeinlage. Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen mit Kokain oder Morphium wurden mir noch nicht mitgeteilt. Bisher hat es jeder überlebt. Die Anzahl der Wiederholungstäter spricht für sich.

Mundschutz und Handschuhe landen im Abfalleimer auf den gebrauchten Handschuhen der letzten Nacht, genauso wie die vollgesogenen Tupfer und Kompressen. Das Skalpell lege ich in eine separate Metallschachtel, um es später zu reinigen. Ich betrachte den geschwollenen, fleckigen Arm, lockere die Bebänderung, weil sich das Blut staut. Das Seepferdchen ist mir gelungen. Abstrakt und martialisch, aber einzigartig und faszinierend. Der Blutfluss ebbt ab. An den Wundrändern bildet sich Schorf. Die Hautkrater verschließen sich schon bald wieder. Die Bohnenstange hat den Eingriff überstanden, wenn auch flach atmend, mit glasigem Blick und Schweiß auf der Stirn.

Aret kommt. Sie hatte mein Aufräumen mitbekommen. Ihre zarten Hände schlüpfen in schwarze Latexhandschuhe, Größe XS, und holen angekündigtes Zäpfchen aus dem Schrank. Ihr Lächeln sagt alles. Sie freut sich auf ihr Mitwirken. Wir drehen den Mann in Seitenlage. Ich halte ihn fest. Aret legt den Po frei. Das Zäpfchen erhält Gleitgel. Sie zieht die schlaffen Pobacken auseinander, visiert das Loch an und schiebt das Antibiotikum hinein. Ein kurzes Stöhnen bestätigt, dass der Schüchterne wieder etwas spürt. Die Betäubung lässt nach.

Wir lassen ihn noch eine Weile liegen, seinen Rausch auskurieren. Aret hat immer ein Auge auf ihn. Ich gönne mir ein stilles Wasser. Für den Rest ist sie zuständig. Foto, Folienverband, Belehrung, Gesundheitshinweise, Verhaltenstipps. Beglückwünschen, abkassieren, anlächeln, heimschicken.

Hautmalerei

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